Kultur

Kunst im Blut und Blut in der Kunst

Blutige Transfusionsbeutel auf einer Leinwand, gehärtetes Schweineblut in Form eines Bestecks, Porträts aus Menstruationsblut. Unterschiedlicher können Kunstformen aus dem Material Blut kaum sein. Trotzdem haben die drei Künstlerinnen Nurhan Sidal, Paulina Heinz und Susanne Schulz etwas gemein – ihre Faszination für den roten Lebenssaft Blut.

Porträts aus Menstruationsblut

Konzentriert beugt sich Susanne Schulz über ein weißes Blatt Papier, den Pinsel in der Hand. Vor ihr das Foto einer Frau in Großformat. Eingehend betrachtet sie das Porträt der Frau, ihr Lächeln, ihre Augen, die kleinen Fältchen um den Mund. Auf dem Tisch steht ein filigranes Gläschen mit Goldrand und dunkelroter Flüssigkeit. Andächtig taucht sie den Pinsel in das Gefäß und streicht die rote Farbe in fließenden Bewegungen auf das Papier. Sie blendet alles um sich herum aus. Für diesen Moment gibt es nur das Bild dieser Frau, ihren Pinsel und die blutrote Farbe.

„Seitdem ich 15 Jahre alt bin, male ich Porträts. Ich interessiere mich einfach für Menschen und male sie gerne.“

Die 40-jährige Künstlerin aus Berlin sah man schon als Kind nur mit ihrem Zeichenblock und Stift. Sie porträtierte jedes Familienmitglied, alle Freunde und Bekannte. „Jeder bekam ein Bild von sich zu Weihnachten geschenkt – ob er wollte oder nicht”, erzählt die Künstlerin lachend. Auch heute noch malt Susanne Schulz leidenschaftlich gerne Menschen und übt seit zwei Jahren eine ganz besondere Form der Porträtkunst aus. Sie bildet Frauen mit deren eigenem Menstruationsblut ab. Inspiriert dazu wurde sie von der Schweizer Künstlerin Nicoletta Buri, die auf Facebook ein Video teilte, in welchem sie mit ihrem eigenen, frischen Menstruationsblut malte. „Sie hat das Blut direkt von ihrem Körper genommen und auf die Leinwand gebracht. Das hat mich ein bisschen schockiert, aber irgendwie fand ich es auch total spannend“, erzählt Susanne Schulz. Nach dieser ersten Begegnung mit Blutkunst kaufte sie sich eine Menstruationstasse, um ihr Blut aufzufangen und begann sich mehr mit ihrem Menstruationsblut zu befassen. „Wie sieht es aus? Wie fühlt es sich an?”, fragte sie sich.

Kunstfotografien des Menstruationsblutes von Susanne Schulz.

„Und dann dachte ich mir: Ich male ja Porträts. Ich male mich einfach mal mit meinem eigenen Blut“, erzählt Susanne Schulz. Ihr erstes Blutbild entstand also eher aus einem Impuls heraus und lange Blut sammeln musste sie dafür auch nicht. “Ungefähr zehn Milliliter reichen aus, um ein ganzes Porträt zu malen”, sagt sie. Eine Frau verliert während ihrer Regelblutung normalerweise 30 bis 80 Milliliter Blut, je nachdem wie stark ihre Blutung ist. Die Künstlerin nahm ihr eigenes Menstruationsblut, malte ihre Augen und war fasziniert davon.

Das erste Blutbild von Susanne Schulz: ihre eigenen Augen.

„Meine Augen mit meinem frischroten Blut zu sehen, war einfach wahnsinnig berührend für mich. Es ist, als würde ich mein inneres und gleichzeitig mein äußeres Ich abbilden.“

Die Erfahrung, sich selbst mit seinem eigenen Blut zu sehen, möchte Susanne Schulz auch anderen Frauen ermöglichen und bietet ihnen deshalb an, sie mit ihrem eigenen Blut zu porträtieren. Sie nennt diese Kunstwerke „Porträts der Weiblichkeit“.

Menstruationskünstlerin Susanne Schulz über die Entstehung ihrer Blutporträts.

Es kommen ganz unterschiedliche Frauen zu ihr, um sich porträtieren zu lassen. „Es sind Frauen allen Alters dabei. Frauen Mitte 20, aber auch Frauen mit Anfang 50. Die einen sind schon sehr vertraut im Umgang mit ihrem Menstruationsblut und ihrem Körper- und Zyklusbewusstsein, andere haben sich darüber jedoch noch kaum Gedanken gemacht und benutzen auch noch keine Menstruationstassen“, sagt Susanne Schulz. Trotzdem ist es nur ein kleiner Kreis von Menschen, den sie mit ihren Blutporträts anspricht. Ihr Ziel sei es nicht, dass alle Frauen zu ihr kommen, um sich ein Blutporträt malen zu lassen. „Ich möchte eine Inspiration dafür sein, sich dem Blut an sich mehr zu widmen und die Angst, die Scheu und den Ekel davor zu verlieren.

Abstrakte Kunst aus Eigenblut

Mit dem Menstruationsblut anderer Menschen zu malen, käme für die 68-jährige Künstlerin Nurhan Sidal nicht in Frage. „Ich kenne Arbeiten anderer Künstler, die mit Menstruationsblut oder anderem Blut malen. Aber das ist nicht mein Bereich. Meine Blutkunst ist eine ganz andere Geschichte“, sagt sie. Nurhan Sidal leidet an einer chronischen Knochenmarkerkrankung, ihr Körper kann keine roten Blutkörperchen mehr produzieren.

