Distanz-Demokratie

Distanz-Demokratie

Superwahljahr 2021: Kontroverse Parteitage in vollen Hallen, persönliche Gespräche zwischen Politiker:innen und Bürger:innen am Wahlkampfstand und hitzige Debatten zwischen Kandidat:innen. Diese Assoziationen ruft der Begriff Superwahljahr unter normalen Umständen hervor. Aber: Normalität ist relativ. Anhaltende Distanzgebote und immer neue Herausforderungen haben die Art und Weise, wie Politik gemacht wird, verändert. Wo und wie macht sich das bemerkbar? Und wie funktioniert Politik auf Distanz?

Johannes Schätzl

Johannes Schätzl ist 28 Jahre alt und kandidiert dieses Jahr bei der Bundestagswahl als Direktkandidat der SPD für den Wahlkreis Passau. Es ist nicht der erste Wahlkampf, an dem er teilnimmt. Seit 2014 sitzt er für die Sozialdemokraten im Hauzenberger Stadtrat. Zuvor arbeitete er vier Jahre für den ehemaligen Bundestagsabgeordneten der SPD in Passau, Christian Flisek. Trotzdem: Politische Zeiten, wie wir sie aktuell erleben, sind auch für den 28-Jährigen neu. „Ich glaube, dass sich grundsätzlich alles in der Politik geändert hat in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist es tatsächlich die Nähe, die fehlt, gerade im Wahlkampf. Und das zweite, was sich geändert hat, ist, dass sich die Themenschwerpunkte verschoben haben“, erklärt Schätzl. In letzter Zeit habe es außer Corona kaum ein anderes Thema gegeben. Das sei jedoch logisch, denn „da hängen ja auch viele persönliche Schicksale dran“. Wichtig ist laut Schätzl, dass man die Situation so annimmt, wie sie ist. Diese sei weder besser noch schlechter, sondern anders. Und es stelle sich die Frage, wie man damit umgehe. Ihn persönlich hat Corona nicht von seiner Entscheidung zu kandidieren abgehalten: „Ich habe genau gewusst, worauf ich mich einlasse. Das war ja absehbar letztes Jahr.“

Vergrößert sich die Distanz zwischen Politik und Bürger:innen?

Uwe Jun

Die Corona-Pandemie hat die Konzentration auf die Exekutive verstärkt. Das stellt Uwe Jun fest, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Es habe sich ein für Krisenzeiten typisches Verhalten seitens vieler Bürger:innen beobachten lassen: Sie versammelten sich hinter der Exekutive und unterstützten deren politische Entscheidungen, besonders zu Beginn der Pandemie. Mit der Zeit seien aber Skepsis und Kritik an der Politik gewachsen, nicht zuletzt wegen der nur zögerlich anlaufenden Impfkampagne und der Masken-Affäre innerhalb der Union, erklärt Uwe Jun. Ob das Vertrauen in die Politik beziehungsweise deren Glaubwürdigkeit nachhaltig abgenommen habe, lässt sich laut dem Politikwissenschaftler noch nicht abschließend sagen. Eine Sache lasse sich aber schon länger beobachten: „Wir erleben auch, dass ein Teil der Bevölkerung sich gegenüber demokratischen Akteuren skeptisch verhält oder eine gewisse Grunddistanz gegenüber der Demokratie aufweist.“

Aber wie zufrieden sind Menschen in Deutschland mit der Demokratie und den politischen Akteur:innen? Zu diesem Thema hat die Friedrich-Ebert-Stiftung 2019 eine Studie veröffentlicht mit dem Titel „Vertrauen in die Demokratie. Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik?“. Der ernüchternde Kernbefund: Weniger als die Hälfte der Menschen gab an, zufrieden beziehungsweise sehr zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie zu sein. Außerdem springt ein weiteres Ergebnis ins Auge: Die Autoren fanden heraus, dass es erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Zufriedenheit zwischen Ost und West gibt. Während in den westlichen Bundesländern fast die Hälfte der Menschen angab, zufrieden zu sein, war es in den östlichen Bundesländern lediglich gut ein Drittel.

