Warten auf den goldenen Himmel

Warten auf den goldenen Himmel

Fußball ohne Fans war in den letzten Monaten keine Seltenheit. Das scheint sich jetzt wieder zu ändern. Nach und nach werden Zuschauer wieder in die Stadien gelassen. Viele werden sich darüber freuen, doch was ist mit denjenigen, die vielleicht gar nicht mehr zurückkehren? Über Menschen, die die Bindung zu ihrer Leidenschaft verloren haben.

At the end of a storm, there’s a golden sky.

Liedzeile aus „You’ll never walk alone“

„Goal probability: 6,6 Prozent“. Die Torwahrscheinlichkeit, kurz eingeblendet in der oberen Ecke des Fernsehers, der Kommentator liest sie vor. Ein unwahrscheinliches Tor also. Aber was soll’s, die Zahl ist so schnell vergessen, wie sie aufgetaucht war. Dennoch kann man sich ihr kaum entziehen. Wer ein Spiel der ersten oder zweiten Bundesliga im TV ansieht, wird regelrecht vom Zahlenwucher überhäuft. Schnellster Spieler, Angriffszonen, Ballbesitz, Pressing-Momente. Für jede Situation gibt es eine passende Statistik. Man könnte ein komplettes Spiel von der ersten bis zur letzten Minute nur in Zahlen wiedergeben. Dabei ließen sich die meisten Spiele der vergangenen anderthalb Jahre zunächst mit nur einer Zahl beschreiben: 0. Die Zuschauer im Stadion.

Natasha Schipke ist Teil dieser 0. Früher war sie Teil von 10.000 und aufwärts. Sie sitzt, wie so viele in diesen Zeiten, nicht im Stadion, sondern vor ihrem Laptop und spricht in die Kamera. Sie erzählt davon, wie ihr Vater anfing, sie zu Spielen mitzunehmen. Wie schade sie es findet, sich nicht mehr genau an ihr erstes Spiel erinnern zu können. Davon, wie sie mit dem „Virus“ – Fußball, nicht Corona – infiziert wurde. Sie erzählt von ihren ersten Begegnungen mit der Ultra-Szene, wie sie mit 15 Jahren im Stadion über Zäune kletterte, um zu ihnen in den Block zu kommen. Von Heimspielen und Auswärtsfahrten, von Trauer und Hoffnung und der Liebe zu ihrem Verein: Eintracht Braunschweig. Und sie erzählt, dass sie seit Beginn der Corona-Pandemie meistens nicht wusste, wann oder gegen wen eben dieser Verein eigentlich spielt oder gespielt hat. Ein Fußballspiel ohne Fans war für sie bis dahin undenkbar. Im Fernsehen will sie die Spiele nicht gucken, schließlich sei der Fußball in erster Linie für die Menschen, die in die Stadien kommen. Für Natasha beginnt eine Zeit, in der sie sich zunehmend von ihrer einstigen Leidenschaft entfremdet.

Anfang November 2020 gaben die Geschäftsführer der zwei größten, deutschen Vereine, Karl-Heinz Rummenigge und Hans-Joachim Watzke, ein Interview in der Sport Bild, in dem sie erstmals die Sorge um eine mögliche Entemotionalisierung äußerten. Nur wenige Tage später kam der Fanforscher Harald Lange von der Universität Würzburg zu einem ähnlichen Schluss. Die Fans würden sich vom Fußball abwenden, „und das millionenfach“, so Langes Prophezeiung.

