Blutige Schuhe und eine kannibalische Hexe

Blutige Schuhe und eine kannibalische Hexe

Eine abgeschnittene Ferse, eine blutige Spindel und eine alte Frau, die Kinder in ihr Haus lockt, um sie zu verspeisen. Wie viel Blut und Gewalt steckt in den traditionellen Märchen der Brüder Grimm?

Eine Mutter bittet ihre Tochter darum, sich die Ferse abzuschneiden, damit ihr Fuß in einen zu engen Schuh passt, ein armes Mädchen, das so lange spinnen muss bis seine Finger blutig sind und eine böse Hexe, die zwei Kinder in ihr Haus lockt, um sie im Ofen zu braten und zu essen. Aschenputtel, Frau Holle und Hänsel und Gretel sind drei Klassiker der Brüder Grimm, die heute noch bekannt sind. Die oben zitierten Textpassagen stammen aus der ersten Auflage der Kinder- und Hausmärchen von 1812.

Es geht nur um Horror

„Es geht nur um Horror und diesem Horror möchte ich ein Ende setzen – zum Schutz der Kinder“, sagt der blonde Mann mit energischer Stimme. Dieter Fleischhauer bezeichnet Märchen wie Rotkäppchen und Aschenputtel als sogenannte ´Gewalt-Märchen´.

Dieter Fleischhauer mit seinem Märchenbuch "Tommis Erlebnisse im Märchenland".
Dieter Fleischhauer hält lächelnd sein Märchenbuch Tommis Erlebnisse im
Märchenland in den Händen.
Foto: Privat.

Er wurde 1961 in München geboren und hatte dort, wie er erzählt, eine behütete Kindheit. Seine Eltern haben ihm und seinen drei Geschwistern frei erfundene Märchen erzählt. Im Kindergarten wurde er unter anderem mit traditionellen Märchen der Brüder Grimm konfrontiert. Nachts habe er die Szenen aus den Märchen vor sich gesehen und Angst gehabt allein in seinem Kinderzimmer zu schlafen, er habe Albträume bekommen und deshalb bei seinen Eltern im Bett geschlafen. Gemeinsam mit seiner Frau Doris, die 2007 verstarb, setzt sich Dieter Fleischhauer seit 1995 zum Kinderschutz gegen ´Gewalt-Märchen´ ein: “Die Märchenwelt ist nicht der Ort, wo Kinder ihre Ängste erleben sollen”. 

Liebe zu Literatur und Märchen

„Ich finde nicht, dass Märchen grausam oder gewaltsam sind“, sagt der ältere Mann mit kratziger Stimme, „ich habe meine Liebe zur Literatur und zu den Märchen entdeckt”. Hans-Jörg Uther, Literaturwissenschaftler und Erzählforscher, ist fasziniert von Märchen und hat sein berufliches Leben unter anderem dem Werk der Brüder Grimm gewidmet. Die wichtigsten Ereignisse zur Geschichte der Kinder- und Hausmärchen sind im Zeitstrahl dargestellt.

Prof. Dr. Hans-Jörg Uther ist ein Experte für die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm.
Foto: Braun, Stuttgart.

Hans-Jörg Uther wurde 1944 in Herzberg am Harz geboren und habe sich bereits in seiner Kindheit für Märchen interessiert und stapelweise Bücher gelesen. Eigentlich wollte er Gymnasiallehrer werden, doch daraus wurde nichts. Während seines Studiums der Germanistik, Volkskunde und Geschichte in Göttingen wirkte Uther als studentische Hilfskraft am Forschungsprojekt Enzyklopädie des Märchens mit, um Geld zu verdienen. Nach dem ersten Staatsexamen wäre er eigentlich ins Referendariat gegangen, doch die Märchen ließen ihn nicht mehr los. Schließlich wurde er 1973 Redakteur beim besagten Forschungsprojekt. In den 1990er Jahren war Uther Lehrbeauftragter an der Universität Göttingen und an der Universität Essen. Besonders faszinierend findet Hans-Jörg Uther den Überlieferungsprozess von Literatur und „dass Märchen jedes neue Medium wieder erobern“.