eigene Darstellung, Datenquelle: Friedrich-Ebert Stiftung/ Universität Bonn 2019

Henriette Quade

Dieses Ergebnis deckt sich mit den Erfahrungen, die Henriette Quade in ihrem Wahlkreis Halle in Sachsen-Anhalt seit einiger Zeit und besonders zuletzt im Wahlkampf gemacht hat. „Wir haben in Sachsen-Anhalt seit vielen Jahren ein Problem mit Vertrauen in Demokratie, in demokratische Abläufe, Prozesse und Institutionen. Das ist seit einiger Zeit zu beobachten und das ist ein riesiges Problem, das spürt man auch am Wahlstand“, berichtet die stellvertretenden Fraktionsvorsitzende der Linken im Landtag. Durch die Pandemie sei dieses Verhältnis noch distanzierter geworden. Henriette Quade hat den Eindruck, dass die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahl noch größer geworden ist. Bei vielen Menschen habe sich das Gefühl eingestellt, dass Veränderungen mit nichts Positivem verbunden sind. Mehr Eindrücke von Henriette Quade und zwei weiteren Kandidat:innen vom Wahlkampf aus Sachsen-Anhalt gibt es im Podcast zu hören. Anders ist der Eindruck von Johannes Schätzl. Er habe nicht den Eindruck, das Verhältnis zwischen Bürger:innen und Politik sei durch Corona distanzierter geworden, im Gegenteil: „Ich habe eher das Gefühl, die Leute suchen jetzt das Gespräch“, schildert der 28-Jährige Erlebnisse aus seinem Wahlkreis. Das Verhältnis zu einigen Menschen sei sogar intensiver geworden, vielleicht auch, weil durch die plötzlich fehlende Nähe das Bedürfnis nach Informationen größer geworden sei.

Von wissenschaftlicher Seite aus lässt sich erst in den nächsten zwei, drei Jahren final sagen, ob sich bereits vor Corona einsetzende Entwicklungen weiter fortgesetzt haben. „Es ist zu erwarten, dass sich zumindest bei den Teilen der Bevölkerung, die ihre Skepsis schon vorher hatten, die Distanz zur Demokratie nicht weiter verringert hat. Ob aber die Zahl der Gruppen größer geworden ist, das können wir im Moment noch nicht sagen“, bilanziert Politikwissenschaftler Uwe Jun.


Wahlkampf in Sachsen-Anhalt – Drei Kandidat:innen erzählen

Wahlkampf in Zeiten von Kontaktbeschränkungen und Distanzgeboten

Ein Blick zurück. In diesem Jahr haben bereits drei Landtagswahlen stattgefunden. Den Auftakt machten die Wahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg am 14. März. Es folgte die Wahl in Sachsen-Anhalt am 6. Juni. Alle drei Wahlen teilen Gemeinsamkeiten:

  • Sie fanden entweder vollständig (Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg) oder teilweise (Sachsen-Anhalt) unter pandemischen Bedingungen statt und stellten so alle Beteiligten vor Herausforderungen.
  • Bei allen drei Wahlen konnten sich der Amtsinhaber oder die Amtsinhaberin durchsetzen und die Wahl gewinnen.
  • In jedem Bundesland mussten sich die Kandidat:innen und ihre Teams Ideen und neue Formate einfallen lassen, um wegfallende analoge und klassische Wahlkampf-Formate ins Digitale zu übersetzen.
Mathias Richel

Ein Mann, der in Rheinland-Pfalz ganz nah dran war am Wahlkampf, ist Mathias Richel. Der 40-Jährige ist Mitgründer und Geschäftsführer der Agentur Richel, Stauss in Berlin, die sich auf strategische politische Kommunikation spezialisiert hat. 2018 gründete er mit Frank Stauss die Agentur, die seither unter anderem den Europawahlkampf der SPD 2019 organisiert hat oder den Landtagswahlkampf der Hamburger SPD im letzten Jahr. Richel und sein Team waren auch die Köpfe hinter der Wahlkampfstrategie der Sozialdemokraten um Malu Dreyer. Aus erster Hand haben er und seine Mitarbeiter erlebt, wie Wahlkampf unter Pandemie-Bedingungen abläuft. Idealerweise, erzählt Mathias Richel, beginnt man mit der Planung einer Wahlkampagne eineinhalb bis zwei Jahre vor der Wahl. Diese Zeit wird in der Regel für Forschung genutzt und dafür, politische Themen zu setzen, um ein „Grundrauschen“ zu erzeugen. Es habe sich aber schnell gezeigt, dass Corona den Wahlkampf bestimmen würde, zumindest inhaltlich und thematisch, dennoch: „Wie wir Malu Dreyer inszeniert haben, das war fast pandemisch unabhängig“, berichtet Richel. Erfahrungen von vergangenen Wahlen zeigen, dass Amtsinhabende in der Regel immer einen Vorteil haben. Sie verfügen bereits über Bekanntheit – was nicht heißen muss, dass die jeweilige Person bei allen beliebt ist. Dennoch ist es für solche Personen in der Regel leichter, (mediale) Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Häufig ist dann vom „Amtsinhaber-Bonus“ die Rede. Bei allen drei Landtagswahlen dieses Jahr hat sich dieser Eindruck bestätigt.

