Denn sie wohnen im Haus von morgen

Denn sie wohnen im Haus von morgen

Wenn Menschen den Kontakt zu ihrer Familie abbrechen, bleiben die Verlassenen hilflos zurück. Wie es zu einer Funkstille kommen kann, auch wenn das Verhältnis sehr liebevoll war, erzählt dieser Beitrag.

Lea (29) hatte in diesem Jahr zweimal Kontakt zu ihren Eltern. Im Januar gab es ein Skype-Gespräch und zu ihrem Geburtstag im Juni bekam sie eine E-Mail: „Alles Gute zum Geburtstag!“, weiter nichts. Die meiste Zeit im Jahr herrscht Funkstille. Das gute Verhältnis, das Lea in ihrer Kindheit und Jugend zu ihren Eltern und vor allem zu ihrer Mutter hatte, ist zerbrochen.

Der Glaube als Grund für eine gespaltene Familie? Lea sagt, sie habe ihre Mutter an die Religion verloren.

Dabei war in Leas Familie lange alles in Ordnung, bis ihre Eltern sich vor zehn Jahren einen großen Traum erfüllten und in die USA auswanderten. Lea ist Einzelkind, sie war damals 18 Jahre alt und wollte in Deutschland studieren. „Es war für meine Eltern keine leichte Entscheidung, aber ich habe sie darin bestärkt, trotzdem in die USA zu gehen“, erzählt sie. Sie hatte das Gefühl, ihre Eltern wären nicht glücklich, wenn sie blieben. Sorge, dass das Verhältnis unter der Entfernung leiden könnte, hatte Lea nicht; schließlich gab es Skype und Besuche der Eltern in Deutschland. Der Kontakt verschlechtert sich aber rapide, als ihre Mutter beginnt, sich intensiv mit verschiedenen Verschwörungsideologien zu beschäftigen. Nach zwei Jahren merkt Lea: Sie kann mit ihrer Mutter kein normales Gespräch mehr führen. Sie freut sich nicht mehr auf die Telefonate, weil sie weiß: Normale Alltagsthemen sind schnell abgehakt, dann wird ihre Mutter wieder vom neuesten Video berichten, das sie entdeckt hat. „Sie war dort sehr einsam. Und sie war schon immer sehr religiös. Aber sie ist dann in diesen Verschwörungsglauben gefallen, in die Religion geflüchtet, und das hängt da ja alles sehr eng zusammen.“  Lea bekommt seitenlange Briefe von ihrer Mutter, in denen sie vom bevorstehenden Weltuntergang schreibt, von der Ankunft des Satans und den „schweren Jahren“ für die Ungläubigen. Außerdem geht es um eine angeblich geplante Machtübernahme durch geheime Eliten, die alle kontrollieren und überwachen wollen; es geht um Riesenmenschen, die in geheimen Bunkern leben, und darum, dass der Vatikan Aliens erforscht.

„Was soll man dazu sagen?“

Lange hält Lea dagegen: „Ich habe es über Jahre versucht. Wir sind jedes Einzelthema angegangen. Ich habe stundenlang recherchiert, ihr gesagt, guck mal, das hat keine Basis – es hat nichts gebracht.“ Seit fast zehn Jahren ist das nun so. Leas Versuche, ihre Mutter durch Fakten zu überzeugen, gehen ins Leere. Ständig kommen neue absurde Geschichten dazu, ihre Mutter umgibt sich täglich mit wirren Verschwörungsideologien. Die YouTube-Videos laufen bei ihr nebenbei – morgens, abends, mehrere Stunden am Tag. Sie ist einsam, hat Angst vor der Welt um sie herum und niemanden, mit dem sie darüber sprechen kann. „Ihr liegt das so schwer auf der Seele, dass sie mit mir darüber sprechen möchte. Und ich kann das nicht. Dann tut es mir so weh, weil es ihr so schlecht geht mit dem Ganzen.“

Lea erzählt: „Dadurch, dass es meine Mutter ist, kann ich keine Schutzbarriere aufbauen.“

Hilfe von außen anzunehmen, scheint für Leas Mutter nicht mehr möglich zu sein.