Produkt Fußball

Im März 2020 fährt Natasha noch einmal in ihre alte Heimat, um die Eintracht spielen zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt ist eine Unterbrechung der Saison noch nicht beschlossen. Doch das Spiel wird, wie alle anderen auch, kurzfristig abgesagt. Natashas Hoffnung auf ein Abrücken vom „modernen Fußball“ ist zu Beginn der Pandemie zunächst groß. Die DFL gibt bekannt, dass alleine in der ersten und zweiten Bundesliga 13 der insgesamt 36 Vereinen die Insolvenz drohe, sollte die Saison komplett abgebrochen werden. Ein bisschen Schadenfreude mischt sich bei Natasha unter. Endlich würde man sehen, was da für eine Maschinerie hinter der Fußball-Industrie steckt, spätestens jetzt müssten die Vereine umdenken, sich neu aufstellen. Man müsse sich fragen, wie es sein kann, dass Unternehmen, die monatlich Millionen umsetzen, innerhalb von vier Wochen in ihrer Existenz bedroht sein können. Spätestens mit Beginn der Geisterspiele zerschellen Natashas Hoffnungen jedoch am Sonderstatus des Fußballs, wie sie es betitelt. Natasha selbst fällt es schwer zu sagen, wann eine Entfremdung bei ihr eingesetzt hat, die negative Entwicklung begann ja nicht erst mit der Pandemie. Trotzdem hat Corona einen Einfluss auf sie: „Ich habe mich das erste Mal bewusst damit auseinandergesetzt, ob ich weiterhin Teil dieses Produktes sein will“. Der Fußball nicht als Sport, nicht als Hobby, nicht als Leidenschaft. Der Fußball als Produkt.

Volle Stadien wie hier waren in den letzten anderthalb Jahren eher selten.

In den letzten Jahren hört man Dinge wie diese sehr oft aus der Anhängerschaft des Fußballs und immer ist klar, worauf dabei abgezielt wird: die Kommerzialisierung. Ein Thema, so durchgekaut wie der Gummiknochen eines jungen Labradors. Und doch immer aktuell, weil fast täglich neue Themen den Knochen zum erneuten Durchkauen freigeben. Steigende Rekordablösen für Spieler, der neue dubiose Sponsor auf dem Heimtrikot, TV-Gelder in Milliarden-Höhe. Und weil das anscheinend noch nicht reicht: Wie wäre es eigentlich mit einer Super League? Bei alldem kann man sich eines sicher sein: Die Mehrheit der Fans ist dagegen. Und damit ist nicht nur die aktive Fanszene gemeint, um die es hier hauptsächlich geht.

Bei einer 2017 unter Fußball-Fans durchgeführten Studie stimmten 69 Prozent der über 17.000 Befragten zu als sie gefragt wurden, ob die Grenze der Fußball-Kommerzialisierung erreicht sei. Der Protest der Fans ist jedoch nur selten von Erfolg gekrönt. Sowas führe zwangsläufig zu einem erhöhten Frustrationspotenzial, meint Jonas Gabler. Gabler ist Leiter der „Kompetenzgruppe Fankulturen & Sport bezogene soziale Arbeit“, kurz KoFaS, einer Gruppe von Wissenschaftler:innen, die sich mit gesellschaftlichen Themen im und um den Sport auseinandersetzen. Gabler kennt sich aus im Fußball. Vor allem, wenn es um die Fans geht. Die Corona-Pandemie habe deutlich gemacht, dass der Fußball nun einmal primär eine Unterhaltungsindustrie ist. Jeglichen Hoffnungen auf ein pandemiebedingtes Umdenken bei Vereinen und Verbänden wurde somit nach wenigen Wochen der Stecker gezogen. Wodurch zwangsläufig die Frage aufgeworfen wurde, was denn für eine Krise kommen muss, damit sich der Fußball reformiert? Gabler beantwortet diese Frage so: „Wenn ich im Fußball etwas verändern will, ist die Gefahr der Enttäuschung groß“. Soll heißen: Eine solche Krise gibt es nicht, oder man kann sie sich noch nicht vorstellen. Letzteres kommt einem vielleicht bekannt vor.