Richel und die SPD haben in Rheinland-Pfalz neben digitalen Formaten wie der „WIR-MIT-IHR-Tour“ trotz allem weiterhin auf klassische analoge Formen der Wahlwerbung gesetzt. Ein Beispiel dafür war das Malu-Magazin – ein gedrucktes Heft, in dem es nicht vorwiegend um komplexe politische Streitfragen ging, sondern eher um „leichte Themen“ wie Mathias Richel es nennt. Die Überlegung hinter dem Magazin: Den Leuten neben den ganzen Online-Formaten und Zoom-Sitzungen, die sie sowieso schon im Alltag begleiten, etwas Persönliches in den Briefkasten zu legen. Ganz nach dem rheinland-pfälzischen Motto „Nah bei de Leut“. Zur Wirkung des Magazins könne er nichts sagen, aber es sei auf jeden Fall „eine starke Unterstützung“ gewesen, um weiterhin präsent zu sein bei den Wähler:innen, erklärt der Wahlkampfexperte.

„Ich habe auf Bauzaun-Bannern die Nummer eines Zweithandys von mir veröffentlicht. So konnten die Leute mich anrufen und das wurde auch rege genutzt.“

Johanna Engel
Bauzaun-Banner von Johanna Engel

Nicht nur die rheinland-pfälzische SPD hat sich Ideen einfallen lassen, um fehlende Gespräche am Wahlkampfstand aufzufangen. Die drei Spitzenkandidaten der Mainzer CDU beispielsweise haben sich über einen Computer-Bildschirm auf dem Domplatz zugeschaltet und so versucht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Und die Spitzenkandidatin der Grünen in Sachsen-Anhalt, Cornelia Lüddemann, hat im Rahmen des Formats „Digitales Town Hall Meeting“ Fragen beantwortet, die Zuschauer:innen live im Chat stellen konnten. Einen ganz anderen Weg hat Johanna Engel, Kandidatin der FDP in Sachsen-Anhalt, für sich gewählt: „Ich bin noch einen Schritt weitergegangen. Ich habe auf Bauzaun-Bannern die Nummer eines Zweithandys von mir veröffentlicht. So konnten die Leute mich anrufen und das wurde auch rege genutzt muss ich sagen“, erzählt die 23-jährige Medizinstudentin. Aber aller innovativen Formate zum Trotz: Wahlplakate sind nach wie vor ein wichtiges Mittel. Es sei zwar „nicht so cool, das in einer volldigitalisierten Welt zu sagen“, so Mathias Richel, aber die Forschung zeige, dass für viele Menschen der Wahlkampf überhaupt erst beginne, wenn die ersten Wahlplakate hängen.

Im Rahmen seiner Reihe „MDRfragt“ hat der MDR zwei Wochen vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 5.800 Menschen befragt, durch welche Formate sie sich bisher angesprochen gefühlt haben von den Parteien. Die (nicht repräsentativen) Ergebnisse bestätigen die Einschätzung von Richel. Fast 70 Prozent der Befragten gaben an, durch Wahlplakate von den Parteien erreicht worden zu sein, gut die Hälfte durch Infomaterial im Briefkasten. Dagegen haben sich durch Live-Formate und Social Media nur rund 20 Prozent erreicht gefühlt.

eigene Darstellung, Datenquelle: MDRfragt – das Meinungsbarometer für Mitteldeutschland 2021