Zu einer Therapie ist ihre Mutter nicht bereit, meint Lea. „Sie vertraut Therapeuten nicht. Sie sagt, das muss Gott regeln.“ Gott – ein ständiges Konfliktthema zwischen den beiden. Die Mutter strenggläubig, die Tochter Atheistin. Lea will ihre Mutter vor dem Sog der Verschwörungsmythen schützen, ihre Mutter will Lea bekehren und vor dem Unheil retten, das Ungläubigen bevorstehen soll. Lea sagt, sie habe ihre Mutter an die Religion verloren; ihr Glaube schadet ihr mehr, als er Gutes tut. Auch über Leas Vater, der ein sehr enges und gutes Verhältnis mit der Mutter hat, ist kein Zugang zu einer Therapie möglich. Er greift nicht ein, lässt seine Frau einfach machen. Lea macht ihm deshalb Vorwürfe. „Ich bin auf meine Mutter nicht sauer. Ich habe Mitleid mit ihr, ich weiß, woher es kommt – sie ist sehr einsam. Aber auf ihn bin ich sauer. Ich habe so oft mit ihm darüber gesprochen, aber es folgten keine Taten.“


Zwischen Lichtblicken und Enttäuschung

Mittlerweile hat sich der Kontakt bei drei oder vier Telefonaten im Jahr eingependelt. Lea sagt selbst, dass ihrer Mutter mehr Kontakt guttun würde, um gegen die Einsamkeit anzukämpfen. Aber sie kann das nicht. Sie hält es seelisch nicht aus, immer wieder damit konfrontiert zu werden, wie schlecht es ihrer Mutter geht: „Ich weiß, welcher Schmerz bei ihr dahintersteckt. Das ist das Schlimmste.“ Sie hat oft darüber nachgedacht, den Kontakt ganz abzubrechen. Ob sie das eines Tages bereuen könnte, wenn sie ihre Eltern nicht mehr hat? „Das ist ein guter Punkt“, sagt Lea und lacht kurz, dann wird sie nachdenklich. „Ich habe sie ja schon lang nicht mehr richtig. Sie sind für mich kein Rückhalt. Ich rufe sie nicht an, wenn es mir schlecht geht oder ich Rat brauche.“ In ihrer Jugend hatte sie zu ihrer Mutter ein sehr enges Verhältnis, sie hatten gemeinsame Hobbys, damals waren weit und breit keine Verschwörungsmythen in Sicht. Dass ihre Mutter ihr eines Tages so entgleiten würde, hätte Lea nie geahnt. Ab und zu gibt es noch kurze Lichtblicke: Gespräche, die besser laufen; eine schöne Unterhaltung, die sich nach Annäherung und Neubeginn anfühlt. „Dann sind die Emotionen positiv – und dann kommt wieder irgendwas. Dann kriegt man fünf Videos geschickt, die nur irgendwelches Geschwurbel sind.“

Lea hat keine Geduld mehr, sich mit den Sorgen ihrer Mutter zu umgeben.


Aus Liebe die Führung übernehmen

Wenn Menschen, so wie Leas Mutter, tief in Verschwörungsmythen verstrickt sind und Therapien ablehnen, sind Familie und Freunde oft hilflos. Was soll man sagen, wenn die eigene Mutter plötzlich Angst vor einer Weltverschwörung oder Außerirdischen hat? Wie kann man solche Sorgen auflösen? Stefani Kuhn, systemische Familientherapeutin und  in Mülheim an der Ruhr, rät in so einem Fall dazu, aktiv die Gesprächsführung in die Hand zu nehmen: „Ich sag jetzt mal: aus Liebe die Führung übernehmen. Einen Raum für beide zu schaffen, wo ganz bestimmte Themen ausgespart werden.“ Es könnte die Mutter beruhigen, wenn ihr Umfeld ihre Sorgen akzeptiert und annimmt, dann aber bewusst das Thema wechselt, über etwas Positives spricht und damit die Führung übernimmt. So könne das, was an Beziehung noch möglich ist – und sei es nur ein dünner Faden – gestärkt werden. „Und das hat nichts mit Lüge oder Verstellen zu tun“, erklärt sie, „sondern, den gemeinsamen Nenner immer größer zu machen.“

Zuhören, verstehen und annehmen – auch, wenn es nicht weitergeht

Familientherapeutin Stefani Kuhn.