„Wenn ich zur regelmäßigen Blutkontrolle in die Klinik gehe und mir Blut abgenommen wird, nehme ich immer eine Tube eigenes Blut mit nach Hause.“

Sie bezeichnet die Klinik humorvoll als „Tankstelle“, bei der sie statt Benzin frisches Blut „auftankt“. Dies tut sie in zweifacher Hinsicht. Einerseits bekommt sie Transfusionen und andererseits erhält sie ihr eigenes Blut als Material für ihre Kunst.

Nurhan Sidal über ihre Abhängigkeit von Fremdblut und wie sich diese auf ihre Kunst auswirkt.

Neben ihrem eigenen Blut verwendet sie auch leere Transfusionsbeutel für Installationen und Collagen. Die Blutbeutel bezeichnet Nurhan Sidal als „Spur dieser anderen, fremden Menschen“. Sie begegnet ihren Spendern in ihrer Kunst – in Form ihres Blutes. „Das sind Situationen, in denen ich mein Blut nehme und es einfach auf die Leinwand schmeiße und gucke was passiert“, sagt Nurhan Sidal. Sie hat mit ihrer Kunst einen Weg gefunden, um mit ihren Krankheitserfahrungen und den damit einhergehenden Transfusionen zurecht zu kommen und das Blut fremder Menschen anzunehmen.

Acrylkunstwerk von Nurhan Sidal mit dem Titel „Leben ist sterben – sterben ist leben“.

Nurhan Sidal thematisiert in ihrer Blutkunst allerdings nicht nur ihre Krankheit. Wenn es zum Thema passt, verwendet sie ihr Blut auch gerne für gesellschaftskritische Werke. Zuhause in ihrem Atelier in Bad Säckingen oder in ihrem Zweitwohnsitz im italienischen Maccagno am Lago Maggiore entstehen abstrakte Kunstwerke aus Acryl und Eigenblut zu politischen Themen und Umweltfragen. “Blut ist essentiell für die ganze Welt und kann für die Darstellung vieler Themen verwendet werden”, sagt die Künstlerin.

Blutiges Besteck

Gesellschaftskritische Themen spricht auch die 23-jährige Paulina Heinz in ihrer Blutkunst an. Die Studentin für Produkt- und Prozessgestaltung an der Universität der Künste in Berlin (UdK) steht noch ganz am Anfang ihrer künstlerischen Karriere. Sie arbeitete letztes Semester im Rahmen eines Seminars über Alchemie zum ersten Mal mit dem Material Blut. „Ziel des Seminars war es, aus wertlosen Materialien etwas Wertvolles künstlerisch aufzubereiten“, sagt sie. Nach dem Vorbild des französischen Materials „Bois Durci“ aus dem 20. Jahrhundert fertigte Paulina Heinz ihr individuelles Designobjekt aus Schweineblut und feinen Sägespänen.

Bois Durci (gehärtetes Holz) ist ein natürlicher Kunststoff aus getrocknetem Rinderblut und Sägemehl. Als einer der ältesten Biokunststoffe wurde es bis ins 20. Jahrhundert zur Herstellung von luxuriösen Gebrauchsgegenständen verwendet.

„In meiner Arbeit habe ich versucht, das Blut wieder in den Fokus zu rücken. Als  ein Material, mit dem man eigentlich nie arbeitet.“

In dem alten Material „Bois Durci“ diente Blut lediglich als Bindemittel und wurde nur in geringen Mengen verwendet. Paulina Heinz verwendete für ihr neues Material mehr Blutpulver und kein Rinder-, sondern Schweineblut. Sie nannte es „San Durci“, angelehnt an das alte Material „Bois Durci“. Das Blutpulver mischte sie mit fein gesiebtem Holzstaub und etwas Wasser zu einer dickflüssigen Masse und ließ es im Ofen zu einem Block trocknen. Als das Material getrocknet war, schliff und feilte sie es in die Form eines Besteck-Sets.

Paulina Schulz erklärt, warum sie die Form eines Bestecks für ihr Kunstobjekt gewählt hat.

Warum ausgerechnet Blutkunst?

Die Studentin Paulina Heinz kritisiert mit ihrem blutigen Kunstobjekt den Fleischkonsum in unserer heutigen Gesellschaft. Durch die Verwendung von echtem Blut, wollte sie eine möglichst starke Reaktion der Betrachter hervorrufen und provozieren. „Blut ist eine Substanz, auf die jeder mit irgendeinem Gefühl reagiert. Es gibt niemanden, der nicht irgendeine emotionale Reaktion darauf hat“, sagt sie. Das bestätigte sich auch, als das Blutprojekt an ihrer Universität ausgestellt wurde. „Manche waren begeistert, andere eher skeptisch und wieder andere fanden es richtig eklig und haben den Sinn nicht verstanden“, erzählt Paulina Schulz. „Blut wird eben auch in unserer Gesellschaft oft nur mit Ekel oder Schmerz verbunden.“

