Bleibt die Kirche wirklich im Dorf?

Weniger Gottesdienstteilnehmer, weniger Taufen, Erstkommunionen, Firmungen und kirchliche Trauungen, weniger Wiederaufnahmen und Neueintritte, gleichzeitig deutlich mehr Austritte. In Deutschland wenden sich immer mehr Menschen von der Katholischen Kirche und ihren Sakramenten ab. Das zeigt ein Vergleich der durch die Deutsche Bischofskonferenz veröffentlichten Zahlen von 2011 und 2015. Trotz Ausnahmen, wie beispielsweise einem kurzzeitigen Anstieg der  Taufen zwischen 2013 und 2014, ist die sogenannte Entkirchlichung der Gesellschaft, das heißt die fortschreitende Entfremdung der Menschen von der Kirche, unverkennbar. Heute stehen sich die Beharrungskraft von Traditionsbeständen und sich kontinuierlich vollziehende Abbruchsprozesse, die sich zum Beispiel durch Kirchenaustritte bemerkbar machen, gegenüber. Mit dieser Entwicklung, dem religiösen Wandel, beschäftigt sich Detlef Pollack als Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster seit mehreren Jahren.

„Typisch für diesen Wandel ist, dass er sich sehr langsam vollzieht“, sagt der Religionssoziologe. Die aktuelle Anzahl der Kirchenaustritte in Deutschland bezeichnet Pollack als „alles andere als dramatisch“. Trotzdem geht er davon aus, dass die Katholische Kirche auch in Zukunft immer mehr Mitglieder verlieren wird.  Welche Faktoren es sind, die diesen Wandel antreiben, ist laut dem Wissenschaftler soziologisch umstritten. Unverkennbar und für die stattfindenden Veränderungen charakteristisch sind jedoch regionale Unterschiede im Bezug der Menschen zur Katholischen Kirche. „Ganz entscheidend sind dabei Mehrheitsverhältnisse. Dort, wo vor allem Katholiken leben, existiert so etwas wie eine Plausibilitätstruktur“, sagt Pollack. Das bedeutet, dass sich die Menschen, die sich als Katholiken verstehen, gegenseitig in ihrem Glauben bestärken. Wer als Katholik hingegen in einem Ort lebt, in dem er mit seinem Glauben Teil einer Minderheit ist, sieht seine Überzeugung häufiger in Frage gestellt. In solchen Regionen sind die religiösen Überzeugungen und Praktiken insgesamt weniger stabil.

In Deutschland zeigen sich regional große Unterschiede in der Anzahl der Katholiken. Während vor allem im Südosten, Süden, Westen und in Mitteldeutschland gehäuft Landkreise und kreisfreie Städte mit vergleichsweise vielen Katholiken vorkommen, sind der Norden und Osten der Bundesrepublik mehrheitlich wenig katholisch geprägt.

Die angegebenen Prozentwerte wurden aus hochgerechneten und gerundeten Werte aus dem Zensus 2011 des Bundesamts für Statistik berechnet. Die Landkreise Ludwigslust-Parchim, Nordwestmecklenburg, Vorpommern-Greifswald sowie Rostock sind erst nach dem Zensus 2011 entstanden. Deren Daten in der Karte wurden daher aus den Werten der Altlandkreise zusammengerechnet. Für die grau gekennzeichneten Landkreise lagen nicht genügend Daten vor.

„In der Tat zeigt sich, dass die Beharrungskraft des Religiösen auf dem Land größer ist als in der Stadt“, sagt Detlef Pollack. Dieser Unterschied steht laut dem Religionssoziologen in Bezug zu einem wichtigen Faktor des religiösen Wandels: Ablenkungen von der Kirche, die sich den Menschen vor allem in modernen Gesellschaften bieten. „Es gibt viele Freizeitangebote, angefangen von Filmen über Clubs bis hin zu Restaurants. Freundschaften werden gepflegt, man ist sehr mobil. Diese ganzen Angebote der modernen Gesellschaft lenken von der Konzentration auf das religiöse Leben ab“, erklärt Pollack. Daraus ergibt sich die Erklärung für die verstärkte Religiosität der Menschen in ländlichen Regionen: Die Vielfalt an Freizeitangeboten ist in städtischen Regionen deutlich größer als auf dem Land. Somit ist in der Stadt die Wahrscheinlichkeit höher, von der Religion abgelenkt zu werden.
Der statistisch betrachtet katholischste Landkreis Deutschlands befindet sich im Bayerischen Wald. In Regen sind 89,9 Prozent der Einwohner Katholiken. Im Süden des Landkreises, zwischen Kirchberg und Kirchdorf im Wald liegt Sommersberg. In dem kleinen Dorf leben 232 Einwohner. 229 davon sind katholisch, nur drei gehören keiner Religion an. Mittelpunkt der Dorfgemeinschaft von Sommersberg ist die Marienkapelle des Örtchens, die die Bewohner 2014 gemeinschaftlich saniert haben.

Fotos: Anna Zimmermann, Aline Wendt, privat

Auch im statistisch betrachtet fast 100 Prozent katholischen Sommersberg besuchen nicht mehr alle Bewohner regelmäßig den Sonntagsgottesdienst in Kirchberg im Wald, der Muttergemeinde des Dorfs. (Inwiefern der katholische Glaube in Sommersberg gelebt wird, lesen Sie im Magazin Wertpapier ab Seite 40). Über einige auffällige Aussagen der Dorfbewohner hat Wertstoff mit Detlef Pollack gesprochen.