Stress und Konflikte zwischen Kindern und Eltern kommen in jeder Familie vor. „Es gehört dazu, dass es auch Momente gibt, in denen die Eltern emotional nicht da sind, wenn wir sie eigentlich bräuchten – es geht gar nicht anders und es ist auch gut so, weil sich da Stärken entwickeln“ sagt Stefani Kuhn. Es gehöre zum Leben, dass auch Schmerzpunkte entstehen. Wichtig sei, dass das Kind durch andere Momente beruhigt wird, in denen die Eltern dann emotional erreichbar sind. Wenn das nicht der Fall ist und langfristig Verletzungen entstanden sind, dann kann eine Familientherapie dabei helfen, zu sortieren, Gespräche zu ermöglichen, Übersetzer zu sein. „Was wir als Familientherapeuten tun können, ist, erst mal nur zu verlangsamen, erst mal nur zu ermöglichen, dass sie einander zuhören.“ Oft sind dann die Familienmitglieder zusammen da, sodass sie einzeln ihre Sicht erzählen können. „Dann bin ich ganz beim Vater oder bei der Mutter und versuche, sie emotional zu verstehen. Und der Sohn, die Tochter hören zu und haben die Möglichkeit, neue Dinge zu erfahren, und umgekehrt natürlich auch“, erzählt sie. „Und dann ist das so ein wunderbarer Raum, der entsteht. Wenn sowas möglich ist, schmerzhafte Momente sichtbar zu machen, und der andere dabei ist – das sind dann solche heilsamen Prozesse.“ Es gehe für Eltern und Kinder darum, sich berühren zu lassen vom Schmerz des anderen – nicht in Vorwürfen, Erklärungen und Rechtfertigungen zu versinken, sondern emotional zugewandt zu bleiben. „Dann kann spontan um Verzeihung gebeten werden und auch Liebe wieder fließen.“ Aber nicht immer gelingt in der Therapie eine Annäherung, nicht jede nimmt ein harmonisches Ende. Manchmal geht es eben nicht weiter, auch davon erzählt Stefani Kuhn. „Wenn einzelne Familienmitglieder einen starken Schutzwall aufgebaut haben und es nicht schaffen, aufzumachen und rauszuschauen, offen zu sein für den anderen – dann geht das halt nicht.“ Die Betroffenen müssen dann akzeptieren, dass sie an der Situation jetzt nichts ändern können, und versuchen, trotz dieses Schmerzes das Beste aus ihrem Leben zu machen.

Dabei sind es nicht immer die Eltern, die sich von ihren Kindern entfernen. Häufig brechen auch erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern ab. Susanne (67) aus Wien hat das erlebt: Seit drei Jahren hat sie keinen Kontakt zu ihrer mittlerweile 30-jährigen Tochter Jana, die Schritt für Schritt immer weiter auf Distanz gegangen ist, bis schließlich Funkstille herrschte. Probleme oder Streit gab es nie, im Gegenteil: Jana war immer umgänglich. „Sie hat sich unheimlich bemüht, unseren Erwartungen entgegenzukommen“, erzählt Susanne. Beide Eltern hatten einen engen und vertrauten Kontakt zur Tochter. Sie war musikalisch wie ihr Vater, spielte Geige, war hilfsbereit und entgegenkommend. „Ich habe oft das Gefühl gehabt, dass sie mir ähnlicher ist“, meint Susanne. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester behält Jana auch in der Pubertät ihre enge Beziehung zu den Eltern, ihre Mutter beschreibt es als ein sehr vertrautes Verhältnis. Mit 17 Jahren lernt Jana dann ihren Freund kennen. Durch ihn wendet sie sich der Religion zu, sie lässt sich mit 21 taufen und heiratet ihn ein Jahr später. Von da an wird der Kontakt zu ihren Eltern sukzessive weniger. Damals wohnen Jana und ihr Mann ebenfalls in Wien, erscheinen zu Familienfeiern aber immer seltener. Zur Silberhochzeit der Eltern haben sie erst keine Zeit. Daraufhin verschieben Susanne und ihr Mann die Feier auf einen anderen Termin – ihnen ist wichtig, dass die Familie zusammenkommt. „Dann hat sie angerufen: ‚Mama, ich möchte nicht kommen und ich möchte, dass du das akzeptierst.‘ Ohne weitere Erklärung, ohne Nachfragen, das hat sie sich gewünscht“, sagt Susanne traurig. Dass ihre Tochter zu ihrer Silberhochzeit nicht kommen wollte, hat sie verletzt. 2017 verkünden Jana und ihr Mann kurz vor Weihnachten, dass sie im Juli ein Kind erwarten. Im April trifft Susanne ihre Tochter noch auf einer Familienfeier – dann ist Funkstille.  Nach dem Geburtstermin fragt Susanne per SMS, ob alles gut gegangen sei. Die Antwort kommt ebenfalls per SMS: „Alles gut gegangen. Wenn wir Kontakt möchten, melden wir uns.“ Sie melden sich nicht. Ab diesem Zeitpunkt blockt Jana jede Kontaktaufnahme ab. Das Enkelkind hat Susanne nie kennengelernt.