Ängste und Albträume

Dieter Fleischhauer ist der Meinung, dass man Kindern auf keinen Fall Märchen der Brüder Grimm vorlesen sollte, denn es handle sich um ´Gewalt-Märchen´, wie er sie selbst nennt. „Gewalt-Märchen sind Märchen, die Kinder mit schrecklichen Szenen, wie zum Beispiel Mord und Totschlag, große Ängste bereiten“, beschreibt Fleischhauer den Begriff mit Nachdruck. Er ist überzeugt davon, dass das Vorlesen von solchen Märchen negative Auswirkungen haben kann: „Die Kinder bekommen Ängste und gehen zu den Eltern ins Bett, Kinder haben Albträume und werden zu Bettnässern“. Außerdem befürchtet er, dass Kinder die Bösewichte aus den Märchen als Idole nehmen könnten und dadurch selbst Gewalt anwenden. Seine Argumentation stützt Fleischhauer auf die Meinungen von Eltern, mit denen er gesprochen hat und auf die Aussage des im Jahr 2013 verstorbenen Pädagogen Werner Glogauer. Glogauer stellte die These auf, dass Gewalt in den Medien einen Einfluss auf kindliches Verhalten habe und soll Fleischhauers Behauptungen in einem persönlichen Gespräch bestätigt haben.

Hans-Jörg Uther ist anderer Meinung und zitiert den Schweizer Literaturwissenschaftler und Erzählforscher Max Lüthi: „´Das Märchen arbeitet sublim´, das heißt es wird nie detailliert geschildert, wenn es um Grausamkeit und Bluttaten geht. Das unterscheidet Märchen zum Beispiel von Horrorfilmen”.

Kinder nehmen Märchen anders wahr

“In den Grimm´schen Märchen wird die Gewalt ganz selten deutlich ausgemalt“, stimmt Oliver Geister zu. Auch er ist großer Märchen-Fan: „Für mich zählen die Märchen der Brüder Grimm zu den besten Märchen, die es überhaupt gibt”. Oliver Geister ist promovierter Pädagoge, Lehrer am Gymnasium Wolbeck und Lehrbeauftragter an der Universität Münster. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Märchenpädagogik, welche interdisziplinär in der Pädagogik, Psychologie und Germanistik angesiedelt ist. „Ich glaube, dass Kinder das Grausame nicht als realistische Darstellung einer Grausamkeit begreifen, sondern dass sie das eher symbolisch, metaphorisch verstehen”, meint Oliver Geister. Die Märchenerzählerin Kirsten Stein berichtet aus ihrem Berufsalltag, dass noch nie ein Kind aufgrund eines Märchens geweint habe. Warum sie Märchenerzählerin geworden ist und welche Geschichten sich für Kinder eignen, verrät sie im Video.

Laut Oliver Geister nähmen Kinder die Verbrennung der Hexe in Hänsel und Gretel nicht als grausame Tat, sondern als gebannte Gefahr wahr, weil das Böse vernichtet wird. Wie ein Kind auf ein bestimmtes Märchen reagiert, komme auf das individuelle Kind an, außerdem spielen auch weitere Faktoren eine Rolle. Dass Erwachsene Märchen möglicherweise anders wahrnehmen als Kinder, lasse sich laut Geister auf die ständige Präsenz von Gewaltdarstellungen in den Medien zurückführen, mit denen erwachsene Menschen im Laufe ihrer Sozialisation konfrontiert werden. Jedoch lasse sich diesbezüglich keine pauschale Aussage treffen. 

Im Podcast gibt es weitere Informationen zur Wirkung von Gewalt in Märchen auf Kinder und eine spannende Diskussion mit Oliver Geister und Dieter Fleischhauer, ob man Kindern traditionelle Märchen vorlesen sollte oder nicht.

