Heimat ist ein Gefühl

Heimat ist ein Gefühl

„Der Mensch hat immer eine Heimat und wär es nur der Ort, wo er gestern war und heute nicht mehr ist.“ (Alexander von Villers)

1.943 Kilometer Fahrstrecke und 5 Staatsgrenzen liegen zwischen der deutschen Hauptstadt Berlin und der bulgarischen „Meereshauptstadt” Varna. Was sich nach einer ewig langen Reise anhört, ist tatsächlich nur ein kleiner Trip: Denn nimmt man den Flieger, ist man im besten Fall schon nach 2 Stunden und 25 Minuten an seinem Ziel angekommen. Räumliche Distanz lässt sich heute einfacher als je zuvor überwinden. Mit der emotionalen Distanz zur Heimat und zur eigenen Familie sieht das allerdings etwas anders aus. 

Die Schwarzmeerküste galt schon immer als eines der beliebtesten Reiseziele für deutsche Touristen. Ihre sonnigen Strände, das milde Klima und die weitgehend bewahrte Natur ziehen jedes Jahr tausende Touristen aus aller Welt an: Für ausländische Staatsbürger gibt es viele gute Gründe, die Region zu besuchen und sich sogar zeitweilig hier niederzulassen. 

Tatsächlich lebt bereits seit vielen Jahren eine Vielzahl von Engländern, Franzosen, Russen und Ukrainern in Bulgarien. Auch für deutsche Auswanderer wird das Land zunehmend attraktiv. Derzeit leben dort etwa 2.000 von ihnen. Manche davon sind schon länger im kleinen südosteuropäischen Land ansässig, andere sind erst während der Corona-Krise zugezogen. Dabei bilden Karsten Renner sowie Constanze und Christian Waesch nur einen kleinen Teil der deutschen Community in Varna ab. Die gebürtigen Berliner haben verschiedene Ansichten, was ihr Verständnis von Heimat angeht und führen ganz unterschiedliche Lebensstile. Was sie jedoch vereint, ist die emotionale Bindung zu ihren Familien in der Heimat – und auch der Grund, warum sie ins Ausland gezogen sind. 

Ein kleiner Teil der deutschen Community in Bulgarien. Klickt man auf die Zahlen und Standortzeichen, kann man die Kontaktdaten von deutschsprachigen Menschen vor Ort abrufen und sich mit diesen vernetzen.

„Während Corona konnte ich meinen Beruf ein Jahr lang nicht ausüben” 

Connie Waesch ist von Beruf Erzieherin. Sie hat früher Psychologie studiert und für einige Zeit mit sexuell misshandelten Kindern gearbeitet. In der DDR, wo sie aufgewachsen ist, durfte sie ihren Berufswunsch allerdings erst mal nicht ausüben. Also hat sie sich im Außendienst selbstständig gemacht. Zurzeit arbeitet sie im Vertrieb für Kindergarteneinrichtungen. „Ich arbeite in einem Job, wo ich zwischen Deutschland und Bulgarien hin- und herfliegen muss. Meine Firma hat mir meinen Arbeitsplatz so eingerichtet, dass ich von hier aus und von dort aus arbeiten kann”. 

Während der Corona-Pandemie musste Connie allerdings zeitweilig in Kurzarbeit gehen. Da Kindergärten und Kitas in Deutschland zum Höhepunkt des landesweiten Infektionsgeschehens geschlossen waren, sah sie sich in ihrer Existenz gefährdet. Ihr stand allerdings noch eine Option offen: Ihre Firma hat es ihr ermöglicht, auch von Bulgarien aus zu arbeiten, wo Kindergärten noch weitgehend offen bleiben durften. Mittlerweile arbeitet und lebt Connie seit einem Vierteljahr in Bulgarien.