Das pflegeleichte Kind: lieb und anpassungsfähig

Die Beziehung zur Mutter beginnt schon vor unserer Geburt, schreibt Claudia Haarmann.

Dass sich eine Distanz aufgebaut hatte, war für Susanne schon lange vorher spürbar, aber wie konnte es dazu kommen?  Das Verhältnis war doch immer so harmonisch, so eng, so vertraut gewesen, es gab keinen Streit. Sie setzt sich lange mit möglichen Ursachen auseinander und liest einen ersten wichtigen Hinweis in einem Buch von Claudia HaarmannKontaktabbruch in Familien – wenn ein gemeinsames Leben nicht mehr möglich scheint. Kösel Verlag 2019, 288 Seiten.. Die Psychotherapeutin beschreibt darin verschiedene Ursachen für Kontaktabbrüche in Familien. Und eigentlich ist Susannes Fall doch nicht so ungewöhnlich:  Jana war immer lieb, pflegeleicht, anpassungsfähig – möglicherweise hatten Susanne und ihr Mann sie zu sehr eingeengt, sie zu sehr als sich ähnlich wahrgenommen, sodass Jana nie gelernt hat, sich davon zu lösen. „Diese Ähnlichkeit habe ich so empfunden und wahrscheinlich auch eingefordert. Und dieses An-uns-binden, sowohl mein Mann als auch ich – das dürfte einer der Gründe sein, warum sie so eine harte Grenze ziehen musste.“ Janas ältere Schwester hat in ihrer Jugend und auch heute keine Schwierigkeiten, sich zu wehren und zu sagen: ‚Mama, das ist mir zu viel.‘ Jana habe das nie gekonnt, meint Susanne. Dass das der Grund für den Kontaktabbruch sein könnte, bestätigt auch später die Therapie, in der sie und ihr Mann sich gemeinsam befinden. Für Susanne ist das schnell einleuchtend, sie kann diese mögliche Begründung nachvollziehen. Eine Aussprache mit Jana hat es dazu jedoch nie gegeben. Bei Familienfeiern hatte Susanne das Gespräch mit ihrer Tochter gesucht und sie auf die Distanz angesprochen, aber keine Antwort darauf bekommen.

Zum Fall der einengenden Eltern meint Familientherapeutin Stefani Kuhn: „Ein Umbruch ist oft in der Pubertät, weil wir dann auf eine Metaebene gehen können: Wir schauen auf uns und unsere Situation, und nehmen uns tatsächlich ‚getrennter‘ wahr.“ Vielleicht hat Jana da gemerkt, dass sie in ihrer Familie nicht genug Raum hat, sie selbst zu sein, sich auch mal zurückzuziehen, weil ihr Rückzugsort immer wieder überschritten wurde. „Und dann ist das eine Grenzverletzung. Da wird das Kind, oder später die Erwachsene, einen Schutzwall aufbauen. Und das ist nicht selten, dass die erwachsenen Töchter oder Söhne sich aktiv zurückziehen – es kommt zum Kontaktabbruch.“ Im Podcast spricht Stefani Kuhn ausführlicher über Konflikte in Familien, über Familientherapie und über ihre professionelle Distanz zu ihren Klient:innen. Außerdem kommt Susanne zu Wort und erklärt ihren Umgang mit dem Kontaktabbruch ihrer Tochter.


