Bitte Ruhe!

Egal ob in Büchern, Artikeln oder Studien – überall werden Ergebnisse präsentiert, die den gesellschaftlichen Mehrwert Introvertierter belegen sollen. In Foren, Selbsthilfebüchern und Blogs bewegen sich ihre Beschreibungen zwischen bemitleidenswerten Schüchternen und hochsensiblen Talenten. Aber sind sie wirklich mehr wert? Ein Großteil der Introvertierten wird gar nicht erkannt, weil sie “ganz normal“ wirken. Warum dann also die große Aufregung um sie? Was trägt zum Beispiel der introvertierte Blogger Patrick Hundt zum Funktionieren der Gesellschaft bei? Und welche Rollen spielen dann noch Extrovertierte, wie die beiden Bodybuilder Andreas Brunner und Robert Nickl?

Foto von Sylvia Löhken

Kommunikationsexpertin Sylvia Löhken

„Introvertierte sind keine bedrohte Tierart“, sagt Sylvia Löhken, Autorin und Expertin für intro- und extrovertierte Kommunikation. „Sie sind auch nicht behindert.“ Es gäbe eine Menge Introvertierte, die wahnsinnig erfolgreich seien. So habe Mark Zuckerberg beispielsweise Facebook erfunden, um sich nicht ständig persönlich mit Menschen treffen zu müssen. Die Opferrolle werde den Introvertierten zu Unrecht zugeschrieben, sagt Löhken. Aber warum? Und was genau sind Introversion und Extraversion überhaupt?

Löhken nennt als zentralen Aspekt, dass Intro- und Extraversion die beiden Enden einer Skala darstellen würden. Meist vereine ein Mensch Teile beider Extreme in sich. Wo er sich auf der Skala befindet, „sagt etwas darüber aus, woher er seine Lebensenergie bezieht. Menschen am introvertierten Ende des Kontinuums richten sich nach innen, um Energie zu gewinnen, Menschen, die eher am extrovertierten Ende des Kontinuums angesiedelt sind, nach außen. Dieser fundamentale Unterschied im Fokus zeigt sich praktisch in allem was wir tun“, schreibt Autorin und Psychoanalytikerin Marti Olsen Laney in ihrem Buch „Die Macht der Introvertierten“.

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Die Unterscheidung wurde vor ungefähr 100 Jahren durch den renommierten Psychiater Carl Gustav Jung geprägt. Das Spannende sei, dass das Nach-Innen-Gewandte und das Nach-Außen-Gewandte Entsprechungen im Gehirn hätten, „also dass Intro-Gehirne und Extro-Gehirne sich tatsächlich unterscheiden“, erläutert Löhken. Intro- und Extraversion seien demnach angeborene Persönlichkeitsmerkmale.

Wie eine Avocado

Introversion und Extraversion sind im Persönlichkeitskern verankert. „Stellen Sie sich vor, Ihre Persönlichkeit ist wie eine Avocado“, sagt Löhken. Wie den festen Kern in der Mitte einer Avocado, habe auch die Persönlichkeit einen Persönlichkeitskern. Das weiche Avocado-Fleisch um den Kern entspreche dem menschlichen Verhalten bei dieser bildhaften Vorstellung: „Wie wir uns also verhalten, was wir tun und was wir uns an Kompetenzen aneignen.“ Die harte Schale sei das, was von außen gesehen werde, also unsere Wirkung.

Der Persönlichkeitskern könne nicht wirklich beeinflusst werden. „Was unseren Kern ausmacht, hat eine Repräsentation in unserem Gehirn. Er ändert sich nur, wenn Ihnen ein Brikett auf den Kopf fällt oder wenn Sie ein Trauma erleben“, sagt Löhken. Die Psychoanalytikerin Olsen Laney bestätigt das. Es sei etwas, „was Sie nicht ändern können.“ Lediglich das Verhalten und die Wirkung könne bewusst gesteuert und geändert werden. Das erkläre auch die Tatsache, warum sich viele Introvertierte in einem extrovertierten Umfeld bewegen könnten, ohne aufzufallen.