Die Menstruationskünstlerin Susanne Schulz kann dem nur zustimmen: „Blut wird eigentlich immer mit Verletzungen assoziiert. Wir können es ja nur sehen, wenn es irgendwo einen Unfall gab und es wahrscheinlich jemandem schlecht geht.“ Aufgrund dieser Assoziationen finden viele Menschen auch Menstruationsblut eklig. Menstruationsblut hat für Susanne Schulz eine ganz andere Bedeutung als Tierblut. Als überzeugte Veganerin kann sie sich nicht vorstellen mit Tierblut zu malen. „Da wird mir irgendwie ganz bang“, sagt sie. „Ich spüre bei dem Gedanken daran Emotionen in mir, die mir signalisieren, dass ich das nicht möchte.“ Sie malt mit ihrem Blut und dem Blut anderer Frauen, um auf das Tabuthema Menstruation aufmerksam zu machen. „Ich möchte, dass Frauen und auch Männer davon Wind bekommen, anfangen sich mit dem Thema Menstruation zu beschäftigen und genauer auf ihren Körper hören.“ Den einzelnen Frauen möchte sie mit ihren Blutbildern eine neue Sichtweise auf sich selbst und ihre Weiblichkeit geben. 

Selbstporträt von Susanne Schulz mit ihrem eigenen Menstruationsblut.

„Es ist schön, Blut auf eine andere Art und Weise sichtbar zu machen. Und nicht einfach nur als Klecks, sondern etwas Schönes, kreiert aus Blut.“

Etwas Ästhetisches aus Blut zu kreieren, war auch das Ziel der UdK-Studentin Paulina Heinz. Trotzdem sieht sie in ihrem designten Besteck aus Schweineblut auch eine Funktionalität. „Ich glaube, man kann sogar damit essen. Es wäre dann allerdings so, dass sich dabei immer etwas abtragen würde“, sagt sie. Bei jedem Essen würde ein bisschen etwas verloren gehen vom Material, bis irgendwann nichts mehr da wäre. „Das ist eine ganz neue Form des Bestecks. Ein Besteck, das zum Essritual dazugehört und nicht abgetrennt vom Essen gesehen wird“, erklärt die 23-jährige Studentin. Für die Zukunft kann sie sich vorstellen, das Ganze weiterzudenken und funktionale Gegenstände aus gehärtetem Blut zu gestalten. „Ich finde, Blut ist ein sehr großes Thema und wird dafür viel zu wenig verwendet – vor allem im Produktdesign. Es muss ja nicht immer in dieser übertragenen künstlerischen Rolle sein, wie in diesem Projekt. Es könnte auch einfach nur ein Rohstoff sein, den wir benutzen.“  

Das neue Material „San Durci“ aus Schweineblut und gesiebtem Holzstaub in Form eines Besteck-Sets.

In der Kunst ist Blut nicht einfach nur ein Rohstoff. Der symbolische Charakter des Materials spielt in den Kunstwerken fast immer eine bedeutende Rolle. So auch für die Künstlerin Nurhan Sidal: „Blut ist für mich ein ganz besonderes Material. Es ist ein lebendiges Material und Träger meines Ichs.“ Auch diejenigen, die ihre Blutbilder kaufen, entscheiden sich ganz bewusst für ein Kunstwerk mit ihrem Blut.

„Sie freuen sich, dass ich mit meinem Blut und meiner Seele in ihren Bildern auftauche. Sie wissen dann, dass sie einen Teil von mir immer bei sich haben.“

Blut bedeutet Leben

Nurhan Sidal, Paulina Heinz und Susanne Schulz haben auf unterschiedliche Art und Weise zur Blutkunst gefunden. Sie verwenden verschiedene Blutarten, individuelle Mal- und Gestaltungstechniken und verfolgen unterschiedliche Ziele mit ihrer Kunst. In einem sind sie sich jedoch einig: Blut ist das Symbol des Lebens und deshalb so faszinierend. „Für mich steht Blut weniger für Tod, Abgestorbenheit und Ekel, sondern viel mehr für Lebendigkeit und Energie“, sagt Paulina Schulz. Auch für Nurhan Sidal ist die rote Körperflüssigkeit ein Lebenssaft. „Ohne Blut gibt es kein Leben. Blut ist das Leben in sich“, philosophiert sie. Susanne Schulz ist fasziniert davon, dass sich ihre DNA und eigentlich fast alle Informationen über ihren Körper in ihrem Blut wiederfinden. „Alle meine Daten, alles was mich ausmacht, steckt in meinem Blut“, sagt sie. „Das Blut, das durch mich fließt, hat total viel gemeinsam mit mir als lebendiges Wesen. Das ist ganz nah dran an mir – näher dran geht gar nicht.“


Faszination Blut in der Kunst

Auch dem Kunstwissenschaftler Friedrich Weltzien geht die rote Flüssigkeit sehr nahe. Ihm wird schummrig, wenn er Blut sieht. „Auf mich hat es einen Effekt, wenn ich Blut sehe und deshalb finde ich es auch so faszinierend“, erzählt er. „Ich kann Blutkunst nicht abstrakt betrachten, sondern das macht was mit mir.“ Friedrich Weltzien kennt sich aus mit Körperflüssigkeiten wie Blut. Er ist Kunsthistoriker und Flecken-Spezialist. Im Podcast philosophiert er über die Faszination der Blutkunst und berichtet von seinen ganz persönlichen blutigen Kunsterfahrungen.

Blutige Schuhe und eine kannibalische Hexe

Eine abgeschnittene Ferse, eine blutige Spindel und eine alte Frau, die Kinder in ihr Haus lockt, um sie zu verspeisen. Wie viel Blut und Gewalt steckt in den traditionellen Märchen der Brüder Grimm?

