„So hatten wir mehrere Anteile, die den Alltag gemeistert haben. Anteile, die dramatische Situationen erlebt haben, waren ziemlich weit weg gespalten. Manchmal sind sie aufgetaucht, bei Flashbacks, in Situationen, wo ein Trigger war. Und sie waren immer spürbar, als Form von Angst, von Panik, von Entsetzen – im Hintergrund.“
ZoeName geändert wuchs in der DDR auf. Immer mit dem Spruch: „Wer nicht artig ist, kommt ins Heim und wer verrückt ist, kommt in die Anstalt.“ Damals, bevor 1989 die Mauer fiel. Sie wurde in einem System groß, das auf Gemeinsamkeit aus war – ein System, das dem Individualismus, wie er sich in den 60ern stark im Westen entwickelte, entgegenstand. In der DDR war Zoe immer in Gemeinschaft. Dort musste sie sich anpassen. Auf keinen Fall auffallen. Wehe, man sagte etwas Falsches. Wehe, man verhielt sich seltsam.
Anstelle des Begriffs Dissoziative Identitätsstörung verwenden einige lieber die Bezeichnung Dissoziative Identitätsstruktur. So auch Zoe, da DIS für sie in erster Linie ein Überlebensmechanismus und auch Alltag war.
„In der DDR wussten wir alle, Heim ist nicht gut und die Psychiatrien waren auch furchtbare Orte. Ich musste immer aufpassen, nicht aufzufallen, mich regelkonform zu verhalten.“ Wenn sie erzählt, klingt Zoe unaufgeregt, ruhig und doch sehr kraftvoll. Kein wildes Gestikulieren, keine nervösen Versprecher. Manchmal gerät sie in einen Redefluss, manchmal stockt sie und überlegt, wie sie alles in Worte fassen kann. Zoe ist eine unauffällige, warmherzig wirkende Frau, die einem sofort den Eindruck von Vertrautheit vermittelt.
Von Kindheit an wusste Zoe, dass sie sich von anderen unterscheidet. Benennen konnte sie ihren Zustand damals nicht – heute weiß sie, dass dies Dissoziative Identitätsstruktur (DIS) oder „Viele-Sein“Menschen mit DIS reden meist von sich in der WIR-Form. heißt.
Die Entstehung von DIS
Wenn Kinder Gewalt ausgesetzt sind, tragen sie ihr ganzes Leben lang Spuren davon. Spuren, entstanden durch sexuelle, rituelle oder anderweitige Übergriffe, ausgeübt von Fremden, Bekannten oder den nächsten Bezugspersonen – von Menschen, die sie eigentlich vor derartigen Situationen schützen sollten. Da Kinder noch nicht in der Lage sind, sich zu wehren, aktiviert das Gehirn einen Schutzmechanismus, um die Gefahrensituation zu überleben: Bezeichnet wird dieser Mechanismus als Dissoziation, die Flucht vor dem Erlebten – ins eigene Innere.
Sie ist in erster Linie eine natürliche Abwehrfunktion des Menschen, um sich zu schützen. Zum Beispiel in Schocksituationen, in denen eine Person funktionieren muss, das Handeln wie in Trance erfolgt und der Schmerz erst dann wieder wahrgenommen wird, wenn sie zurück zu sich selbst kehrt. Manchmal ist eine Gewaltsituation so schlimm, dass die Erinnerung daran nicht ertragbar ist, so wie bei Zoe. Um sie zu schützen, führte es bei ihr zu einer Aufspaltung des Selbst in verschiedene Persönlichkeitsanteile. In der Fachliteratur wird dies als Dissoziative Identitätsstruktur oder -störung bezeichnet, früher betitelt als multiple Persönlichkeitsstörung (MPS).
Gewalt wie Zoe sie erlebt hat, erfahren viele Kinder.
Die Dissoziation geschieht unbewusst und ist nicht willentlich steuerbar.
„Für mich war es eine Möglichkeit, eine Situation oder fortgesetzte Situationen zu überleben, die sonst nicht aushaltbar wären, nicht überlebt werden können. Situationen, die die Bewältigungsmöglichkeiten des Menschen übersteigen. In solchen Situationen hat man drei Möglichkeiten: Kämpfen, flüchten oder erstarren. Für kleine Kinder gibt es oft nur die Möglichkeit der Flucht nach innen, der Dissoziation“, erklärt Zoe.