Im Zuge der Corona-Pandemie ist auch Karsten Renner nach Bulgarien gezogen. Karsten hat früher an vielen verschiedenen Orten der Welt gelebt. Zuletzt war er in Malta und Portugal, wo er für kurze Zeit einen Angestelltenjob hatte. Der 54-jährige Ostberliner betreibt eine eigene Vertriebsfirma für Sportartikel, die ihre Produkte bei Ebay Kleinanzeigen anbietet. Theoretisch könnte Karsten von überall aus arbeiten. In Portugal hat er jedoch die Erfahrung gemacht, dass dort die Coronа-Maßnahmen strikt durchgesetzt wurden. Er beschreibt sich selbst als einen „lockeren Typen”. Also hat er sich auch auf die Suche nach einem „lockeren Land” gemacht. „Eigentlich wollte ich nach meinem Aufenthalt in Portugal gerne mal nach Italien oder auch Spanien. Was mich davon abhielt, war der strikte Umgang mit den Corona-Maßnahmen vor Ort. Also fiel meine Entscheidung auf Bulgarien.” 

In Bulgarien wurde mit Corona tatsächlich etwas lockerer umgegangen als in anderen europäischen Ländern. Das lag zum Teil auch daran, dass die Infektionszahlen in Bulgarien durchgängig geringer als in Deutschland ausfielen. Gab es in Deutschland in der Hochphase der Pandemie am 23. Dezember ganze 31.297 Neuinfektionen, so lag diese Zahl in Bulgarien bei lediglich 1.799 neu bestätigten Fällen. 

Am 4. November überstieg die Zahl der Fälle erstmals die 4000er-Marke (4041 Neuinfektionen). Zwar ist die Testquote die niedrigste in der EU, sodass mit einer hohen Dunkelziffer an Infektionen gerechnet werden kann. Aufgrund der niedrigen Einwohnerzahl (lediglich 7 Millionen im Vergleich zu 83 Millionen Einwohner in Deutschland) kann man von einer relativ hohen landesweiten Inzidenz ausgehen. 

Aus diesen und ähnlichen Gründen galt in Bulgarien die Maskenpflicht meist nur in geschlossenen Räumen. Verstieß man gegen diese, wurden Geld- oder sonstige Strafen nur selten verhängt. Die Schulen blieben fast durchgängig geschlossen. Kindergärten, Restaurants und Freizeiteinrichtungen durften jedoch weitgehend offen bleiben, was in anderen europäischen Ländern meist nur unter bestimmten Umständen möglich war. Und obwohl der Massentourismus im Vorjahr praktisch nicht stattfinden durfte, sahen viele ausländische Staatsbürger in den lockeren Corona-Maßnahmen in Bulgarien eine Chance auf Zuflucht vor dem Alltag im eigenen Land. Für manche von ihnen boten sich Gelegenheiten zur Arbeit, die es in der Heimat in Zeiten der Pandemie so nicht gegeben hätte.

Karsten Renner, gebürtiger Ostberliner, Jahrgang 1966 / Persönliches Fotoarchiv von Karsten Renner

„Für einen DDR-Bürger war damals nicht alles möglich” 

Vor Corona war Reisen für viele selbstverständlich – Urlaub machen gehörte früher einfach zum Leben dazu. Neue Länder und Kulturen kennenlernen erweitert schließlich den eigenen Horizont. Was wir vor Corona als eine Selbstverständlichkeit begriffen haben, war jedoch nicht immer so möglich. Bevor die Mauer fiel, konnte ich nur noch mit dem Finger auf die Landkarte fahren. Und in die nahen sozialistischen Länder”, erklärt Karsten. Als DDR-Bürger war es damals relativ leicht, nach Polen oder Tschechien zu fahren. In Ungarn konnte man westliche Ware kaufen und deshalb war es für uns ein Traum, wenn man ab und zu dahin durfte. Bulgarien hingegen empfanden wir als eher exotisch, vor allem weil das Wetter und die Natur so einzigartig waren.” Diese Distanz zur Außenwelt, unter der Karsten bis zum Mauerfall leiden musste, hat in ihm keine Antipathie gegen das Ausland ausgelöst. Ganz im Gegenteil – er wurde immer neugieriger, wie die Welt jenseits des Eisernen Vorhangs aussehen könnte. So ging es vielen ehemaligen DDR-Bürgern. 