Dennoch engagieren sich viele Fans in Deutschland auch in Pandemie-Zeiten ehrenamtlich, um für ihre Interessen und Forderungen einzustehen. Auch Natasha zählt zu ihnen. Unter anderem ist sie bei „Unsere Kurve“ aktiv, einem Zusammenschluss von Fanorganisationen verschiedener deutscher Vereine. Tatsächlich habe Corona dazu geführt, dass sich einige Fans noch stärker engagieren, erzählt Thomas Kessen, Vorstandmitglied bei UK. Kessen geht es ähnlich wie Natasha. Er ist Fan vom VfL Osnabrück, beim Gespräch Mitte Mai 2021 weiß er nicht, wann seine Mannschaft das nächste Mal spielt. Das Engagement der aktiven Fans leidet anscheinend kaum unter dieser zunehmenden Abkehr. Die Arbeit bei „Unsere Kurve“ mache er wie so viele trotzdem weiter, erzählt Kessen. Weil es ihm Spaß macht. Wobei das nicht logisch sei, wie er zugibt. Was ihm noch Hoffnung auf Änderungen und Reformen im Fußball macht? Nichts. Mittlerweile gehe es nur noch darum, den Status Quo beizubehalten. Organisationen und Initiativen wie „Unsere Kurve“ kämpfen seit Jahren für einen stärkeren Dialog zwischen Fans und Vereinen oder mehr Möglichkeiten der Mitbestimmung für Vereinsmitglieder. Hinzu kommen Diskussionen um die Integrität des Wettbewerbs. Während der FC Bayern neunmal in Folge Meister wird, geht die Schere zwischen reichen und weniger reichen Clubs immer weiter auseinander. Hierzulande sorgt in diesem Zusammenhang die gerechtere Verteilung von Medienerlösen regelmäßig für hitzige Diskussionen zwischen Fans und Verbänden. Jedoch sind diese Vorstöße so gut wie nie von Erfolg geprägt. Die dadurch entstandenen Ressentiments wurden durch die Pandemie nur verstärkt. Für viele Fans wirkte Corona wie ein Katalysator.

Profi-Fußball und seine Fans während Corona. Ein Abriss.

Alles beginnt mit Geisterspielen

Am 11. März 2020 findet das erste Geisterspiel der Bundesliga-Geschichte statt. In einer Nachholpartie besiegt Borussia Mönchengladbach den 1. FC Köln mit 2:1. Galdbachs Trainer Marco Rose betonte nach dem Spiel, man wisse jetzt noch besser als vorher, „wie wichtig Fans für den Fußball sind“. Fanorganisationen fordern die sofortige Unterbrechung der Saison, solange bis Großveranstaltungen wieder möglich seien und Fans ins Stadion dürften. Am 16. März wird die Saison vorübergehend unterbrochen.

Der Ball rollt wieder

Am 16. Mai 2020 nimmt Deutschland als eines der ersten Länder den Spielbetrieb wieder auf. Die Saison soll zuende gebracht werden. Grund ist vor allem die drohende Insolvenz mehrerer Clubs, welche durch die Zahlung weiterer Fernsehgelder zumindest vorläufig abgewandt werden könnte. Auch deswegen zeigen einige Fans Verständnis. Gleichzeitig betonen sie aber, dass Fußball ohne Fans nur eine vorübergehende Maßnahme sein könne, um die Existenz der Vereine zu sichern. Gleichzeitig müsse es umgehend zu Reformen kommen, um den Profi-Fußball nachhaltiger zu gestalten.

Die DFL geht auf Fans zu

Am 16. September 2020 verkündet die DFL in diesem Sinne die Gründung einer „Taskforce Zukunft Profifußball“. Expertinnen und Experten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, unter ihnen auch Fanvertreter, sollen die Entwicklungen der letzten Jahre aufarbeiten und eventuell Reformentwürfe verfassen. Fanorganisationen zeigen sich jedoch schnell vom angeblichen Reformwillen der DFL enttäuscht. Als kurze Zeit später der neue Schlüssel für die Verteilung der TV-Gelder ab der Saison 2021/22 von der DFL bekanntgegeben wird, werden die Entscheidungen stark kritisiert. Der neue Schlüssel weiche kaum vom alten ab, die Schere zwischen großen und kleinen Vereinen werde sich so kaum verändern.

Supergau Super League

Ein weiteres Ereignis droht diese Schere jedoch weitaus deutlicher zu vergrößern. Am 18. April 2021 geben insgesamt 12 Vereine aus England, Spanien und Italien bekannt, eine Super League gründen zu wollen. Eine Investmentbank aus Amerika soll die Liga mit 3,5 Milliarden Euro finanzieren.  Gleichzeitig wollen die Vereine in ihren nationalen Ligen weiterspielen. Der Aufschrei ist riesig. Nicht nur bei den Fans, auch in der Politik, bei den Verbänden und Ligen, und bei Spielern ist deutlich Kritik zu vernehmen. Die beteiligten Vereine würden sich jedem Wettbewerb entziehen und die nationalen Ligen zerstören. Die UEFA kündigt an, all diese Vereine von ihren nationalen Ligen auszuschließen, alle teilnehmenden Spieler von Großturnieren wie der EM oder WM. Nach wenigen Tagen ziehen sich immer mehr Vereine zurück und verlassen das Projekt. Dies sei durchaus ein Erfolg der Fans gewesen, meint Jonas Gabler. Die massive Kritik an der Super League sei auch das Ergebnis der jahrelang von ihnen geführten Kampagnen.