Bei ihr entstanden um die 30 Persönlichkeiten. Sieben davon meisterten im Vordergrund den Alltag. Die stark traumatisierten Anteile blieben meist im Hintergrund. Einige waren im Kleinkindalter stehen geblieben, also in dem Alter, in dem sie schwerste Gewalt erlebt hatten. Wenn sie durch etwas getriggert wurden, was an die damalige Gewaltsituation erinnerte, etwa ein Geruch, ein Satz oder ein Geräusch, „dann saß der Körper irgendwo heulend in der Ecke, ganz panisch und verzweifelt, im Zustand eines kleinen, zum Beispiel dreijährigen Kindes“, erzählt Zoe. „Denn dieses Entsetzen von der erlebten Gewaltsituation ist nicht verarbeitet worden. Für diesen kindlichen Anteil fühlt es sich genauso an, als würde es im Hier und Jetzt nochmal passieren.“
Bis zur Integration im Jahr 2005 steht Zoe ständig unter Stress: Da ist die Angst vor Triggern und unkontrolliertem Wechseln der Anteile. Aber auch der Alltag gestaltet sich anstrengend, denn die Alltagsanteile besitzen nicht nur unterschiedliche Fähigkeiten, sondern auch verschiedene Ansichten und Vorlieben. Ein Anteil will sich diese Frisur schneiden lassen, ein Anteil eine andere. Dennoch gelang es Zoe, den Alltag zu bewältigen.
„Vielleicht auch, weil es eben getrennte Lebensbereiche gab. Das war schon so, wenn man die Schule betritt. Da tauchte ein bestimmter Anteil auf, der in der Regel diese Schulzeit auch ganz gut geschafft hat“, erzählt Zoe. Schwieriger war es, auf ihr gesamtes Können immer und jederzeit zuzugreifen. „Zum Beispiel hat den Sprachunterricht jemand anderes gemacht als den Staatsbürgerkundeunterricht. Das führte dazu, dass der eine Anteil keine Sprachen sprechen konnte – er wäre nicht in der Lage gewesen, etwas auf Russisch wiederzugeben, während das ein anderer Anteil gekonnt hätte.“
Um nicht aufzufallen und durch den Alltag zu kommen, muss Zoe Triggersituationen vermeiden, klare Strukturen bilden. Das geregelte Leben in der DDR war dafür perfekt geeignet. „Das, was mich bisher funktionieren hat lassen, also diese äußeren Strukturen, die haben dann zu meinen inneren Strukturen gepasst, das hat gegenseitig funktioniert.“ Eine äußere Ordnung bedeutete gleichzeitig auch eine innere Ordnung. Bis die Mauer fiel und die äußeren Strukturen zusammenbrachen. Da war Zoe 23. „Mein Beruf war nichts mehr wert, alles was wir bis dahin gelernt hatten, also wie man Formulare ausfüllt, wie die Welt funktioniert, das Gesellschaftssystem funktioniert, alles hat sich geändert und das hat bei uns ebenfalls zu einem Zusammenbruch geführt.“
In einem Moment des Zusammenbruchs verlieren die Anteile die Kontrolle darüber, welche Persönlichkeit im Vordergrund stehen. „Es tauchten auch immer mal traumatisierte Anteile auf, die uns wirklich sehr viel Angst gemacht haben.“ Zwei Jahre nach dem Mauerfall hält Zoe es nicht mehr aus, die Symptome sind zu diesem Zeitpunkt so stark, dass sie sich auf die Suche nach professioneller Hilfe macht. „Ich bin dann weit weg und habe über mehrere Monate in der Natur gelebt, dort gearbeitet, weit weg von allem.
Die Symptome einer Dissoziativen Identitätstruktur unterscheiden sich von Mensch zu Mensch – sie ist somit nicht leicht zu diagnostizieren.
Das Problem mit der Messbarkeit der dissoziativen Identitätsstörung liegt im Symptomprofil selbst. So schreibt das Ärzteblatt: „Das Symptomprofil ist häufig diskret, wird durch komorbidegleichzeitig unter anderen Erkrankungen leidend Störungen überdeckt und muss aktiv erfragt werden.“ Wie bei jeder anderen psychischen Krankheit auch spielt bei der Diagnostik die Selbstbeschreibung der betroffenen Person eine enorme Rolle, die Symptome müssen unter anderem erfragt werden und können nicht einfach wie bei einem gebrochenen Fuß geröntgt und so diagnostiziert werden.