Auch in anderen Berufen ist es wichtig, das richtige Maß an Distanz zu finden. Tamina Friedl schreibt in ihrem Beitrag über Kremationstechniker:innen und die Nähe zum Tod; in Sarah Koschinskis Artikel geht es um die professionelle Nähe von Pflegefachkräften zu ihren Patient:innen.


Im Podcast: Interview mit Stefani Kuhn

Muss man Vater und Mutter ehren?

In der Bibel lautet das Vierte Gebot: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“

Eine Rolle hat bei Janas Kontaktabbruch wohl ihre Beziehung zu ihrem Partner gespielt, und die Tatsache, dass sie durch ihn zum Glauben gefunden hat, der ihr in ihrem Elternhaus nicht anerzogen worden war. Die anfängliche Sorge, Jana habe sich einer Sekte angeschlossen, konnte Susanne nach einigen Erkundigungen ausschließen. „Aber vielleicht hat sie mit der Religion so einen Halt gefunden, der für sie ganz wichtig war“, überlegt sie. Trotzdem glaubt sie nicht, dass sie ihre Tochter an die Religion verloren hat; stattdessen hat sie Verständnis dafür, dass Jana den Abstand, die Funkstille braucht. Von Außenstehenden hört sie manchmal das Argument, Jana sei doch religiös, sie müsse doch Vater und Mutter ehren. Den Gedanken kann Susanne nicht nachvollziehen: „Das ist für mich so gar kein Argument. Es gibt eine psychische Komponente, die Jana dazu gebracht hat, diesen Schritt zu setzen. Und das ist für mich ganz klar, dass das dominanter ist als eine religiöse Verpflichtung.“

Vor ungefähr einem Jahr hat Susanne dann versucht, die damals zweijährige Funkstille zu durchbrechen. „Ich habe mich einfach an die Bushaltestelle bei ihrem Haus gesetzt und gewartet.“ Sie lacht unsicher. Und tatsächlich kam Jana, im Tragetuch ihr zweites Kind, von dem Susanne bis dahin nichts wusste. Sie sprechen kurz miteinander, aber Jana macht klar: Sie will sich nicht in ein Gespräch verwickeln lassen. Das Wiedersehen läuft nicht so, wie Susanne es sich erhofft hat. Sie wollte sich entschuldigen und Verständnis signalisieren, aber ein so ruhiges Gespräch zu führen, ist ihr nicht gelungen. Zu groß war die Überraschung und Freude über ihr zweites Enkelkind – und gleichzeitig die Verzweiflung. „Als ich sie dann gesehen habe, habe ich sie angefleht, ob wir uns nicht doch, irgendwie, zu ihren Konditionen treffen könnten. Und da war ihre Antwort: ‚Das ist nicht der Punkt, Mama.‘“

Susannes Gedanken zum Wiedersehen an der Bushaltestelle.

„Wenn Eltern auf ihre Art versuchen wollen, wieder den Kontakt herzustellen, und sich die Kinder rigoros verweigern, dann, weil die Angst zu groß ist“, erklärt Therapeutin Stefani Kuhn. „Die Angst ist zu groß bei den Kindern: Wenn ich mich wieder verletzlich zeige, wenn ich wieder auf die Mutter oder den Vater zugehe – es wird wieder wehtun, er wird das nicht verstehen.“ Wenn für Jana tatsächlich die Einengung durch die Eltern der ausschlaggebende Grund für den Kontaktabbruch war, könnte das eine Erklärung für ihre abweisende Reaktion sein: Ihre Mutter hat sie wieder eingeengt, anstatt ihr den Raum zu geben, den sie gebraucht hätte.