Und dann fiel plötzlich die Mauer. Seit seinem achtzehnten Geburtstag hat Karsten jedes Jahr mindestens einmal Urlaub in Bulgarien oder anderen Ländern des damaligen Ostblocks gemacht. Nach dem Mauerfall durfte er aber auch westliche Länder bereisen – für die damaligen DDR-Bürger unvorstellbar. 

Eindrücke aus dem Leben in der damaligen DDR / Persönliches Fotoarchiv von Karsten Renner

Heute ist die Welt weitgehend offen und frei. Das war aber nicht immer so. An die Diskriminierung und die Weltverschlossenheit, die mit der Zugehörigkeit zum damaligen Ostblock einhergingen, kann sich Karsten immer noch gut erinnern: “Was wichtig war, wenn man irgendwo hingefahren ist, war, immer, ein bisschen D-Mark dabei zu haben. Denn wenn plötzlich ein Notfall war, wurde einem gegen D-Mark immer geholfen. Gegen Ostmark dagegen eher nicht. Das Problem war nur, dass es war damals verboten war, als DDR-Bürger D-Mark zu besitzen, geschweige denn, diese ins Ausland zu bringen. Also mussten wir zum Beispiel über die Grenze zum westlich geprägten Ungarn D-Mark schmuggeln”. 

Genau das Gegenteil erlebt er in seiner neuen Heimat Bulgarien: „Wenn man herausfindet, dass ich Deutscher bin, dann assoziieren das die Menschen fast immer mit großartigen Sachen. Man denkt immer, ich wäre super diszipliniert, pragmatisch und pünktlich. Dass ich quasi die deutschen Stereotype verkörpere. Das sehe ich natürlich anders”, sagt Karsten mit einem vielsagenden Lächeln im Gesicht. 

Die Deutschen und die südosteuropäische Region 

Was verbindet die Deutschen eigentlich mit Südosteuropa? Eigentlich hatte die Region schon immer eine gewissen Bedeutung für deutsche Auswanderer – denn Deutschland und Südosteuropa teilten durch die Kriegsjahrhunderte hindurch eine gemeinsame Geschichte. Vor allem im 19. Jahrhundert flohen viele der sogenannten Volksdeutschen aufgrund der repressiven NS-Politik und später auch infolge des Krieges nach Ost- und Südosteuropa. Nach dem Krieg wurden sie jedoch aus politischen Gründen aus diesen Gebieten vertrieben. Die deutsche Geschichte war zu diesem Zeitpunkt also von Zwangsmigration geprägt. 

Der bayerische Heimatforscher und Landeshistoriker Adrian Roßner beschreibt die deutschen Auswanderer im 19. und 20. Jahrhundert folgendermaßen:  

„Die Lebensphilosophie der Auswanderer war einerseits geprägt von einer tiefsitzenden Verzweiflung, andererseits aber auch von großem Mut, die angestammte Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben zu verlassen. Viele von ihnen trafen diese Entscheidung nicht alleine, sondern machten sich in ganzen Familien- oder Nachbarschaftsverbünden auf die beschwerliche Reise, um auch in der Fremde nicht komplett alleine zu sein. Niemand hat seine Heimat leichtfertig verlassen. Aus Münchberg hat sich ein beeindruckendes Dokument erhalten, in dem der Landrichter an das Bezirksamt schreibt: ‚Jugend, Gesundheit, Mut, das Bewußtsein zureichender Mittel, vielleicht die Sehnsucht nach irgendeiner Veränderung ihrer Lage tragen und begleiten den Auswandererplan‘. Es waren demnach häufig Menschen, die an einer gewissen Schwelle standen: Veränderungen im Weltsystem wirkten sich bis auf ihre ganz eigene Lebenswelt aus und forderten Entscheidungen, die in manchen Fällen zur Aufgabe all dessen führten, was sich die Familien über Generationen aufgebaut hatten.” 