Alles wieder normal?

Vom 11. Juni bis zum 11. Juli 2021 findet die Europameisterschaft der Männer statt. Das Turnier wird schon vor seinem Start von starker Kritik begleitet, da es in 10 verschiedenen Ländern ausgetragen werden soll, was angesichts der fortwährenden Pandemie bei vielen Menschen auf Unverständnis stößt. Gleichzeitig fordert die UEFA schon im Vorhinein Zugeständnisse der Gastgeberstädte ein, dass Zuschauer:innen im Stadion anwesend sein werden. Und auch während des Turniers kritisieren nicht nur Fans das Vorgehen der UEFA als diese von der britischen Regierung eine Erhöhung der Zuschauerzahl am Finalstandort London und gleichzeitig das Aussetzen der Quarantäneregeln für geladene Gäste des Verbands forderte, trotz der sich ausbreitenden Delta-Mutation des Coronavirus. Zudem überschattet ein Verbot, die Münchner Allianz Arena beim Spiel Deutschland gegen Ungarn in Regenbogenfarben erleuchten zu lassen, das Turnier. Für die UEFA sei dies ein klares politisches Zeichen und deshalb nicht mit den Statuten des Verbandes vereinbar. Für viele Fanszenen, die sich oft aktiv für Toleranz und Vielfalt engagieren, ist das ein fatales Zeichen vonseiten der UEFA.

Alle oder keiner

Dass die meisten aktiven Fans nämlich trotz der ständigen Enttäuschungen so lange dabeigeblieben sind, hat einen simplen Grund: sie hatten eine Wahl. Und diese fiel ihnen nicht schwer, schließlich sehen sie im Fußball mehr als nur den Sport. Wie Natasha. „Es ist eine Herzensangelegenheit, eine Leidenschaft. Ich gehe ja auch nicht einfach nur ins Stadion, um mir ein Spiel anzugucken, sondern um Leute zu treffen, mich zu engagieren und um zu versuchen, das Beste für meinen Verein zu erreichen“. Gerade das soziale Umfeld, welches sich viele Fans um den Fußball herum aufgebaut haben, habe bis vor Corona eine massenhafte Abwendung vom Sport verhindert, meint Fanforscher Gabler: „Fans gehen nicht für Fußball ins Stadion, sondern wegen der Geselligkeit und der Möglichkeit, ihre Emotionen auszuleben“. Eine Studie aus dem Jahr 2015 fand heraus, dass die eigene Verbundenheit zur Fan-Gemeinschaft der mit Abstand wichtigste Faktor für eine regelmäßige Anwesenheit an Spieltagen darstellt. Und auch für die Identifikation der Fans ist die Gruppen-Zugehörigkeit von immenser Bedeutung, wie Moritz Fedeneder von der AG Sozialpsychologie an der LMU München erklärt. Grundsätzlich strebe jeder Mensch nach einer positiven sozialen Identität, welche maßgeblich von der Zugehörigkeit zu einer Gruppe abhängt. Treffen mit diesen Gruppen machte die Pandemie unmöglich. „Als Folge einer abnehmenden Unmittelbarkeit der Gruppen nimmt auch die Bedeutung der Gruppe ab“, fasst Fedeneder zusammen. Es ist an sich sehr logisch: Man identifiziert sich über beziehungsweise mit einer Gruppe, man kann diese Gruppe nicht mehr treffen, folgerichtig nimmt die Identifikation ab. Ein möglicher Identifikationsverlust steht also am Ende einer Reihe von Dominosteinen, die durch Corona angestoßen wurden. Dass man diese Identifikationsquelle nicht unbedingt freiwillig aufgibt, erklärt wieso die Wahl „Fußball oder kein Fußball“ somit fast immer in dieselbe Richtung ausfiel. Aber die Pandemie ließ den Menschen keine Wahl. Notgedrungen mussten sie sich neu aufstellen. Das Wochenende war auf einmal kein Synonym mehr für Heimspiel oder Auswärtsfahrt. Also musste Ersatz her, sagt Gabler, in welcher Form auch immer: „Die Menschen mussten neue Rituale erlernen, bei denen der Fußball nicht im Zentrum steht. Mit diesen Ritualen freundet man sich dann vielleicht auch an und dann läuft der Fußball Gefahr, bei den Personen an Stellenwert zu verlieren“.