Susanne war nach dem Treffen an der Bushaltestelle traurig und enttäuscht, sie hat aber erkannt, dass sie entgegen ihrem Vorsatz in alte Muster gefallen ist: „Es war wieder meine Bedürftigkeit, ich wollte etwas von ihr. Und wenn das der Punkt war, der sie weggetrieben hat, dann war das ein sehr missglücktes Wiedersehen.“ Aus dem Melderegister weiß sie, dass ihre Tochter mit ihrem Mann und den beiden Kindern inzwischen aus Wien weggezogen ist. Sie versucht, mit der Situation zu leben, aber der Schmerz sitzt tief – es gibt gute und schlechte Tage. Wenn sie beim Einkaufen sieht, dass Kinderkleidung im Angebot ist, muss sie an ihre Enkelkinder denken, die sie nicht kennt. „Oder neulich habe ich auf der Straße eine Frau mit zwei Kindern gesehen und dachte mir: Genauso alt. Der eine steht hinten drauf am Kinderwagen, der andere sitzt da noch drinnen. Es gibt einfach so Trigger“, sie lacht etwas unbeholfen, „aber meistens, meistens geht es mir gut.“

Glückliche Familien, Enkelkinder im gleichen Alter – das können im Alltag Trigger für Susanne sein.

Funkstille: Kontaktabbruch mit Hintertürchen

Um den Kontaktabbruch ihrer Tochter zu verarbeiten, ist Susanne mit ihrem Mann gemeinsam in Therapie. Für den Austausch mit anderen Betroffenen hat sie mit mehreren Selbsthilfegruppen für verlassene Eltern Kontakt aufgenommen. Eine davon ist der Verein „Das Haus von Morgen“ in Graz. Die Gründerin Gisela Kurath ist selbst eine verlassene Mutter. Nach ihrer Scheidung vor acht Jahren war zunächst der Kontakt zu allen vier Kindern abgebrochen, eine ihrer Töchter möchte bis heute nicht mit ihr sprechen.

Gisela Kurath erzählt, die Selbsthilfegruppe habe auch ihr selbst geholfen, den Kontaktabbruch ihrer Tochter zu verarbeiten.

Die Idee für die Gründung der Selbsthilfegruppe kam Gisela Kurath während Gruppen-Selbsterfahrungsstunden, die sie für ihre Ausbildung zur Lebens- und Sozialberaterin absolvierte. Als sie damals über das Thema recherchierte, stellte sie eher zufällig fest, dass es in Deutschland und in der Schweiz schon Selbsthilfegruppen für verlassene Eltern gibt. „Bis dahin war ich der Meinung, ich bin der einzige Mensch, dem es so geht“, erzählt sie. 2019 gründete sie dann den Verein „Das Haus von Morgen“ als erste Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern in Österreich. Sie organsiert Gruppentreffen und Workshops. Der Verein fand schnell großen Zuspruch, inzwischen sind über hundert Leute im Mailverteiler. Der Name der Gruppe stammt aus einem Gedicht, das Gisela Kurath schon sehr lange begleitet:


Eure Kinder
Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht
des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,
aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts
noch verweilt es im Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder
als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und er spannt euch mit seiner Macht,
damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Laßt eure Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.

Khalil Gibran
(* 06.01.1883, † 10.04.1931)

Wie kam die Gruppe zu ihrem Namen? Gisela Kurath erzählt, wie sie auf dieses Gedicht gestoßen ist.

Im Fokus der Gruppe steht die Frage: Wie gehen wir mit dem Kontaktabbruch um? Damit einher geht als erstes die Frage nach dem Warum. „Es gibt natürlich Gründe, aber die lassen sich nicht kommunizieren und nicht so leicht aufdecken“, erklärt Gisela Kurath. „Das sind meist ambivalente Gefühle: das Gefühl, nicht gesehen zu werden oder etwas nicht aussprechen zu können.“ Dabei unterscheidet sie zwischen Kontaktabbruch und Funkstille: Die Funkstille ist sozusagen der Kontaktabbruch mit Hintertürchen. Indem man den Kontakt beendet, ohne es zum Bruch kommen zu lassen, lässt man sich die Möglichkeit offen, vielleicht doch wieder Kontakt aufzunehmen. „Und ich glaube, dass sich Betroffene damit vor dem großen Bruch schützen. Also lieber nichts sagen, als es zum richtigen Bruch kommen lassen durch Eskalation und Worte.“