Die deutschen Auswanderer waren also jung, mutig und veränderungswillig. Das mussten sie damals auch sein, denn sie flohen sehr oft vor Armut und Krieg. 

In Europa herrscht seit Ende des Balkankriegs längst kein Krieg mehr. Und trotzdem können seit einigen Jahrzehnten innerhalb vom europäischen Kontinent immer wieder steigende Fortbewegungstendenzen aufgewiesen werden. So fliehen“ manche vor den schlechten wirtschtlichen Bedinungen zu Hause, während andere die freie Wahl haben, dorthin zu gehen, wo sie sich in der einen oder anderen Hinsicht wohler fühlen würden. Das muss aber nicht unbedingt heißen, dass man seine Heimat auf immer und ewig hinter sich gelassen hat. 

Familienbindung auf Distanz — geht das? 

Wer weit weg von Zuhause wohnt, bekommt seine Familie, Freunde und Bekannten im Regelfall nur noch selten zu sehen. Den Augen fern, dem Herzen nah? Das können Karsten Renner, Constanze Waesch und ihr Mann Christian nur noch bestätigen: Interessant war, dass sich die Beziehung zu meiner Familie eigentlich vertieft hat, nachdem ich ins Ausland umgezogen war”, erklärt Karsten. Der 54-Jährige ist geschieden und lebt seit September 2020 in Varna. Dabei war unter anderem genau die Scheidung von seiner Frau der Knackpunkt, der ihn zu seiner Entscheidung brachte, Deutschland zu verlassen und sich auf die Suche nach einer neuen Heimat zu machen. 

Mit seinen Kindern steht er heute allerdings in gutem Kontakt:

Trotz der räumlichen Distanz gibt es zwischen mir und meiner Familie keine emotionale Distanz. Ich liebe sie alle und vermisse sie auch.“

Karsten Renner

Seinen Kindern hat Karsten am Beispiel seiner eigenen Eltern von früh an eine Art Weltoffenheit beigebracht. Trotz der widrigen Umstände hat er für die gute Ausbildung seiner Kinder gesorgt. Seine Tochter und sein Sohn sind beide auf eine Privatschule in Deutschland gegangen und beherrschen jeweils mindestens fünf Fremdsprachen. Seitdem er ausgewandert ist, hat Karsten seine Familie in Deutschland immer wieder besucht. Auch seine Kinder haben ihn einige Male in seiner neuen Heimat besucht. Seine Mutter denkt außerdem darüber nach, bald nach Bulgarien zu ziehen. Von emotionaler Distanz kann also nicht die Rede sein. Ganz im Gegenteil sieht man im Fall von Karsten, wie gut sich räumliche Distanz mithilfe einer äußerst ausgeprägten emotionalen Nähe zur eigenen Familie überwinden lässt. 

Gerade wenn man in einem fremden Land lebt, kann die eigene Familie als eine Art verbindendes Element zwischen einem Menschen und seiner Heimat fungieren: Meine Familie ist meine Heimat”, versichert Constanze Waesch. Für uns beide steht Familie an erster Stelle. Und mit dem Alter verändern sich natürlich die Prioritäten. Wenn man jung ist, denkt man vor allem daran, Reichtum und materiellen Besitz anzuhäufen, damit es einem dann später im Leben gut geht. In meiner Familie konnte ich allerdings beobachten, wie schnell sich das alles umgedreht hat. Denn wenn es einem auf einmal nicht mehr gut geht, dann nützt materielles Wohl nichts mehr. In diesem Sinne würde ich schon sagen, dass es für mich und Christian nichts Wichtigeres als das Wohlergehen der eigenen Familie gibt.” 