Eine Mutter bittet ihre Tochter darum, sich die Ferse abzuschneiden, damit ihr Fuß in einen zu engen Schuh passt, ein armes Mädchen, das so lange spinnen muss bis seine Finger blutig sind und eine böse Hexe, die zwei Kinder in ihr Haus lockt, um sie im Ofen zu braten und zu essen. Aschenputtel, Frau Holle und Hänsel und Gretel sind drei Klassiker der Brüder Grimm, die heute noch bekannt sind. Die oben zitierten Textpassagen stammen aus der ersten Auflage der Kinder- und Hausmärchen von 1812.

Es geht nur um Horror

„Es geht nur um Horror und diesem Horror möchte ich ein Ende setzen – zum Schutz der Kinder“, sagt der blonde Mann mit energischer Stimme. Dieter Fleischhauer bezeichnet Märchen wie Rotkäppchen und Aschenputtel als sogenannte ´Gewalt-Märchen´.

Dieter Fleischhauer mit seinem Märchenbuch "Tommis Erlebnisse im Märchenland".
Dieter Fleischhauer hält lächelnd sein Märchenbuch Tommis Erlebnisse im
Märchenland in den Händen.
Foto: Privat.

Er wurde 1961 in München geboren und hatte dort, wie er erzählt, eine behütete Kindheit. Seine Eltern haben ihm und seinen drei Geschwistern frei erfundene Märchen erzählt. Im Kindergarten wurde er unter anderem mit traditionellen Märchen der Brüder Grimm konfrontiert. Nachts habe er die Szenen aus den Märchen vor sich gesehen und Angst gehabt allein in seinem Kinderzimmer zu schlafen, er habe Albträume bekommen und deshalb bei seinen Eltern im Bett geschlafen. Gemeinsam mit seiner Frau Doris, die 2007 verstarb, setzt sich Dieter Fleischhauer seit 1995 zum Kinderschutz gegen ´Gewalt-Märchen´ ein: “Die Märchenwelt ist nicht der Ort, wo Kinder ihre Ängste erleben sollen”. 

Liebe zu Literatur und Märchen

„Ich finde nicht, dass Märchen grausam oder gewaltsam sind“, sagt der ältere Mann mit kratziger Stimme, „ich habe meine Liebe zur Literatur und zu den Märchen entdeckt”. Hans-Jörg Uther, Literaturwissenschaftler und Erzählforscher, ist fasziniert von Märchen und hat sein berufliches Leben unter anderem dem Werk der Brüder Grimm gewidmet. Die wichtigsten Ereignisse zur Geschichte der Kinder- und Hausmärchen sind im Zeitstrahl dargestellt.

Prof. Dr. Hans-Jörg Uther ist ein Experte für die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm.
Foto: Braun, Stuttgart.

Hans-Jörg Uther wurde 1944 in Herzberg am Harz geboren und habe sich bereits in seiner Kindheit für Märchen interessiert und stapelweise Bücher gelesen. Eigentlich wollte er Gymnasiallehrer werden, doch daraus wurde nichts. Während seines Studiums der Germanistik, Volkskunde und Geschichte in Göttingen wirkte Uther als studentische Hilfskraft am Forschungsprojekt Enzyklopädie des Märchens mit, um Geld zu verdienen. Nach dem ersten Staatsexamen wäre er eigentlich ins Referendariat gegangen, doch die Märchen ließen ihn nicht mehr los. Schließlich wurde er 1973 Redakteur beim besagten Forschungsprojekt. In den 1990er Jahren war Uther Lehrbeauftragter an der Universität Göttingen und an der Universität Essen. Besonders faszinierend findet Hans-Jörg Uther den Überlieferungsprozess von Literatur und „dass Märchen jedes neue Medium wieder erobern“.

Ängste und Albträume

Dieter Fleischhauer ist der Meinung, dass man Kindern auf keinen Fall Märchen der Brüder Grimm vorlesen sollte, denn es handle sich um ´Gewalt-Märchen´, wie er sie selbst nennt. „Gewalt-Märchen sind Märchen, die Kinder mit schrecklichen Szenen, wie zum Beispiel Mord und Totschlag, große Ängste bereiten“, beschreibt Fleischhauer den Begriff mit Nachdruck. Er ist überzeugt davon, dass das Vorlesen von solchen Märchen negative Auswirkungen haben kann: „Die Kinder bekommen Ängste und gehen zu den Eltern ins Bett, Kinder haben Albträume und werden zu Bettnässern“. Außerdem befürchtet er, dass Kinder die Bösewichte aus den Märchen als Idole nehmen könnten und dadurch selbst Gewalt anwenden. Seine Argumentation stützt Fleischhauer auf die Meinungen von Eltern, mit denen er gesprochen hat und auf die Aussage des im Jahr 2013 verstorbenen Pädagogen Werner Glogauer. Glogauer stellte die These auf, dass Gewalt in den Medien einen Einfluss auf kindliches Verhalten habe und soll Fleischhauers Behauptungen in einem persönlichen Gespräch bestätigt haben.

Hans-Jörg Uther ist anderer Meinung und zitiert den Schweizer Literaturwissenschaftler und Erzählforscher Max Lüthi: „´Das Märchen arbeitet sublim´, das heißt es wird nie detailliert geschildert, wenn es um Grausamkeit und Bluttaten geht. Das unterscheidet Märchen zum Beispiel von Horrorfilmen”.