Tim Teßmann

Diese Zahlen mögen vielleicht für den einen oder die andere überraschend sein in Zeiten, in denen sich viele Bereiche des Lebens in den digitalen Raum verschoben haben – nicht aber für Tim Teßmann. Der CDU-Politiker ist 31 Jahre alt und wird nach der diesjährigen Wahl als jüngster Abgeordneter in den Landtag von Sachsen-Anhalt einziehen. Auch er hat in seinem Wahlkampf besonders auf Wahlplakate und Flyer gesetzt. Insgesamt haben er und einige Helfer 25.000 Flyer verteilt, in jeden Briefkasten des Wahlkreises. „Mein Anspruch war es, in jedem kleinen Dorf gewesen zu sein und mindestens einmal dort einen Flyer in die Briefkästen zu werfen – zwei Wochen vor der Wahl waren wir durch“, erzählt der 31-Jährige. Ansonsten habe er auf Werbung in Zeitungen gesetzt und auch ein Image-Video produzieren lassen. Die Resonanz der Leute beschreibt Teßmann als gut, besonders auf die Werbung in den Briefkästen.

„Das ist nicht gut, das macht keinen Spaß und es ist wahnsinnig schwierig.“

Mathias Richel

Mathias Richel hofft, dass Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg die einzigen voll-pandemischen Wahlkämpfe bleiben, denn: „Das ist nicht gut, das macht keinen Spaß und es ist wahnsinnig schwierig.“ Es habe sich gezeigt, wie wichtig der Kontakt zu Menschen sei und wie mühselig, diese fehlende Nähe zu kompensieren.

Der Faktor Social Media

Trotz der nach wie vor großen Bedeutung von beispielsweise Wahlplakaten kann man konstatieren: Social Media nimmt nicht nur in unserem täglichen Leben eine immer größere Rolle ein, sondern auch in der politischen Kommunikation. Parteien nutzen die Sozialen Netzwerke genauso wie Politiker:innen, die sich dann häufig von ihrer privateren Seite zeigen, besonders auf der Plattform Instagram. In der Pandemie bietet Social Media die Möglichkeit, Wähler:innen auf einer persönlicheren Ebene anzusprechen, wenn schon kein direkter Kontakt beziehungsweise nur eingeschränkter Kontakt möglich ist. Das fällt allerdings nicht allen Politiker:innen leicht. Viele sehen sich im Zwiespalt zwischen einerseits präsent sein und Kontakt zu Bürger:innen herstellen und andererseits nicht zu viel Privates von sich preisgeben zu wollen. Auch Johannes Schätzl, der Bundestagskandidat, hat damit Probleme, wie er zugibt. „Ich bin nicht gut darin, mein privates Leben den ganzen Tag zu teilen. Ich mag das nur sehr beschränkt und ich habe auch keine Lust, den ganzen Tag alles von mir preiszugeben.“ Er habe für sich beschlossen, ab und zu mal ein privateres Foto von sich zu posten, aber das werde die Ausnahme bleiben. Dem SPD-Kandidat ist bewusst, dass seine Accounts mehr Erfolg hätten, würde er privatere Fotos veröffentlichen. Aber er wolle sich nicht verstellen, erklärt er.

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Instagram-Accounts im Vergleich, von links: Johanna Engel, Tim Teßmann, Henriette Quade & Johannes Schätzl

In den Augen von Mathias Richel, dessen Expertise vor allem im Digitalen liegt, ist es vor allem wichtig, sich zwei Fragen zu stellen, wenn es um das gezielte Einsetzen von Social Media als Werbestrategie geht: Wen möchte man erreichen? Und was erwarten die Menschen von einem? Insbesondere Parteien seien keine „Lifestyle-Marken“ und auch keine „Freunde“. Stattdessen sollte man den Menschen das Gefühl vermitteln, dass ihre Anliegen ernst genommen werden. „Wenn man sich der Rolle bewusst ist, ist es leicht, Formate zu finden, die nicht anbiedernd sind“, erklärt er. Wichtig sei außerdem, dass Social Media zunächst einmal Organisationsraum und nicht Kommunikationsraum sei für Parteien. Laut dem Experten geht es für diese zuerst darum, die eigenen Anhänger:innen zu mobilisieren, die dann wiederum Wähler:innen anwerben. Viele Parteien hätten das erst spät verstanden, mit einer Ausnahme: „Die AfD ist die erfolgreichste Internet-Partei, die wir haben“, konstatiert Richel. Dabei profitiere die Partei auch davon, dass sie verhältnismäßig jung sei. Für etabliertere Parteien sei es schwieriger, diese neuen Mittel in bestehende Strukturen zu implementieren. „Aber“, so Richel, „alle anderen Parteien haben massiv aufgerüstet, gerade in der internen Mitgliederkommunikation, was Social Media angeht“. Ohnehin seien die Sozialen Medien aufgrund des veränderten Mediennutzungsverhaltens der Menschen nicht mehr aus der Politik wegzudenken.