Connie und Christian würden im Gegensatz zu Kasten nicht behaupten, dass sie aus Deutschland ausgewandert sind. „Wenn wir nach Thailand umgezogen wären, dann könnten wir schon sagen, dass wir so richtig ausgewandert sind. Wenn wir aber in den Flieger einsteigen, dann sind wir in zwei Stunden wieder in Berlin. Ich musste früher zum Teil größere Strecken zurücklegen, als ich damals für meine Arbeit von Stadt zu Stadt hin- und hergefahren bin”, erklärt Connie. Als sie dann allerdings ihre Entscheidung mit der Familie teilte, für eine Weile nach Bulgarien zu ziehen, stieß sie nicht gleich auf Zustimmung: „Alle Familienmitglieder außer meiner Mutter haben uns damals den Vogel gezeigt. Mittlerweile ist es aber so, dass der, der am meisten geschimpft hat, regelmäßig hierher kommt und mit dem Enkelkind Urlaub macht.” 

Heimat bleibt nun mal Heimat 

Wie empfinden Menschen, die ins Ausland gezogen sind, die emotionale Nähe zu ihrer Heimat? Hier gilt wie bei fast allem anderen: Es gibt solche und solche Menschen. Karsten Renner bezeichnet sich selber als ein Aussteiger aus der deutschen Gesellschaft”. Er identifiziert sich nicht gerne mit der Gesellschaft und dem politischen System Zuhause. Seine Heimat hat er nun verlassen – aber noch lange nicht vergessen. Den Ort, an dem man geboren wurde, vergisst man in Wirklichkeit nicht so leicht, denn er ist meist an bestimmten Erinnerungen und Menschen gebunden. Heimat ist für mich keine bestimmte Stadt, keine Gegend und auch kein Land. Das liegt wahrscheinlich daran, dass das Land, in dem ich geboren wurde – die DDR – abgeschafft wurde”, bemerkt er lächelnd und mit einer Prise Selbstironie. Für mich bedeutet Heimat in erster Linie Familie”, versichert Karsten. 

Im Gegensatz zu Karsten fassen Connie und ihr Mann Christian den Begriff „Heimat” etwas weiter: Heimat ist da, wo man sich wohlfühlt. In Bulgarien ist es wunderschön und wir könnten schon sagen, dass es für uns eine Art zweite Heimat geworden ist. Immerhin: Deutschland ist und bleibt unsere Heimat. Wir sind nicht aus unserer Heimat geflohen. Es hat sich einfach eine Chance für uns ergeben, etwas Neues auszuprobieren und diese haben wir auch wahrgenommen. Deutschland tragen wir selbst hier im Ausland in unseren Herzen”, sagt Connie. Wir werden natürlich immer Berliner bleiben. Wir sind da geboren und der Alexanderplatz wird immer unsere Heimat bleiben, ob wir das wollen oder nicht”, versichert Christian. Einiges hat er jedoch in diesem Sinne zu bemängeln: Es gibt Deutsche, die wissen nicht mal, wo das eine oder andere weltweit bekannte Denkmal in der eigenen Heimat liegt”. Er plädiert dafür, das eigene Land wiederzuentdecken, bevor man sich auf den wichtigen Schritt einlässt, ins Ausland zu ziehen. 