Kinder nehmen Märchen anders wahr

“In den Grimm´schen Märchen wird die Gewalt ganz selten deutlich ausgemalt“, stimmt Oliver Geister zu. Auch er ist großer Märchen-Fan: „Für mich zählen die Märchen der Brüder Grimm zu den besten Märchen, die es überhaupt gibt”. Oliver Geister ist promovierter Pädagoge, Lehrer am Gymnasium Wolbeck und Lehrbeauftragter an der Universität Münster. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Märchenpädagogik, welche interdisziplinär in der Pädagogik, Psychologie und Germanistik angesiedelt ist. „Ich glaube, dass Kinder das Grausame nicht als realistische Darstellung einer Grausamkeit begreifen, sondern dass sie das eher symbolisch, metaphorisch verstehen”, meint Oliver Geister. Die Märchenerzählerin Kirsten Stein berichtet aus ihrem Berufsalltag, dass noch nie ein Kind aufgrund eines Märchens geweint habe. Warum sie Märchenerzählerin geworden ist und welche Geschichten sich für Kinder eignen, verrät sie im Video.

Laut Oliver Geister nähmen Kinder die Verbrennung der Hexe in Hänsel und Gretel nicht als grausame Tat, sondern als gebannte Gefahr wahr, weil das Böse vernichtet wird. Wie ein Kind auf ein bestimmtes Märchen reagiert, komme auf das individuelle Kind an, außerdem spielen auch weitere Faktoren eine Rolle. Dass Erwachsene Märchen möglicherweise anders wahrnehmen als Kinder, lasse sich laut Geister auf die ständige Präsenz von Gewaltdarstellungen in den Medien zurückführen, mit denen erwachsene Menschen im Laufe ihrer Sozialisation konfrontiert werden. Jedoch lasse sich diesbezüglich keine pauschale Aussage treffen. 

Im Podcast gibt es weitere Informationen zur Wirkung von Gewalt in Märchen auf Kinder und eine spannende Diskussion mit Oliver Geister und Dieter Fleischhauer, ob man Kindern traditionelle Märchen vorlesen sollte oder nicht.

Einsatz gegen Gewalt-Märchen

Um der Gewalt in Märchen entgegenzuwirken, hatte sich Dieter Fleischhauer 1999 an die Bundesregierung gewandt mit der Forderung nach einem Gesetz, das den Zugang zu Gewalt-Märchen für Kindern verbietet. Die Bundesregierung leitete ihn an den Petitionsausschuss weiter, wo er keinen Erfolg hatte. Im Jahr 2010 wandte er sich an das Jugendamt Augsburg und die Prüfstelle für jugendgefährdende Schriften, die keine Gefahr in Märchen für Kinder sah. Am 17. Oktober desselben Jahres erstattete Fleischhauer Strafanzeige beim Amtsgericht Augsburg gegen das Augsburger Jugendamt, die Prüfstelle für jugendgefährdende Schriften und einen Kinderbuchverlag. Die Strafanzeige wurde am 28. Dezember 2010 seitens der Staatsanwaltschaft mit der Begründung, dass es sich um Kulturgut handele, zurückgewiesen. „Ich bin heute noch enttäuscht. Ich empfinde das als Ungerechtigkeit den Kindern gegenüber“, äußert sich Fleischhauer zum Urteil, „ich verstehe nicht, dass psychische Gewalt für Kinder erlaubt ist und dass es zum Kulturgut gehört“. 1998 hat Dieter Fleischhauer mit seiner Frau Doris, die 2007 verstarb, das Märchen Tommis Erlebnisse im Märchenland geschrieben. Das Ziel der beiden war es „den Kindern eine Freude zu bereiten und zu zeigen, dass es möglich ist gewaltfreie und lehrreiche Märchen zu schreiben“. In dem Buch werden alltägliche Themen behandelt, unter anderem auch die Vorsicht vor Fremden oder im ´Flugverkehr´. Im Märchenbuch heißt es beispielsweise:

„Weil Tommi und Lissi sich ihres Weges nun nicht mehr so ganz sicher waren, erkundigten sie sich bei der bezaubernden Wasserfallfee nach dem Weg zu König Tulu. Als die Fee erklärte, dass sich sein Schloss gleich hinter ihrem Zauberberg befände, wollten die Kinder sofort auf dem Hexenbesen darüber fliegen. Als sie sich auf den Besen gesetzt hatten, wies die Wasserfallfee sie ungern darauf hin, dass das Überfliegen dieses Berges laut Berggeistgesetz strengstens verboten sei“

Fleischhauer, 1998, S. 101

Die Illustrationen seiner Frau beschreibt Dieter Fleischhauer als „farbenfroh und aussagekräftig“. Die Rückmeldungen von Eltern zu dem Buch sind gemischt. Kritik lasse Fleischhauer nicht an sich heran, über positives Feedback freue er sich, besonders wenn er Eltern zum Umdenken bewegen könne. 

Eine bunte Illustration aus dem Buch Tommis Erlebnisse im Märchenland. Bild: Instagram @fleischhauer.dieter.

Ob man seinen Kindern oder Enkelkindern traditionelle Märchen der Brüder Grimm, gewaltfreie Märchen oder andere Geschichten vorlesen möchte, ist eine persönliche Entscheidung, die Jede*r für sich selbst treffen muss. Bärbel Bratzdrum, Kauffrau für Bürokommunikation und Mutter, liest ihren Kindern gern traditionelle Märchen vor. Warum, erzählt sie im Video und ihre Töchter Laura und Antonia verraten ihre Lieblingsmärchen.