Die Unterschiede sind groß

Introvertierte und Extrovertierte laden ihre Energiespeicher unterschiedlich auf. Für Introvertierte stelle laut Olsen Laney die eigene „innere Welt von Ideen, Emotionen und Eindrücken“ eine Energiequelle dar. Sie seien wie ein „Akku“ und bräuchten regelmäßig Pausen von Situationen die sie Energie kosten, schreibt die Autorin. Extrovertierte hingegen genießen ein stimulierendes Umfeld und würden darüber ihre Reserven aufladen. Es sei aber auch wichtig für Introvertierte, sich nicht nur zurückzuziehen, sonst würden Perspektiven und Verbindungen aus dem Blick verloren gehen.

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In der Forschung und Wissenschaft schwankt der Anteil Introvertierter in der Gesellschaft zwischen 30 und 50 Prozent. Damit hat fast jeder Zweite überwiegend introvertierte Eigenschaften. Menschen, bei denen beide Eigenschaften ausgeglichen sind, zählen zu den Ambivertierten.

Mehrwert von Introvertierten

Introvertierte, die gelernt haben, ihre Energie einzuteilen, haben die „Beharrlichkeit und die Fähigkeit, unabhängig zu denken, sich intensiv zu konzentrieren und kreativ zu arbeiten“ – so beschreibt Olsen Laney die Stärken der Introvertierten.

Das Konzentrationsvermögen nennt auch Kommunikationsexpertin Löhken als Vorteil. Im Schulalltag würden diese besonders in der Oberstufe davon profitieren: „Denken Sie mal an fünfstündige Klausuren – was meinen Sie, was das für Stress für Extrovertierte ist.“ Sie sei sich deshalb nicht sicher, ob Introvertierte überhaupt nachteilig ausgestattet seien.

So wird das nichts mit dem gesellschaftlichen Mehrwert

Über Introvertierte im Schulalltag und notwendige Anpassungen des Lehrplans geht es im zugehörigen Printartikel: im Wertpapier ab Seite 44.

Trotzdem bekämen Introvertierte oft „eine schlechte Presse“, sagt Löhken. Zu Unrecht, wie die Expertin findet: „Die hören zu und stellen Fragen und vermitteln Ihnen den Eindruck, dass sie an Ihnen interessiert sind.“ Auch im Business würden Sie mit wertvollen Eigenschaften trumpfen, denn sie wären vorsichtiger, sorgfältiger und gingen eher auf die Substanz. Deshalb wären sie auch besonders gute Führungskräfte. Olsen Laney schreibt in ihrem Buch ebenfalls, dass sich Introvertierte bis in die Tiefe mit Themen auseinandersetzen, während sich Extrovertierte eher breit aufstellen würden. Damit tragen beide zu einem gewinnbringenden Miteinander bei.

Es braucht beides

Löhken ist davon überzeugt, dass es für das Gelingen einer Gesellschaft Beides benötige – Introvertierte und Extrovertierte. Auch der introvertierte Blogger Patrick Hundt nannte in diesem Kontext die „Krieger-Berater-Theorie“ nach Elaine Aron. Diese erklärt, warum es beide Extreme brauche:

Eine Gesellschaft, die immer höher, schneller und weiter will, kann nur dann überleben, wenn es nicht nur Krieger, sondern auch Berater gibt. In turbulenten Zeiten brauchen wir Menschen, die auch mal innehalten, alles gegeneinander abwägen und unpopuläre Entscheidungen treffen, die die Menschen vor einer großen Dummheit bewahren.

Selbsterkenntnis als Lösung

Wer sich selbst und seine Neigungen besser verstehe, dem falle es auch leichter, sich zu akzeptieren, sagt Expertin Löhken. Sie selbst habe ihre eigene Introversion daran erkannt, dass sie bestimmte alltägliche Dinge nicht gemocht habe, zum Beispiel Small Talk. Außerdem hätten sie Dinge müde gemacht, die andere eher wachmachen. „Ich bin doch gesund, was ist denn eigentlich mit mir los?“ – als sie darauf keine Antwort fand, fing sie an sich selbst intensiv mit der Thematik auseinanderzusetzen. „Es war super erleichternd für mich herauszufinden, dass ich völlig okay bin, aber dass sich eben meine Bedürfnisse von denen anderer unterscheiden, die mehr auffallen“, erzählt sie.