Wertstoff: Vor allem die jüngeren Sommersberger sagen, dass sie zwar gläubig sind, aber nicht mehr in die Kirche gehen. Wie passt das zusammen?

Vergrößern

Detlef-Pollack-e1475835785565
Prof. Dr. Detlef Pollack – Universität Münster.

Bildnachweis: Exzellenzcluster „Religion und Politik“/Brigitte Heeke

Detlef Pollack:  Ja das ist ein typisches Muster. Viele sagen: Ich kann ohne Kirche gläubiger Christ sein. Das hat zwei Auswirkungen. Zum einen eine enorme Distanz zur Kirche – das ist klar. Zum anderen gibt es aber auch so etwas wie eine Sympathie oder ein grundlegendes Einverständnis, dass dem christlichen Glauben eine Bedeutung zukommt. Man möchte sich nicht ohne weiteres aus dieser Gemeinschaft der Christen herausbegeben. Das gläubig sein ohne Kirche kann sogar ein Grund für den Austritt sein. Ich stehe dem sehr skeptisch gegenüber. Es zeigt sich nämlich, dass die meisten Menschen, die aus der Kirche austreten, nicht nur die Verbindung an die Kirche lockern, sondern auch in ihrer Bindung an den Glauben nachlassen. Es gibt einen statistisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen individueller Religiosität und Kirchenbindung. Im Großen und  Ganzen zeigt sich: Je geringer die Kirchenbindung, desto geringer auch die Religiosität. Es ist ein Mythos, der aber sehr gepflegt wird, dass die Kirchenbindung für die Aufrechterhaltung der Religiosität unwichtig sei.

Wir konnten im Rahmen unserer Interviews erfahren, dass es den Menschen schwerfällt, explizite christliche Werte festzumachen. Welche Werte sind für Sie spezifisch christlich?

Detlef Pollack: Das Typische bei diesen Werten ist, dass sie relativ diffus und allgemein sind, aber von vielen möglicherweise gerade aufgrund ihrer Allgemeinheit bejaht werden. Werte, die man als christlich bezeichnen kann, sind in meinen Augen Nächstenliebe oder Vertrauen sowie Gerechtigkeit, Hoffnung und Optimismus. Solche Werte sind in der Gesellschaft meiner Meinung nach weit verbreitet, aber sie laufen nicht unbedingt unter dem christlichen Namen.  Statt Nächstenliebe sagt man heutzutage beispielsweise Fairness. Wenn es um Gerechtigkeit geht, sagt man vielleicht eher Gleichheit. Ich denke, dass diese, eigentlich aus dem Christentum kommenden Werte heute zu einem großen Teil gesellschaftlich breite Akzeptanz gefunden haben. Zugleich präsentieren sie sich nicht mehr als religiöse Werte, sondern sind säkulare Werte geworden. In der Soziologie spricht man von einer Wertegeneralisierung oder Wertediffusion.

Ist das auch die Erklärung dafür, dass unsere Protagonisten sich so schwer getan haben, diese Werte festzumachen?

Detlef Pollack: Ja ganz genau. Das ist sehr interessant. „Man soll nicht töten“ ist zum Beispiel auf der einen Seite ein christliches Gebot, auf der anderen Seite aber auch ein säkularer Wert. Je schärfer solche Werte religiös formuliert werden, desto höher ist die Neigung, sie abzulehnen. Je allgemeiner und säkularer man sie formuliert, desto höher ist die Neigung, ihnen zuzustimmen. Man kann solchen verdünnten und diffusen Werten leichter zustimmen als konkret formulierten. Wenn man beispielsweise sagt: „Du sollst nicht ehebrechen” ist das für viele schwierig. Dass man den Anderen als Partner respektieren soll, wird wiederum eher akzeptiert.

Lässt sich dann sagen, dass die Menschen aus Sommersberg in ihren Werten gar nicht so sehr von jenen Menschen unterscheiden, die nicht der katholischen Kirche angehören und nicht gläubig sind?

Detlef Pollack: Das ist ein wichtiger Punkt. Man sollte denjenigen, die sich von der Kirche verabschiedet haben oder ihr distanziert gegenüberstehen, nicht die Moralität ihres Handelns absprechen. Zum großen Teil drücken sich in ihren Handlungsformen, in ihren Prinzipien und  Wertvorstellungen auch noch christliche Werte aus. Sie verstehen sie nur selbst nicht als christlich. Es gibt eben verschiedene Quellen des moralischen Handelns. Das Christentum ist eine wichtige Quelle, die sich sozusagen generalisiert hat. Es gibt aber daneben auch sehr viele andere Möglichkeiten, auf eine ähnliche Art und Weise moralisch zu handeln.

Anna Zimmermann und Aline Wendt

Ein Dorf, in dem alle Bewohner jeden Sonntag in die Kirche gehen? Bei unserer Recherche mussten wir feststellen: Selbst in einem der katholischsten Dörfer Deutschlands bleiben vor allem die jüngeren Leute sonntags lieber zu Hause. Wie stark der Glaube in Sommersberg trotzdem im Alltag der Menschen verankert ist, hat uns beeindruckt. Wir haben den Eindruck bekommen: Christlicher Glaube kann auch ohne regelmäßige Kirchbesuche gelebt werden.

[ssba]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert