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Mein bestes Ich

Patrick Hundt ist 34 Jahre alt und bezeichnet sich selbst als introvertiert. Er arbeitet als Blogger und Autor. Unter seinen Büchern beschäftigt sich eines auch mit der eigenen Introversion. Bis zum Jahr 2012 war er im Online Marketing beschäftigt. Nach dem Ausstieg aus der eigenen Agentur ging es für ihn auf Weltreise. In diesen sechs Monaten fand er zu sich selbst und entdeckte seine spätere Berufung.

„Jeder Mensch ist anders. Jeder hat andere Eigenschaften und sehr persönliche Vorlieben.“ Patrick gibt ein Interview. Schriftlich. Er will über seine Introversion reden, allerdings nicht persönlich, sondern lieber per Mail. Ob das an seiner Introversion liegt, dass er kein persönliches Gespräch führen möchte? Sachlich und abgeklärt wirken die Aussagen, die er auf die zugeschickten Fragen gibt. Es wird deutlich, dass er schon häufiger über das Thema gesprochen hat. Trotzdem ist er nachdenklich, wenn es um die Entdeckung der eigenen Introversion geht.

„Als Introvertierter brauche ich Zeit für mich allein, ich brauche mehr Ruhe als andere, ich arbeite gern im Hintergrund und vertiefe mich in Themen“, schreibt Patrick. Solange er das mache, fühle er sich am wohlsten, obwohl das auf andere Menschen, vor allem die Extrovertierten, eher merkwürdig wirke. „Ich brauche diese Voraussetzungen um aufzublühen, meine beste Leistung zu erbringen oder mein bestes Ich zu sein.“ Die Welt der Introvertierten ist eine innere Welt. Eine Welt der Inhalte, der Stille, der Bücher, der Tiefe. Das sind Assoziationen, die auftauchen, sobald Patrick über die Vorlieben von Intros spricht. „Sie tanken auf, wenn sie allein sind, ihre Ruhe haben, sich ihren Gedanken hingeben, lesen oder schreiben.“

Stimulation vs. Stille

Extrovertierte stellen für Patrick das komplette Gegenstück zu den Introvertierten dar: „Sie ziehen Energie aus dem Zusammensein mit anderen Menschen. Sie brauchen Reize, um sich nicht zu langweilen. Sie reden gerne viel und sie machen viele Dinge auf einmal.“ Aktivität und Stimulation anstelle von Stille und Zurückgezogenheit.

Trotzdem findet er, dass man auch ohne extrovertierte Eigenschaften erfolgreich werden könne. „Klar, als Introvertierter kann ich nicht jeden erdenklichen Job machen – aber das können Extrovertierte auch nicht. Ich versuche mich immer auf meine Stärken zu konzentrieren und baue diese aus.“ Bei ihm wären das ohnehin Tätigkeiten, die ihn am meisten interessieren: Online Marketing und Schreiben. „Wer will schon etwas machen, bei dem man ständig mit seinen Schwächen konfrontiert wird?“

Die 12 wesentlichen Stärken Introvertierter laut Patrick Hundt.

Die 12 wesentlichen Stärken Introvertierter laut Patrick Hundt.

Erfolg trotz Introversion

Obwohl er ziemlich introvertiert sei, würde sich Patrick als erfolgreich bezeichnen. „Ich glaube eines meiner Geheimnisse ist, dass ich das mache, was mir liegt.“ Mit dieser Strategie fahre er sehr gut, wie er zugibt. „Damit verdiene ich genug Geld, kann arbeiten wann und wie ich will und mir die Themen selbst aussuchen.“ Diese Situation mache ihn sehr zufrieden.

Dennoch gibt er zu bedenken, dass viele Menschen in ihren Jobs keinen allzu großen Gestaltungsspielraum hätten: „Sie müssen manchmal auch extrovertierte Rollen übernehmen.“ Da helfe es dann, an der einen oder anderen Schwäche zu arbeiten, schreibt er. Hilft im Berufsleben also nur der Sprung über den eigenen Schatten, um als Introvertierter in einer extrovertierten Welt zu bestehen? „Ich versuche alles zu vermeiden, was ich nicht gut kann“, stellt Patrick fest. Leider ist das nicht immer umsetzbar.

„Dass ich introvertiert bin, wusste ich schon mein ganzes Leben lang. Trotzdem dachte ich lange, dass das nur ein allgemeiner Begriff für ruhige Menschen wäre, deshalb habe ich dem Ganzen auch nie viel Beachtung geschenkt“, schreibt Patrick über die eigene Introversion.  Erst im Alter von 30 Jahren habe er sich erstmals tiefer mit der Thematik beschäftigt, nachdem er für eine Weile unzufrieden mit seinen Eigenschaften gewesen sei. Trotzdem bereue er es nicht, dass er sich erst relativ spät über die Bedeutung der eigenen Introversion bewusst wurde. „Alles zu seiner Zeit. Dadurch konnten alle anderen Lebenserfahrungen mit einspielen, die mir dabei geholfen haben, meine Introversion richtig einzuordnen.“

Dennoch merkt er an: „Auf der anderen Seite hätte es mir vielleicht auch geholfen schon früher zu wissen, dass auch andere Menschen introvertiert sind und dass Introversion nicht veränderbar ist. Dann hätte ich mich selbst früher akzeptieren können.“