Was Karsten, Connie und Christian verbindet, ist nicht zuletzt die Liebe zur eigenen Heimat. Ihre (alte) Heimat Deutschland lieben sie zutiefst. Und trotzdem (oder besser gesagt: und genau deswegen) wollen sie ihr ihre Kritik nicht vorenthalten. Ob wir uns vorstellen können, zurück nach Deutschland zu gehen? Im Hier und Jetzt eindeutig nicht”, gibt Connie zu wissen. Es müsse sich vieles ändern, damit sie und ihr Ehemann Christian den Schritt zurück in die Heimat wagen würden. Das deutsche Rentensystem ist einer der Punkte, die hier zunehmend in die Kritik geraten: „Ich und mein Mann werden dieses Jahr sechzig. Das Thema Rente ist in Deutschland so weit nach hinten gerutscht, dass wir vielleicht gar keine Rente mehr kriegen werden. Oder im besten Fall erst dann, wenn wir schon 70 sind. Aber wir haben vorgesorgt und sorgen weiter vor”, erklärt Connie. Der Anteil der im Rentenalter erwerbstätigen Menschen in Deutschland hat sich in den letzten 10 Jahren verdoppelt. Heutzutage wird außerdem darüber diskutiert, das Renteneintrittsalter weiter nach hinten zu verschieben. Derzeit liegt es bei 67 Jahren. 

So gibt es derzeit viele, die sich nach Renteneintritt für einen Umzug in osteuropäische Länder wie Bulgarien entscheiden. Denn dort sind die Lebenshaltungs- und Mietkosten in der Regel viel niedriger als im eigenen Land. Damit geht aber nicht selten ein deutlich niedrigerer Lebensstandard einher als in anderen europäischen Ländern: „Es ist natürlich am sinnvollsten, in Deutschland sein Geld zu verdienen und dieses dann hier auszugeben, denn für sein Geld kriegt man in Bulgarien meist viel mehr als in Deutschland”, erklärt Karsten. 

Menschen, die sich als Aussteiger aus der Gesellschaft” bezeichnen und ihr eigenes Land verlassen, weil sie mit bestimmten Gegebenheiten in diesem nicht zufrieden sind, gibt es übrigens nicht seit gestern:

Augustus Engelhardt – der „Ritter der Kokosnuss“

August Engelhardt zog im Jahre 1902 in das damalige deutsche Kolonialgebiet Deutsch-Neuguinea. Dort hat er den „Sonnenorden – Aequatoriale Siedlungsgemeinschaft“ gegründet: eine Lebensphilosophie, die mit der Zeit zunehmend religiöse Züge annahm. Die Freikörperkultur, die zu den wichtigsten Grundsätzen des Sonnenordens gehörte, galt zu seiner Zeit als rechtswidrig in Europa – das brachte ihn buchstäblich „auf die Palme”. Seine philosophische Lehre beruhte auf der Annahme, die Kokosnuss sei die vollkommenste Nahrung für den Menschen, da sie der Sonne, also der Quelle allen Lebens, am nächsten wächst. Wer sich also ausschließlich von Kokosnüssen ernährte, sollte einen göttlichen Zustand der Unsterblichkeit erreichen. Der Ritter der Kokosnuss galt in seiner neuen Heimat Deutsch-Neuginea bis zum Ende seines Lebens als eine echte Legende.

Ein deutsches Leben in Bulgarien 

Ein Leben außerhalb der Heimat stellen sich viele Menschen als unbequem vor. In der eigenen Heimat kennt sich der Mensch aus – er ist mit den Bräuchen und Sitten des Landes vertraut und weiß, wie die Dinge laufen. In einem fremden Land hingegen muss sich einer erst einleben und vieles neu lernen – wie die Menschen vor Ort denken, wie sie leben und was sie bewegt. Der Alltag als Ausländer in einem fremden Land hat allerdings nicht nur Nachteile, sondern bringt auch einige Vorteile mit sich: „In Bulgarien ist das Leben entspannter. Die Menschen gehen hier sorgsam miteinander um und zögern nicht lange, bevor sie einem nahekommen”, meint Connie. Derselben Meinung ist auch Karsten: „Ich finde schon, dass die Bulgaren um einiges offener und herzlicher sind als wir Deutsche. Sie haben keine Angst, sich selbst und ihre eigenen Gefühle zu offenbaren und auch mal aus dem Herzen zu sprechen. Mit ihnen kann man meist leicht ins Gespräch kommen. Und hilfsbereit sind sie auch.“ Auf die Hilfe der Einheimischen ist man als Ausländer in einem fremden Land zumindest am Anfang natürlich angewiesen. „Mit Englisch kommt man hier meist gut zurecht. Im Notfall verständigt man sich ja mit Händen und Füßen. Selbst aus weniger angenehmen Situationen kann man mit Lächeln und Nicken rauskommen”, erklärt Connie. Und wenn es dann doch um wichtige Angelegenheiten wie Behördengänge und rechtliche Fragen geht, stehen Einheimische, die gut Deutsch sprechen können, mit Rat und Tat bereit. Manche haben daraus sogar ein Geschäftsmodell gemacht.  