Dass Märchen erzählt werden, ist wichtig, denn laut Oliver Geister kann das Märchenerzählen zum Beziehungsaufbau zwischen Eltern und ihren Kindern beitragen und Märchen „können nebenbei noch eine pädagogische Kraft entwickeln“. In einem Punkt sind sich alle einig und Oliver Geister bringt es auf den Punkt: „Märchen sollen Kinder erfreuen“.


Das blutige Märchen-Quiz

Erkennen Sie die Märchen der Brüder Grimm? Im Folgenden werden Ihnen fünf blutige und grausame Szenarien beschrieben. Sie entscheiden, ob es sich um einen Ausschnitt aus einem Märchen, Horrorfilm oder um eine wahre Begebenheit handelt. Warnung: Da es sich um brutale Szenen handelt, ist dieses Quiz nicht für Kinder geeignet.


Quellen

Brüder Grimm (1812): Kinder- und Haus-Märchen. Band 1. Berlin: Realschulbuchhandlung. Online verfügbar unter: https://de.wikisource.org/wiki/Kinder-_und_Haus-M%C3%A4rchen_Band_1_(1812).

Fleischhauer, Dieter (1998): Tommis Erlebnisse im Märchenland. Augsburg: Dietschis Kinderbücher.

Geister, Oliver; Peitz, Christian (2010): Kleine Pädagogik des Märchens: Begriff – Geschichte – Ideen für Erziehung und Unterricht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

Uther, Hans-Jörg (2013): Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation. 2. Auflage. Berlin: Walter de Gruyter.

Alles Fake

Ein bewusstloser Mann mit grünen, langen Haaren und verschmierter Clown-Schminke liegt auf der Motorhaube eines zerstörten Polizeiautos. Es ist dunkel – mitten in der Nacht.

Sein Name: Arthur Fleck, auch bekannt als der Joker. Blutige Wunden überziehen sein Gesicht. Er wacht aus seiner Bewusstlosigkeit auf, hustet Blut, richtet vorsichtig seinen Kopf auf und schaut sich um. Eine Menge  maskierter Menschen steht um ihn herum, klatscht und gestikuliert wild mit den Armen. Langsam steht Arthur Fleck auf, nimmt die Zeige- und Mittelfinger beider Hände in den Mund und malt sich ein blutiges Grinsen in das Gesicht. Mit ausgebreiteten Armen und blutiger Fratze lächelt er in die Menge.

Mit dieser Filmszene endet der 2019 in die Kinos gekommene Film Joker. Das Blut, das dem Schauspieler Joaquin Phoenix in der Szene aus dem Mund läuft, ist nicht echt. 

Die Person, die Joaquin Phoenix die blutigen Wunden verpasst hat, heißt Nicki Ledermann. Sie arbeitet als professionelle Maskenbildnerin und hat durch ihren Beruf ziemlich oft mit Kunstblut zu tun. Es ist ein wesentliches Element ihrer Arbeit. Sie verpasst Schauspieler*innen realistisch aussehende Verletzungen und sorgt dafür, dass Blut aus Wunden fließt oder spritzt. Maskenbildner*innen wie sie ermöglichen, dass die blutigen Szenen ihre gewünschte Wirkung erzielen.

Blut ist aus Filmen heutzutage kaum mehr wegzudenken. Selbst aus denen, die auf den ersten Blick gar nicht brutal wirken. „Jeder Film hat irgendwie eine blutige Szene“, so Ledermann. Selbst wenn eine Figur nur eine kleine Schramme hat, wird dem Zuschauer durch das Auftragen von Kunstblut vermittelt, es handle sich um echtes Blut.

Von München nach New York

Die Münchnerin Nicki Ledermann lebt seit 1988 in New York und hat schon bei über 70 Filmen und Serien mitgewirkt. Zuletzt bei Projekten wie dem Film Joker oder dem ebenfalls 2019 erschienen Film The Irishman. Andere bekannte Filme, in denen sie die Maske gemacht hat, sind beispielsweise Get Smart, Der Teufel trägt Prada oder Inside Llewyn Davis von den Coen Brothers. Nicki Ledermann hat es geschafft, an die Spitze zu kommen und sich einen Namen als Maskenbildnerin zu machen. Das wird auch durch die zahlreichen Nominierungen für Filmpreise deutlich, die die 52-Jährige bereits für ihr Handwerk erhielt. Für die Maske in dem Film Joker wurde sie unter anderem für den Oscar und für den British Academy Film Award nominiert. Für die Emmy Awards war sie bereits sechsmal unter den Nominierten, einmal gewann sie für die Serie Boardwalk Empire. Die Liste  ist lang.  Die Liste an Filmen und Serien, in denen sie mitgewirkt hat ebenfalls. Und fast immer kommt Kunstblut zum Einsatz.

In den meisten Filmen fließt Berliner Kunstblut

Bevor das Blut auf den Kinoleinwänden spritzen kann, muss es natürlich hergestellt werden. Der größte Kunstblut-Hersteller weltweit ist das Berliner Familienunternehmen Kryolan. Hier werden jährlich circa 12.000 Liter der roten Flüssigkeit hergestellt und anschließend in die ganze Welt ausgeliefert. Schon viele weltbekannte Hollywoodschauspieler*innen bluteten mit dem Berliner Kunstblut. Teilweise haben Regisseur*innen Extrawünsche, denen Kryolan nachgeht. „Für ein Theaterstück musste unser sogenanntes Treppenblut entwickelt werden, welches bestimmte Fließeigenschaften über eine Treppe hat“, so Lorenz Koch. Er organisiert die Auftragsabwicklung und ist für die Technik im Unternehmen zuständig.