Digitale Formate und die Hoffnung auf neue Zielgruppen

Nicht endgültig ist bisher geklärt, ob digitale Formate das Potenzial bieten, mehr und vor allem auch neue Personenkreise zu adressieren. Also: Sorgen digitale Veranstaltungen dafür, dass Hemmschwellen abgebaut werden und sich Leute für politische Themen interessieren, die sich vorher eher distanziert zur Politik verhalten haben? Oder ist es nicht vielmehr so, dass man sich auch online in den immer gleichen Kreisen bewegt und sich dort vor allem diejenigen interessiert zeigen, die im Analogen ohnehin schon politisch partizipieren?

„Ich glaube, es kostet Überwindung in diese digitalen Räume zu gehen, weil man damit eine Art Commitment eingeht.“

Uwe Jun

Laut Uwe Jun ist die Zahl der Menschen, die sich in virtuelle Räume begeben, um sich dort politisch zu informieren, bisher verhältnismäßig eher gering. Zwar seien Hemmschwellen niedriger geworden – so entfallen beispielsweise lange Anfahrtswege zu Veranstaltungen – dennoch machten nach bisherigen Erkenntnissen wenige Menschen davon Gebrauch, berichtet der Politikwissenschaftler. Aus der Forschung weiß man bereits, dass es sich bei Personen, die sich digital zuschalten, meist um Stammwähler:innen handelt oder Menschen, die der entsprechenden Person beziehungsweise Partei ohnehin schon positiv gegenüber eingestellt sind. „Skeptiker findet man eher selten in diesen Runden“, fasst Uwe Jun zusammen. Für Rheinland-Pfalz konnte er beobachten, dass Menschen, die politisch noch nicht entschieden waren, die digitalen Angebote eher nicht genutzt haben. Die Politik habe zwar versucht, die wegfallende interpersonale und direkte Kommunikation durch Internetkommunikation aufzufangen, aber zufälliger Kontakt sei so gar nicht möglich gewesen. „Ich glaube, es kostet Überwindung in diese digitalen Räume zu gehen, weil man damit eine Art Commitment eingeht“, erklärt Jun. „Es betrifft auch in erster Linie die jüngere Bevölkerung und weniger die ältere Bevölkerung, die überhaupt an diesen Aktivitäten teilnimmt.“ Für ältere Menschen seien nach wie vor die traditionellen Medien, insbesondere das Fernsehen, Leitmedien.


Mathias Richel zu sinkenden Hemmschwellen
durch digitale Formate

Johannes Schätzl zieht nach seinen ersten Erfahrungen mit Online-Wahlveranstaltungen eine positive Bilanz: „Es waren im Schnitt immer 40 bis 45 Leute, die live dabei waren. Und nach dem Video waren es mehr als 600 Leute, die das Video mehr als eine Minute angeschaut haben. Das würde ich in Präsenz nicht schaffen. Das heißt, das hat einfach schon einen gewissen Reiz, das so abzuhalten.“ Entscheidend ist seiner Meinung nach vor allem der Mehrwert einer Veranstaltung für die Menschen. Für die Zukunft geht Schätzl davon aus, dass manche digitale Formate auch weiterhin stattfinden werden. Er persönlich setzt für seinen Wahlkampf auf eine hybride Form zwischen digitalen und analogen Veranstaltungen.