Der extrovertierte Standard

Obwohl „Intros“ und „Extros“ ungefähr gleich verteilt seien, würden Extrovertierte mehr auffallen und deswegen sähen sich viele zur Anpassung gezwungen, sagt Sylvia Löhken. Das falle allerdings schwer, da die eigene Persönlichkeit nicht geändert werden kann. „Man kann nur versuchen auf der Schale der Avocado introvertiert oder extrovertiert zu wirken.“ Als Beispiel nennt Löhken Donald Trump. Wenn sich dieser dazu entscheiden würde, gerne ernster genommen zu werden und deswegen genauer zuzuhören, dann würde er damit zwar sein Verhalten und seine Wirkung steuern, nicht aber seinen Persönlichkeitskern.

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„Unser Persönlichkeitskern kann als eine Art Transmitter angesehen werden, der ständig Impulse an unser Verhalten schickt. Wie wir aber diese Impulse in unser Verhalten übersetzen, darüber können wir ein bisschen mitbestimmen“, erklärt die Expertin. Auch die Psychoanalytikerin Olsen Laney schreibt, dass man sich im Erwachsenenalter auf der Skala bewegen könne, indem man sich „je nach Bedarf introvertiert oder extrovertiert“ verhalte. Das Verhalten außerhalb der eigenen Nische sei allerdings anstrengend und koste viel Energie. Aber muss dieses Anpassen überhaupt sein?

Die eigene Persönlichkeitseigenschaft sollte nicht unterschätzt werden. Schließlich sei sie „ungefähr so wichtig, wie die Frage, ob Sie männlich oder weiblich sind. Da sind sich Psychologen ziemlich einig drüber“, berichtet Löhken. Wer sich demnach ständig entgegen seiner Natur verhalte, der würde früher oder später darunter leiden.

Missverständnisse

Viele der Missverständnisse gegenüber Introvertierten basieren auf der Tatsache, dass das allgemeine Verständnis ihrer Eigenschaften falsch ist oder von jenen abgeleitet wird, die sich nahe dem Extrem befinden. Außerdem wird die Veranlagung häufig mit Schüchternheit und Hochsensibilität verwechselt. Olsen Laney erachtet diese Differenzierung allerdings als besonders wichtig.

Introversion sei eine „gesunde Befähigung, sich auf die eigene innere Welt einzustimmen“, während Schüchternheit eine Form „sozialer Angst“ und Hochsensibilität eine „außerordentlich starke Empfindsamkeit gegenüber äußeren Einflüssen“ sei. Überdies gäbe es auch schüchterne und hochsensible Extrovertierte.

Das wohl am meisten verbreitete Missverständnis ist, dass Introvertierte nicht vor einem Publikum sprechen können und Aufmerksamkeit hassen. Aber Löhken, eine bekennende Introvertierte, hält Vorträge und Seminare vor großem Publikum – ein Widerspruch?

Artgerechte Haltung

Um das zu erklären, greift die Expertin Sylvia Löhken wieder auf den Unterschied zwischen Avocado-Kern und Avocado-Fleisch zurück: „Das was uns im Inneren ausmacht, ist nicht identisch mit der Wirkung, die wir nach außen zeigen. Und es korreliert auch nicht mit Kompetenz.“

Vorträge oder Interviews wie dieses, würde sie im Vorhinein genau planen. Auch habe sie die Anzahl auf eins pro Tag reduziert, damit sie keine „Überdosis“ bekomme. „Wenn ich extrovertiert wäre, könnte ich am laufenden Band Interviews machen“, sagt sie. So gerne sie ihren Job auch mache, Energie bekäme sie auf der Bühne nicht. Extrovertierte hingegen schon. Diese würden sich danach stark und euphorisch fühlen. Sie müsse sich die Energie von woanders holen.

Dass sie da nicht die Einzige ist, belegt sie mit einer Auswahl prominenter Introvertierter in scheinbar extrovertierten Berufen. So seien zum Beispiel Barack Obama, Hillary Clinton und Angela Merkel introvertiert. „Die Rechnung geht nur auf, wenn wir voraussetzen, dass im Persönlichkeitskern von Angela Merkel – und auch von allen anderen – noch andere Eigenschaften sind. Frau Merkel möchte mit ihrer Leistung etwas bewirken. Das ist in ihrem Persönlichkeitskern ausgeprägt.“ Genau das bewege sie dazu, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Ihre Introversion habe sie deshalb akzeptiert, so wie Löhken selbst das auch tue: Introvertierte „machen ihr Ding, sorgen aber dafür, dass sie es artgerecht tun.“

Es habe früher Zeiten gegeben, in denen „die Zurückhaltung eine wahnsinnig positive Eigenschaft war.“ Heute würden viele Menschen denken, sie müssten aus einer Torte springen, um erfolgreich zu sein, erzählt Sprachwissenschaftlerin Löhken. „Jetzt gerade schwingt es wieder zurück, weil viele Menschen die Nase voll haben von diesen ‚Lautsprechern‘“, berichtet sie.