In dem Berliner Familienbetrieb werden circa 50 verschiedene Blutsorten produziert
Bild: Lorenz Koch

Für jede blutige Angelegenheit hat der Berliner Familienbetrieb das passende Blut: Insgesamt produziert Kryolan circa fünfzig verschiedene Sorten. Obwohl es in der Fabrik so blutig zugeht, sei laut Koch noch niemand dort umgekippt. „Das Kunstblut hat weder den Geruch noch den Geschmack von Blut“, so Koch. Stattdessen schmeckt es manchmal sogar richtig gut: Damit Schauspieler auf einen guten Geschmack kommen, produziert Kryolan verzehrbares Blut mit Erdbeer-, Himbeer- und Zitronengeschmack.

Blutige Filme sind eigentlich nicht so ihr Ding

Das meiste Blut, das ein gewöhnlicher Mensch in seinem Leben fließen sieht, ist wahrscheinlich Kunstblut auf der Kinoleinwand. Je nach Genre und Vorstellung der Regisseure variiert der Einsatz der Körperflüssigkeit. Nicki Ledermann findet, dass weniger Blut manchmal sogar kraftvoller sein kann als der übermäßige Einsatz. Sie selbst schaut gar nicht so gerne blutige Filme.

Ledermann hat sich das meiste ihres Handwerks selbst beigebracht. Sie ist Autodidaktin. „Ich habe in New York an Kursen für Film-Make-up teilgenommen, aber damals gab es noch nicht so viele“, so die 52-Jährige. Sie fing erst an, die Maske bei Musikvideos und Werbespots zu machen, bis sie 1994 bei ihrem ersten bezahlten Film Under The Bridge mitwirkte. Sie konnte in den 90er Jahren viel ausprobieren und dabei einiges für ihre spätere Arbeit mit Hollywoodgrößen mitnehmen. „Das war das Tolle an der Indie-Filmszene der 90er Jahre“, so Ledermann, „die Filmemacher waren selbst sehr jung und wir lernten quasi gleichzeitig unsere Arbeit“.

Ein besonders blutiger Dreh, an den sich Nicki Ledermann erinnert, war der der Krankenhausserie The Knick von Steven Soderbergh. „Wir haben während des Drehs täglich mehrere Liter Blut gebraucht“, so Ledermann, „vor allem, wenn wir Operationen gedreht haben“. In einer Szene wurden Arbeiter eines eingestürzten U-Bahn-Schachts in ein Krankenhaus eingeliefert. Das tropfende Blut wurde immer erst am Set aufgetragen, damit es nicht verschmiert. „Jedes Mal, wenn ich Blut über das Gesicht tropfen ließ, meinte Steven: »mehr Blut, mehr Blut«“, so Ledermann, „da habe ich die ganze Flasche genommen und sie über den Kopf des Schauspielers auslaufen lassen, bis er zufrieden war“. Generell sei es die Aufgabe von Maskenbildner*innen wie Nicki Ledermann, die Vision der Regisseure durch die Maske umzusetzen. Um sich auf einen Dreh vorzubereiten, liest Ledermann zuerst das Drehbuch, um dann zu der Umwelt, der Geschichte, dem Zeitalter und zu den Charakteren zu recherchieren. „Dann zeichne ich oft die Charaktere oder habe verschiedene Fotoreferenzen“, so Ledermann. Aus dem Ganzen macht sie dann ein Buch, das zum Regisseur durchgegeben wird.

Um das Blut richtig einzusetzen, haben Maskenbildner*innen verschiedene Techniken. „Um es kräftig spritzen zu lassen, ist das Beste ein Malerpinsel“, so Ledermann, „man kann aber auch eine Zahnbürste nehmen“. Maskenbildner*innen sind Meister*innen im Improvisieren. Manchmal versteckt Ledermann das Kunstblut in kleinen Tuben unter den Kostümen oder unter Prothesen der Schauspieler, damit es richtig fließt.

Kunstblut kommt nicht nur zum Einsatz, wenn Blut im Theater oder im Kino spritzt: „Zum Beispiel nutzt das Rote Kreuz das Blut zur Unfalldarstellung“, so Lorenz Koch von dem Kunstbluthersteller Kryolan. Das Unternehmen gibt es schon seit 1945. Das erste Interesse der damaligen Gründer*innen galt den aufstrebenden Theatern in Berlin. „Später kam die Filmindustrie hinzu“, so Koch, „die Nachfrage der Kunden führte zur Entwicklung von verschiedenen Produkten, unter anderem auch von Kunstblut“. Neben der roten Flüssigkeit werden hier auch verschiedene Arten von Theaterschminken, Make-up oder Lippenstifte hergestellt.