In der Regel stehen deutsche Auswanderer aber vor allem zu Beginn vor solchen formalen Problemen. Im Alltag geht es normalerweise lockerer zu: Seitdem ich hier in Bulgarien lebe, ist mein Alltag wieder ausgewogener geworden. Früher war ich immer tief in meine Arbeit versunken. Am Anfang, als ich begonnen habe, meine Firma aufzubauen, gab es sogar eine Periode von gut 10 Jahren, in denen ich nicht mehr als 4 Stunden die Nacht geschlafen und 7 Tage die Woche gearbeitet habe. Das hat sich jetzt geändert”, versichert Karsten. In seiner neuen Heimat hat er die Balance zwischen privatem und beruflichem Leben wiederentdeckt. „Tagsüber arbeite ich am Aufbau meiner Firma. Ich erledige alles, was auf meinem Tagesplan steht und am späten Nachmittag habe ich dann Zeit, mein Leben zu genießen und mich mit Freunden und Bekannten zu treffen. Ich fühle mich hier einfach entspannt. Auf einmal habe ich für viele persönliche Sachen Zeit, die ich früher aufgrund meiner Arbeit mehr oder weniger absichtlich ignoriert habe.”

„Man muss sich im Leben ein bisschen umschauen und sich vor allem auch immer fragen: Was gibt es sonst so auf der Welt“ / Persönliches Fotoarchiv von Karsten Renner

Willst du mehr über das Leben von Karsten, Connie und Christian in Bulgarien erfahren und herausfinden, welche Erfahrungen sie dort gemacht haben? Dann höre gerne unseren Podcast zum Thema „Flucht von Zuhause” an.

Wenn dich die Gegenseite interessiert, genau genommen, wie es ausländischen Studierenden in Deutschland während der Corona-Krise erging? Dann lies gerne den Artikel von Katharina Waxenegger

Quellen:

  • https://sofia.diplo.de/blob/1460018/f4b17cfd14ee86cc0b6ed1a446038230/datenblatt-bulgarien-data.pdf 
  • https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1100739/umfrage/entwicklung-der-taeglichen-fallzahl-des-coronavirus-in-deutschland/
  • http://library.fes.de/pdf-files/id/gewerkschaftsmonitore/16047/2021-bulgarien.pdf
  • https://www.bulgarien-franz.de/2017/04/14/deutsche-in-bulgarien-finden/
  • https://www.bpb.de/izpb/298553/historischer-kontext-deutsche-in-und-aus-osteuropa?p=all
  • https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/06/PD21_N041_12.html
  • https://www.spiegel.de/geschichte/aussteiger-august-engelhardt-der-herr-der-kokosnuesse-a-1195030.html

Das Leben im Ausland hat mich schon immer fasziniert. Seitdem ich 18 bin lebe ich selbst im Ausland - nun darf ich Deutschland meine zweite Heimat nennen. Nach dem Master geht es für mich dann hoffentlich nach Amerika, wo ich seit jeher leben wollte. Durch die Interviews, die ich für mein journalistisches Abschlussprojekt durchgeführt habe, konnte ich erfahren, wie es sich in verschiedenen Lebensabschnitten tatsächlich anfühlt, weit weg von der Heimat zu leben. Das war für mich nicht nur in beruflicher, sonders auch in persönlicher Hinsicht eine besonders wertvolle Erfahrung.

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