Dass Susannes Tochter Jana dieses Türchen offenhält und sich eines Tages wieder meldet, wünscht sich Susanne von Herzen.  Sie hat sich vorgenommen, dass das nächste Wiedersehen besser verläuft: „Woran ich dann hoffentlich denke: Sie als eigenständige Person zu sehen und sie so zu lassen, wie sie ist.“ Sie seufzt. „Ich glaub einfach immer dran. Irgendwann – irgendwann, vielleicht.“

Lea, deren Mutter so tief in Verschwörungserzählungen steckt, dass eine echte Beziehung der beiden nicht mehr möglich scheint, wird wohl vorerst in der Schwebe bleiben: irgendwo zwischen wenig Kontakt und Funkstille. Sie hat für sich sozusagen eine Ersatzfamilie in der Familie von Freunden gefunden, die ihre familiäre Situation kennt und sich sehr um sie kümmert, die ihr in Krisen Halt gibt, bei der sie Weihnachten feiert. „Familie ist für mich schon lange nicht mehr Blut“, sagt Lea. Ihre Familie sind ihre guten Freunde und Beziehungen, die sie über viele Jahre hinweg aufgebaut hat. Trotzdem werde der Kontakt zu ihren Eltern wohl nie ganz abreißen – so schwierig und schmerzhaft die Telefonate auch sind. Eine endgültige Funkstille hätten ihre Eltern nicht verdient, sagt sie. Dass sich das Verhältnis je wieder bessert, ist trotzdem unwahrscheinlich. „Ich habe festgestellt: Wenn ich mich ihr und diesem Konflikt nicht stelle, geht es mir deutlich besser.“ Momentan kann sie die Situation annehmen, wie sie ist, und damit leben. Auch für Gisela Kurath ist Akzeptanz der Schlüssel, um trotz allem ein glückliches Leben zu führen und sich möglicherweise sogar wieder näherzukommen.

Gisela Kurath beschreibt eine Metapher für die mögliche Wiederannäherung.

Bei sich selbst bleiben – das ist für Gisela Kurath die Voraussetzung für eine gelingende Wiederannäherung: „Im Außen kann man nichts tun. Frieden finden, bei sich selbst bleiben.“ Es gehe um eine Begegnung in Freiheit. Auch, wenn viel Zeit vergangen ist, muss die nicht verloren sein: Zeit könne jeder für sich nutzen, um sich wieder aufzurichten. „Da ist die Zeit dafür, seine eigenen Konturen irgendwie scharf zu machen: ich im Verhältnis zur Welt. Und wenn ich damit klar bin, und der andere auch klar ist, dann kann ich vielleicht die Tür aufmachen und sagen: Schön, dass du da bist.“


„Familie ist da, wo Liebe ist“ – das sagt die 18-jährige Clara, die mit zwei lesbischen Müttern aufgewachsen ist. Lesen Sie hier den Beitrag von Anette Benner über Clara und ihre Familie.


Familie – was ist das eigentlich? Die Menschen, mit denen wir unser Zuhause teilen, die, auf die wir uns verlassen können? Während für Lea Familie schon lange nicht mehr Blut ist, sagt Gisela Kurath: Familie ist nicht kündbar. Warum reißt dann in manchen Familien der Kontakt zueinander ab? Lea liebt doch ihre Mutter. Susanne liebt ihre Tochter. Und doch haben sie sich von ihren Familienmitgliedern entfernt, entfremdet. Ich habe für meine Recherche mit unterschiedlichen Menschen gesprochen, ihre persönlichen Geschichten gehört und gelesen. Mich hat überrascht, wie unfassbar viele Menschen von einem Kontaktabbruch in der Familie betroffen sind und wie tief der Schmerz auch nach vielen Jahren noch sitzt. Ich bewundere Lea und Susanne für ihren reflektierten Umgang damit, für ihre Gesprächsbereitschaft, ihr Verständnis und ihre Akzeptanz - auch dann, wenn es (erst mal) nicht weitergeht.

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