Einsatz gegen Gewalt-Märchen

Um der Gewalt in Märchen entgegenzuwirken, hatte sich Dieter Fleischhauer 1999 an die Bundesregierung gewandt mit der Forderung nach einem Gesetz, das den Zugang zu Gewalt-Märchen für Kindern verbietet. Die Bundesregierung leitete ihn an den Petitionsausschuss weiter, wo er keinen Erfolg hatte. Im Jahr 2010 wandte er sich an das Jugendamt Augsburg und die Prüfstelle für jugendgefährdende Schriften, die keine Gefahr in Märchen für Kinder sah. Am 17. Oktober desselben Jahres erstattete Fleischhauer Strafanzeige beim Amtsgericht Augsburg gegen das Augsburger Jugendamt, die Prüfstelle für jugendgefährdende Schriften und einen Kinderbuchverlag. Die Strafanzeige wurde am 28. Dezember 2010 seitens der Staatsanwaltschaft mit der Begründung, dass es sich um Kulturgut handele, zurückgewiesen. „Ich bin heute noch enttäuscht. Ich empfinde das als Ungerechtigkeit den Kindern gegenüber“, äußert sich Fleischhauer zum Urteil, „ich verstehe nicht, dass psychische Gewalt für Kinder erlaubt ist und dass es zum Kulturgut gehört“. 1998 hat Dieter Fleischhauer mit seiner Frau Doris, die 2007 verstarb, das Märchen Tommis Erlebnisse im Märchenland geschrieben. Das Ziel der beiden war es „den Kindern eine Freude zu bereiten und zu zeigen, dass es möglich ist gewaltfreie und lehrreiche Märchen zu schreiben“. In dem Buch werden alltägliche Themen behandelt, unter anderem auch die Vorsicht vor Fremden oder im ´Flugverkehr´. Im Märchenbuch heißt es beispielsweise:

„Weil Tommi und Lissi sich ihres Weges nun nicht mehr so ganz sicher waren, erkundigten sie sich bei der bezaubernden Wasserfallfee nach dem Weg zu König Tulu. Als die Fee erklärte, dass sich sein Schloss gleich hinter ihrem Zauberberg befände, wollten die Kinder sofort auf dem Hexenbesen darüber fliegen. Als sie sich auf den Besen gesetzt hatten, wies die Wasserfallfee sie ungern darauf hin, dass das Überfliegen dieses Berges laut Berggeistgesetz strengstens verboten sei“

Fleischhauer, 1998, S. 101

Die Illustrationen seiner Frau beschreibt Dieter Fleischhauer als „farbenfroh und aussagekräftig“. Die Rückmeldungen von Eltern zu dem Buch sind gemischt. Kritik lasse Fleischhauer nicht an sich heran, über positives Feedback freue er sich, besonders wenn er Eltern zum Umdenken bewegen könne. 

Eine bunte Illustration aus dem Buch Tommis Erlebnisse im Märchenland. Bild: Instagram @fleischhauer.dieter.

Ob man seinen Kindern oder Enkelkindern traditionelle Märchen der Brüder Grimm, gewaltfreie Märchen oder andere Geschichten vorlesen möchte, ist eine persönliche Entscheidung, die Jede*r für sich selbst treffen muss. Bärbel Bratzdrum, Kauffrau für Bürokommunikation und Mutter, liest ihren Kindern gern traditionelle Märchen vor. Warum, erzählt sie im Video und ihre Töchter Laura und Antonia verraten ihre Lieblingsmärchen.

Dass Märchen erzählt werden, ist wichtig, denn laut Oliver Geister kann das Märchenerzählen zum Beziehungsaufbau zwischen Eltern und ihren Kindern beitragen und Märchen „können nebenbei noch eine pädagogische Kraft entwickeln“. In einem Punkt sind sich alle einig und Oliver Geister bringt es auf den Punkt: „Märchen sollen Kinder erfreuen“.


Das blutige Märchen-Quiz

Erkennen Sie die Märchen der Brüder Grimm? Im Folgenden werden Ihnen fünf blutige und grausame Szenarien beschrieben. Sie entscheiden, ob es sich um einen Ausschnitt aus einem Märchen, Horrorfilm oder um eine wahre Begebenheit handelt. Warnung: Da es sich um brutale Szenen handelt, ist dieses Quiz nicht für Kinder geeignet.


Quellen

Brüder Grimm (1812): Kinder- und Haus-Märchen. Band 1. Berlin: Realschulbuchhandlung. Online verfügbar unter: https://de.wikisource.org/wiki/Kinder-_und_Haus-M%C3%A4rchen_Band_1_(1812).

Fleischhauer, Dieter (1998): Tommis Erlebnisse im Märchenland. Augsburg: Dietschis Kinderbücher.

Geister, Oliver; Peitz, Christian (2010): Kleine Pädagogik des Märchens: Begriff – Geschichte – Ideen für Erziehung und Unterricht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

Uther, Hans-Jörg (2013): Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation. 2. Auflage. Berlin: Walter de Gruyter.

Ich fand es spannend für mein Projekt in die Welt der Märchen einzutauchen und unterschiedliche Meinungen zu beleuchten. Vor meiner Recherche war mir nicht bewusst, dass besonders ältere Märchen der Brüder Grimm wie Blaubart oder Van den Machandelboom ziemlich blutig sind.

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