Natasha lebt zu Pandemiebeginn schon länger nicht mehr in Braunschweig, Stadionbesuche sind ohnehin seltener geworden, bei ihr klafft deshalb kein Loch. Der Alltag ist auch ohne Fußball gut gefüllt. Die Erkenntnis ihrer Entfremdung vom Fußball geht dennoch nicht spurlos an ihr vorüber. Plötzlich schießen ihr Gedanken durch den Kopf, mit denen sie nie gerechnet hat. Gedanken, die ihre Liebe zum Fußball hinterfragen und gleichzeitig für sie erschreckende Antworten liefern. Allein die Vorstellung an ein Leben ohne den Fußball ist für sie bis zu diesem Zeitpunkt undenkbar. Zu groß ist die Liebe zur Eintracht.

Die Liebe zu einem Verein, die hat auch Jens H.Name geändert gespürt. Jens hat 20 Jahre lang für den Fußball und seinen Verein, Preußen Münster, gelebt, ihn über alles andere gestellt. Klassen mussten wiederholt werden, Beziehungen sind daran zu Ende gegangen, seinen ersten Job hat er deswegen auch verloren. Heute ist von der damaligen Leidenschaft in dieser Form nur noch wenig übrig. Schon einige Zeit vor Corona hat sich Jens von seinem Verein abgewandt. Bis dahin war es ein langer, schleichender Prozess. Die Freiheiten, die er und die anderen Fans im Verein einmal genossen hatten, lösten sich zunehmend auf. Bis irgendwann gar nichts mehr zurückgekommen sei. In Jens Erzählungen reiht sich eine Anekdote an die nächste. Über ungerechte Stadionverbote, VIP-Plätze wie in Mailand und „Klatschaffen“, die der Verein hätte haben wollen. Die Entwicklung eines Vereins in Zeiten des „modernen“ Fußballs, wahrscheinlich könnte man sie allein an seiner Person nacherzählen, so viel hat er miterlebt.

Fans und ihre Vereine

Diese Vereine sind es jetzt auch, in denen Fanbeauftragte und Sozialarbeiter:innen versuchen, die Fans trotz der pandemie-bedingten Distanz an den Club zu binden. Eine zunehmende Entemotionalisierung wird auch von ihnen wahrgenommen, bestätigt Sebastian Walleit, Fanbeauftragter bei Borussia Dortmund. Selbst bei einer Vollauslastung sei nicht damit zu rechnen, dass von 250 Ultras mehr als 200 wiederkämen, zu groß sei die Fußballmüdigkeit schon vor Corona gewesen. Gerade unter aktiven Fans leide die Identifikation mit dem Verein oder dem Sport an sich schon lange. Also stellen sie ihn hinten an. Sagen, sie gehen der Gruppe wegen. Für Walleit ist diese Entwicklung absolut nachvollziehbar, er selbst habe großen Respekt vor der Entscheidung einzelner Fans, sich vom Fußball abzuwenden. Doch auch denjenigen sei bewusst, dass beim BVB, wie auch bei vielen anderen Vereinen, der frei gewordene Platz im Stadion nach einer Woche wieder belegt sein wird. In einem vollen Stadion wird sich das Wegbleiben einzelner Personen kaum auf die Stimmung auswirken.