Die Briefwahl

Symbolbild: Briefwahlunterlagen ausfüllen

Die Corona-Pandemie hat sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen Teilen der Bevölkerung und der Politik beziehungsweise Politiker:innen ausgewirkt und auf den Wahlkampf, sondern auch auf die Art der Stimmabgabe. Bereits seit Jahren beobachten Forscher:innen, dass der Anteil der Briefwahlstimmen gemessen an der Gesamtzahl abgegebener Stimmen bei der Bundestagswahl stetig steigt. Waren es 2005 noch 18,7 Prozent, die ihre Stimme per Brief abgaben, lag dieser Anteil 2017 bereits bei 28,6 Prozent. Die Distanzgebote und Abstandsregeln der vergangenen Monate haben dafür gesorgt, dass bei allen drei Landtagswahlen ein enormer Anstieg der Briefwahlstimmen zu beobachten war. In Baden-Württemberg stieg der Anteil der Briefwähler:innen auf über 50 Prozent. In Rheinland-Pfalz verdoppelte sich der Anteil auf rund 66 Prozent. In Sachsen-Anhalt war die Corona-Situation bereits entspannter am Wahltag. Dennoch hat sich auch dort der Anteil von fast 14 auf gut 29 Prozent gesteigert.

eigene Darstellung, Datenquelle: Bundeswahlleiter 2017

In der Vergangenheit, das zeigt die Forschung, haben von der Briefwahl vor allem zwei Parteien profitiert – die Grünen und die Union. Während Anhänger:innen der Union ihre Stimmabgabe vor allem als „Bürgerpflicht“ wahrnehmen, ist es bei den Grünen vor allem das politische Interesse, was die Motivation zur Briefwahl erhöht, erklärt Uwe Jun. Wenn sich nun aber, wie zu sehen, die Grundgesamtheit der Wähler:innen und die der Briefwähler:innen stärker überlappt, dann wird der Vorteil für diese beiden Parteien eher kleiner. Das heißt, bisher ist die Wahlbeteiligung durch die Briefwahl insgesamt gesehen nicht angestiegen (so auch bei den Landtagswahlen zu beobachten).

Lichteblau & Wagner 2019

Der Briefwähler

Sozio-ökonomische Merkmale:
höher gebildet & politisch interessiert
größerer Anteil an Angestellten & Selbstständigen als unter Urnenwähler:innen
geringerer Anteil ostdeutscher Wähler:innen
höhere Demokratiezufriedenheit

Zeitpunkt der Wahlentscheidung:
25 Prozent entscheiden sich Wochen vor der Wahl.
-> entscheiden sich generell früher als Urnenwähler:innen

Stattdessen haben viele Menschen, die bisher an der Wahlurne ihre Stimme abgegeben haben, nun die Briefwahl als Alternative für sich entdeckt. „Viele sehen, dass Briefwahl eine gewisse Normalität hat, was vorher noch als ungewöhnlich dargestellt wurde“, beschreibt der Politikwissenschaftler diese Entwicklung. Für die Bundestagswahl rechnet Uwe Jun zwar mit einer höheren Briefwahl-Quote als bei bisherigen Wahlen, allerdings in Anbetracht der entspannteren Corona-Lage mit einem weniger deutlichen Anstieg.

Folgen der Distanz für Parteien

Die Corona-Pandemie hat auch in der Parteiarbeit Spuren hinterlassen. Henriette Quade, die für die Linken im Landtag in Sachsen-Anhalt sitzt, berichtet, dass das Digitale einiges erschwert hat. „Es ist schwerer, ein Gefühl für die Masse zu bekommen und zu entwickeln, wenn Rückkopplungsrunden und Basistreffen entfallen“, erzählt die Oppositionspolitikerin. Auch Johannes Schätzl findet, dass digitale Formate nur in Teilen für die politische Arbeit funktionieren. So könne man nicht-kontroverse Themen zwar gut in digitalen Treffen besprechen, „aber wirkliche Stadtratsarbeit funktioniert so nicht“, sagt der 28-Jährige. Politische Arbeit lebe auch vom kurzfristigen Austausch und davon, „auch mal eine Minute ein Vieraugengespräch zu führen“. Ohne Zweifel haben die digitalen Treffen auch Vorteile, beispielsweise weniger Ortsgebundenheit oder leichterer Zugang für Personen, die ein geringes Zeitbudget haben. Trotzdem: „Das verändert das Binnenleben einer Partei und nimmt ein bisschen die Lust auf den sozialen Aspekt, den so ein Parteileben hat“, merkt auch Politikwissenschaftler Jun an. Insgesamt machten die fehlenden persönlichen Treffen alles etwas formeller und an der ein oder anderen Stelle auch „steriler“. Sowohl Jun als auch Henriette Quade und Johannes Schätzl sind aber der Meinung, dass sich manche Formate auch für die Zukunft bewährt haben. Die Vorteile hätten sich in den letzten Monaten gezeigt und Hybridformate seien künftig auch denkbar. Es bleibe aber eine Herausforderung: Wer an solchen digitalen Veranstaltungen teilnehmen möchte, braucht einen zuverlässigen Internetzugang. Und in dieser Hinsicht, so schildert es der studierte Informatiker Schätzl, gäbe es noch großen Nachholbedarf – trotz Digitalisierungsschub in den vergangenen Monaten.