Der Umgang mit Blut im Film war früher anders

Heutzutage fließt extrem viel Blut in Filmen. Bei Horror- oder Splatterfilmen ist es ein wesentliches Element. Man denke an den Film The Shining von Stanley Kubrick, bei dem den Zuschauer*innen eine riesige Blutwelle entgegen rollt, oder an Cabin in the woods, wo in einer Szene so viel Blut spritzt, dass sich der gesamte Raum des Geschehens rot einfärbt. Der Einsatz von Blut trägt immer eine bestimmte Bedeutung und unterscheidet sich genrespezifisch. Allein schon die Farbgebung kann auf verschiedene Arten interpretiert werden.

Der Umgang mit Blut in Filmen war früher anders. Tatsächlich dauerte es lange, bis so richtig viel Blut auf den Kinoleinwänden floss.

Stefanie Plappert ist Kuratorin im Deutschen Filminstitut und Filmmuseum und beschäftigt sich beruflich fast täglich mit Filmen. Sie hat sich im Rahmen einer Ausstellung mit der Bedeutung der Farbe Rot im Film auseinandergesetzt. Blutige Filme spielten hier ein zentrales Element. Im Podcast erzählt sie, welche Bedeutung Blut im Film hat und wie sich der Einsatz der roten Flüssigkeit im Laufe der Filmgeschichte entwickelt hat.

In welchen Filmen wurde Blut im Laufe der Geschichte eingesetzt? Hier eine kleine Auswahl:

Kunstblut hat eine lange Geschichte

Das erste bekannte Kunstblut wurde in dem Pariser Theater Grand Guignol hergestellt. Es wurde Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet und war bekannt für seine brutalen und blutigen Stücke. Hier floss so viel Blut, dass regelmäßig Menschen während den Vorstellungen in Ohnmacht fielen. Die Mitarbeiter*innen des Horror-Theaters rührten insgesamt neun verschiedene Farbtöne an Kunstblut an. Für die rote Farbe des Pariser Kunstblutes sorgte Karmin – ein Farbstoff, der aus Schildläusen gewonnen wird.

In den Schwarz-Weiß-Filmen, in denen Blut zum Einsatz kam, war die Farbe dann nicht mehr relevant. Die Filmemacher*innen griffen zu einer ganz simplen, aber effektiven und auch schmackhaften Alternative: Schokoladensirup. Beispielsweise kam dieses braune Kunstblut in Hitchcocks Film Psycho zum Einsatz. Praktischer Nebeneffekt: Die Flaschen, in denen der Schokoladensirup verkauft wurde, eigneten sich perfekt, um Blutstropfen zu erzeugen. 

In farbigen Filmen authentisches Blut darzustellen, war eine wesentlich kompliziertere Angelegenheit. In den 60er und 70er Jahren wurde oft ein Kunstblut namens Kensington Gore benutzt, welches von einem britischen Apotheker entwickelt wurde. Das bekannteste und meistgenutzte Rezept für Kunstblut stammt allerdings von dem Maskenbildner Dick Smith. Sein Filmblut kam beispielsweise in Martin Scorseses Drama Taxi Driver zum Einsatz.

Die Rezeptur von Dick Smith hat die Kunstblutherstellung in Hollywood maßgeblich beeinflusst. Als Basis für sein Rezept dient Maissirup. Außerdem ist das Netzmittel Kodak Photo-Flo, das zur Entwicklung von Fotofilmen verwendet wird, in seinem Blut enthalten. Das machte das Ganze nicht nur zu einer blutigen, sondern auch zu einer giftigen Angelegenheit

In diesem Interviewausschnitt aus dem Jahre 1996 erzählt der Maskenbildner von den Herausforderungen, die er mit Kunstblut hatte – bevor er sein eigenes entwickelte.

Heute gibt es zahlreiche, nicht giftige Abwandlungen von Dick Smiths Rezept. Wie genau in der Berliner Firma Kryolan das Blut hergestellt wird, will Lorenz Koch allerdings nicht verraten. „Wir wollen da nicht zu sehr ins Detail gehen, aber es sind eine Menge unterschiedlicher Farbstoffe und Glyzerin enthalten“, so Koch.

Gibt es bald nur noch digitales Kunstblut?

In einigen neueren Filmen besteht das spritzende Blut nicht mehr aus Glyzerin, sondern nur noch aus Pixeln. Mit Computer Generated Imagery (CGI) lässt sich mittlerweile realistisch aussehendes Blut einfach mit dem Computer herstellen. Ein Vorteil des digitalen Kunstblutes liegt auf der Hand: Am Filmset wird einfach nicht mehr so viel herumgesaut. Nicki Ledermann findet die Arbeit mit Kunstblut auch gar nicht so einfach: „Kunstblut verschmiert leicht und ist oft schwer sauber zu machen“. Vor allem könne es die Haut oder das Kostüm verfärben, wenn man nicht vorsichtig arbeitet. Ledermann gibt zu, dass CGI den Maskenbildner*innen viel Arbeit abgenommen habe. „CGI hat schon seinen Platz, man kann Blut präziser laufen lassen und es muss nicht nach jedem Take alles sauber gemacht werden“, so Ledermann. Grundsätzlich sei computergeneriertes Blut allerdings nach wie vor sehr teuer und manche blutigen Szenen lassen sich einfach schneller und billiger mit dem klassischen Kunstblut umsetzen. Lorenz Koch ist, was sein Kunstblut angeht, guter Dinge: „Wir sehen auch weiterhin gute Chancen für unser Blut, nicht alles lässt sich animieren“.

Das blutige Lächeln des Jokers wurde übrigens auch mit dem Computer generiert.                 

Der Grund? Bei jedem Take sah die blutige Fratze gleich aus.