Ein Parallelportrait

Wie gehen besonders Introvertierte und besonders Extrovertierte mit dem Status Quo um? Wann fühlen sie sich von ihren Persönlichkeitseigenschaften eingeschränkt? Und wann profitieren sie von ihnen? Diese und weitere Fragen beantworteten der introvertierte Blogger Patrick Hundt und die extrovertierten Bodybuilder und Unternehmer Andreas Brunner und Robert Nickl.

Mein bestes Ich - Introvertierter Erfolg

Patrick Hundt ist 34 Jahre alt und bezeichnet sich selbst als introvertiert. Er arbeitet als Blogger und Autor. Unter seinen Büchern beschäftigt sich eines auch mit der eigenen Introversion. Bis zum Jahr 2012 war er im Online Marketing beschäftigt. Nach dem Ausstieg aus der eigenen Agentur ging es für ihn auf Weltreise. In diesen sechs Monaten fand er zu sich selbst und entdeckte seine spätere Berufung. „Jeder Mensch ist anders ...

„Ich brauche Leute um mich, unbedingt.“

Andreas Brunner (31) und Robert Nickl (30) sind Bodybuilder und Gründer des Fitnessstudios Shredforce in Passau. Eine ihrer Stärken ist die Extraversion, was sich im besonders engen Kontakt zu ihren Kunden bemerkbar macht. Außerdem spornen sie sich damit gegenseitig immer wieder zu Höchstleistungen an. Das Studio von Shredforce ist genauso markant wie die Gründer selbst. Im Dachgeschoss der ...

Mehr Verständnis füreinander

Sowohl für die Einzelpersonen als auch die Gesellschaft wäre es deshalb besser, wenn jeder frühestmöglich herausfindet, ob er intro- oder extrovertiert ist. „Es ist eine deutliche Entlastung, weil wir einfacher früher erkennen: ‚Hey, mit mir ist alles in Ordnung.‘“, sagt Löhken. Wenn man also nicht versuche, sich zu verändern, sondern seinen Eigenschaften entsprechend lebe, könne man glücklich und erfolgreich werden. So könnten Missverständnisse und Vorurteile aus dem Weg geräumt werden und daraus resultierende negative Folgen, wie psychische Krankheiten und vermindertes Selbstwertgefühl, verhindert werden.

Das Verstehen seiner Selbst und der Anderen ist, worauf es ankommt und deswegen der Kern von Sylvia Löhkens Arbeit: „Ich möchte, dass Menschen verstehen, dass es Menschen gibt, die ganz anders ticken als sie selbst.“ Und das sei auch okay so. „Wir profitieren davon, wenn wir wissen, dass wir zwar in einer Welt leben, aber die Welt ganz unterschiedlich wahrnehmen. Je nachdem, ob wir intro- oder extrovertiert sind.“ Als Erfolgsgeheimnis für jeden Einzelnen und die Gesellschaft zitiert sie einen Satz der extrovertierten Schauspielerin Dolly Parton: „Find out who you are and do it on purpose.“

Christina Grünewald und Lea Pfingsten

Christina mag Avocados. Lea bastelt gerne. Also ganz klar: Wir beschäftigen uns mit Introversion. Hä? Wer lacht am lautesten? Wir! Sind wir trotzdem intro? Ja! 24/7 haben wir uns mit allen Formen der Intro- und Extraversion beschäftigt, zwecks der Produktivität sind wir glatt zusammengezogen. Für unsere tägliche Dosis Ruhe sind wir auch brav immer früh schlafen gegangen und haben die anderen im Newsroom abends alleine gelassen. Außer jetzt gerade. 21:52 Uhr im ZMK – „Intro oder Extro?“ , das ist hier die Frage. #haiphappenuhaha #quelltext

[ssba]

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