Rückkehr zur „Nähe-Demokratie“?

Was bleibt nun nach eineinhalb Jahren Politik auf mal mehr und mal weniger große Distanz? Es hat sich gezeigt, dass Corona auf vielen Ebenen Spuren hinterlassen hat. Teilweise war von einer fortschreitenden Distanzierung von Teilen der Bevölkerung die Rede. Ob dieser Prozess jedoch durch Corona verstärkt wurde oder nicht, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend beantwortet werden. Klar ist aber geworden: Fehlender direkter Kontakt und persönliche Nähe stellen insbesondere die Kandidat:innen vor große Herausforderungen. Digitale Formate und Social Media können zwar helfen, sind aber kein adäquater Ersatz für persönliche Gespräche mit den Menschen. Und aus der Perspektive der Wahlkampfstrategen lässt sich festhalten: Pandemischer Wahlkampf ist schwierig und bringt besondere Herausforderungen mit sich. Die Distanz hat sich auch dort stellenweise negativ ausgewirkt und das soziale Miteinander erschwert. Dennoch: Es gibt auch Dinge, die gut gelaufen sind und auf die man in Zukunft zurückgreifen kann. Digitale Formate können als Ergänzung bleiben und bieten die Chance für die Politik, sich auch in digitalen Räumen an Menschen zu richten.

„Ich freue mich auf den Menschen.“

Johannes Schätzl

In einem aktuellen Artikel hat der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte die Frage aufgeworfen, ob wir nach der Pandemie zur „Nähe-Demokratie“ zurückkehren. Das könne man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, konstatiert Korte selbst. Was man aber sagen kann: „Für Partizipationswillige wird wieder mehr Nähe möglich sein, aber es wird auch gewollt etwas mehr Distanz als in der Vergangenheit geben, was persönliches Treffen und was den Umgang miteinander betrifft“, bilanziert Uwe Jun. Bis dahin bleibt Vorfreude auf die Dinge, die wir in der Pandemie besonders vermisst haben. Worauf sich Johannes Schätzl am meisten freut? „Ich freue mich auf den Menschen. Ich habe ja niemals in meinem Leben vorgehabt Politiker zu werden. Das war nie mein Wunsch und nie meine berufliche Ambition. Das hat sich so entwickelt auch, weil ich ganz gerne zu Menschen gehe und mit Menschen rede und wirklich Spaß daran habe, Menschen zu helfen. Und auf das habe ich wieder Lust“, erzählt der 28-Jährige. So wie ihm geht es vermutlich den meisten Politiker:innen.


Weiterführende Literatur:

  • Lichteblau, J. & Wagner, A. (2019): Der Briefwähler. In: Roßteutscher, S., Schmitt-Beck, R., Schoen, H., Weßels, B. & Wolf, C. (Hg.): Zwischen Polarisierung und Beharrung: Die Bundestagswahl 2017. Baden-Baden. S. 169-180. doi.org/10.5771/9783845287607-169
  • Korte, K.-R. (2021): Die Konturen des Nicht-Wissens im Superwahljahr 2021: Wählen in Zeiten der Pandemie. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft (2021). Open Access: https://link.springer.com/article/10.1007/s41358-021-00253-8

Als Politikstudentin musste ich natürlich das Klischee erfüllen und auch über ein politisches Thema schreiben. Was bietet sich da aktuell mehr an als Wahlkämpfe in Zeiten von Corona, Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen? Meine Recherche hat mir verdeutlicht: Politik lebt von menschlicher Nähe und braucht den persönlichen Austausch, egal ob auf der Straße, im Café oder beim Vereinsfest. Und ob man es glaubt oder nicht: Politiker:innen sind auch nur Menschen, die sich - wie viele von uns auch - auf das erste Bier im Biergarten oder das erste Stück Kuchen im Lieblingscafé freuen.

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