Introvertiertes Reisen

Über seine Karriere als Blogger sagt er: „Das Bloggen begann mit dem Reisen. Da ich eine Weltreise plante, lag es zumindest nah, ein paar Informationen festzuhalten – für Freunde und Familie und um später selbst mal nachzulesen.“ Da er Unternehmer ist, sei für ihn schnell klar gewesen, dass daraus ein Großprojekt entstehen soll. „Ich wäre sonst gelangweilt davon gewesen, nur alle zwei Tage ein paar Ereignisse aufzuschreiben.“

Als Introvertierter eine Weltreise machen? Passt das denn zusammen? „Solange ich auf meine persönlichen Vorlieben achtete, bin ich mit der Weltreise gut zurechtgekommen. Dabei half es, dass ich allein unterwegs war und mich nicht nach den Vorlieben anderer richten musste.“ Schlafsäle in Hostels habe er deshalb oft vermieden und sich lieber ein Einzelzimmer gegönnt. Auch habe er selbst entschieden, wann und wie er neue Leute kennenlernen wollte. Patrick schreibt, dass ihn das Backpacking aufgrund seiner Persönlichkeitseigenschaften immer wieder an Grenzen hat stoßen lassen. „Bei geführten Touren konnte ich mich zwar jederzeit zurückziehen, wenn es mir zu viel wurde. Wenn ich aber mit den Leuten nicht zurechtkam und nicht aus der Situation flüchten konnte, war das sehr unangenehm.“

Sein Blog über Introversion entstand parallel zu seinem Weltreiseprojekt. Damit wollte er das Thema für sich selbst aufarbeiten. „Es hilft mir einfach Dinge zu verstehen, wenn ich sie aufschreibe. Auch wenn Introversion nichts ist, was geheilt werden müsste.“ Trotzdem habe er eine Weile gebraucht,  bis er damit an die Öffentlichkeit gehen konnte. Mit dem zugehörigen Buch wollte er das Projekt dann endgültig für sich abschließen. „Der Untertitel ‚Liebe den Introvertierten in dir‘ war dabei sicherlich auch eine Aufforderung an mich selbst“, bestätigt er.

Leben mit der Introversion

Bei seiner früheren Tätigkeit im Online Marketing kam ihm seine Introversion öfter mal in die Quere. „Ich musste Networking-Events besuchen und manchmal Vorträge halten. Beides Aufgaben, die mir nicht liegen.“ Deshalb habe er beim Netzwerken auch nur wenige Menschen kennen gelernt, weil er sich meistens mit Menschen unterhalten habe, die er schon kannte. „Auch Vorträge habe ich nur sehr ungern gehalten.“ Wenn er doch einmal ran musste, habe er extrem viel Vorbereitungszeit gebraucht.

Extreme Introversion kann nicht nur im Beruf, sondern auch im Privatleben zum Problem werden. Patrick bestätigt, dass er vor allem auf Partys oder generell in Gruppensituationen immer wieder mit sich zu kämpfen habe. „Ich unterhalte mich am liebsten mit einem oder zwei Menschen. Mit jeder weiteren Person, die dazu kommt, werde ich immer ruhiger und sage bald gar nichts mehr.“ Insbesondere bei der Partnersuche sei Introversion ein großes Manko, findet Patrik. „Vor allem für Männer ist es dann schwierig. Wem es schwer fällt Menschen anzusprechen, Small Talk mit ihnen zu betreiben und sich anzunähern, für den wird Dating zum Problem.“ Für ihn seien Introvertierte zwar hervorragende Partner, aber die Anbahnung scheine nicht zu ihren Stärken zu gehören.

Auf die Frage hin, ob er jemals mit seiner Introversion zufrieden gewesen sei, antwortet Patrick: „Ich glaube, dass ich nie dankbar dafür war, ein Intro zu sein. Genauso wie ich es heute nicht mehr als reines Problem ansehe, ist es auch kein reiner Segen. Es ist einfach beides und man muss versuchen sich gemäß seiner Eigenschaften am besten in Szene zu setzen, beziehungsweise das Leben so auszurichten, dass man sich wohl mit seinen Eigenschaften fühlt.“ Genauso wie die Introversion ihre Tücken bereit halte, habe sie auch ihre Vorteile, findet er. „Zum Beispiel wenn ich Freunden ein guter Zuhörer sein kann, wenn Zuverlässigkeit zählt oder auch beim Schreiben meiner Bücher.“

Das Wichtigste sei für ihn aber, dass man sich selbst treu bleibe, dabei aber stets flexibel sei. Denn „wäre ich nicht introvertiert, würde ich eben etwas anderes machen, das meinen Stärken entspricht.“

   

Christina Grünewald und Lea Pfingsten

Christina mag Avocados. Lea bastelt gerne. Also ganz klar: Wir beschäftigen uns mit Introversion. Hä? Wer lacht am lautesten? Wir! Sind wir trotzdem intro? Ja! 24/7 haben wir uns mit allen Formen der Intro- und Extraversion beschäftigt, zwecks der Produktivität sind wir glatt zusammengezogen. Für unsere tägliche Dosis Ruhe sind wir auch brav immer früh schlafen gegangen und haben die anderen im Newsroom abends alleine gelassen. Außer jetzt gerade. 21:52 Uhr im ZMK – „Intro oder Extro?“ , das ist hier die Frage. #haiphappenuhaha #quelltext