Stadionstimmung nach Corona

„Bei einer Teilzulassung wird man der Stimmung anmerken, dass ein organisierter Support fehlt. Ich glaube aber, dass bei einer Vollauslastung ohne Maßnahmen die Stimmung relativ schnell zurückkommen wird.“ – Julian Einfeldt, Fanladen St. Pauli

„Ich befürchte, dass nach anderthalb Jahren Pandemie bei vielen Fans ein gewisser Hemmmechanismus da ist.“ – Matthias Bettag, BAFF (Bündnis aktiver Fußballfans)

„Bei einer Teilzulassung fehlen die Ultras als Motor. Eine Stimmung wie vor Corona kann nur durch eine Vollzulassung zurückkommen.“ – Sebastian Walleit, Fanbeauftragter Borussia Dortmund

Was nicht heißt, dass man den Verlust dieser Fans einfach in Kauf nimmt. Über viele persönliche Gespräche oder die Digitalisierung der vorhandenen Angebote habe man versucht, den Kontakt zu den Fans zu halten. Mit wie viel Erfolg diese Maßnahmen verbunden sind, wird sich erst noch zeigen müssen.

Braucht es überhaupt Fans?

Für die Vereine ist es wichtig mit den Fans, gerade denen aus der aktiven Fanszene, in Kontakt zu bleiben. Auch wenn nicht gerade eine Pandemie tobt. Aufgrund ihres oft lautstarken und deutlichen Protests gegen die zunehmende Kommerzialisierung geraten die Fans trotzdem immer wieder selbst in die Kritik. Wobei hier eine wichtige Unterscheidung zu treffen ist, wie Jonas Gabler betont. Es gehe dabei meist nicht um die Fans und auch nicht um die komplette aktive Fanszene. Im Zentrum der Kritik stehen meist die Ultras. Das wohl zurzeit prominenteste Beispiel ist der Konflikt zwischen der Ultra-Szene und Dietmar Hopp.

Ultras gegen Dietmar Hopp. Das Beispiel FC Bayern.

Ende Februar 2020, kurz bevor die Bundesliga-Saison unterbrochen wurde, tritt der FC Bayern zum Auswärtsspiel bei der TSG Hoffenheim an. Mitte der zweiten Halbzeit entrollen Ultras der Gästemannschaft mehrere Banner auf denen der Hauptgesellschafter der TSG, Dietmar Hopp, als „Hurensohn“ bezeichnet wird. Das Spiel wird mehrmals unterbrochen und steht kurz vor dem Abbruch, in den letzten Minuten spielen sich die Spieler beider Mannschaft den Ball im Mittelkreis hin und her. Nach dem Spiel hagelte es scharfe Kritik für die verantwortlichen Fans. Der damalige DFB-Präsident Fritz Keller sprach von einem „Tiefpunkt“, Bayern-CEO Rummenigge vom „häßlichen Gesicht des Fußballs“. Und schon während des Spiels bezeichnete der Sky-Kommentator Kai Dittmann die Fans als „Leute, die anschei­nend mit Ras­sismus (gemeint ist Anti­ras­sismus, d. Red.), mit Gleich­stel­lung, mit Demo­kratie, Aus­ge­wo­gen­heit, einem freien Leben nichts anfangen können“. Auch die Berichterstattung rund um dieses Ereignis wurde im Nachhinein stark kritisiert. Gleichzeitig müssen sich die Ultras den Vorwurf gefallen lassen, dass sie mit dem Wortlaut ihres Protests, gerade in diesem Kontext, über die Stränge schlagen. Wodurch die Frage aufgeworfen wird, ob die Ultras mit ihrem Verhalten nicht auch eine Mitschuld an der Eskalation des Konflikts auf sich nehmen müssen. Das ZDF hat diesbezüglich eine sehr sehenswerte Dokumentation gedreht, die den Konflikt um Dietmar Hopp erläutert.

Dieser Konflikt gilt als Musterbeispiel für die Auseinandersetzung der Ultras mit der Kommerzialisierung. Einer Auseinandersetzung, die oft von der Frage geprägt ist, für wen der Fußball eigentlich da ist. Die vorherrschende Meinung in der gesamten aktiven Fanszene ist dabei deutlich: Fußball ist für die Fans. Einige Funktionäre kritisieren in diesem Zusammenhang, die Fans würden sich für zu wichtig halten. Und beziehen sich dabei auch mal auf die gesamte Szene, nicht nur die Ultras. Den Namen der Initiative „Unser Fußball“, welche sich für Reformen im Fußball stark macht, bezeichnete der damalige Bayern-Vorstandschef Rummenigge als „anmaßend“. Die Fans seien zwar Teil des Fußballs, aber er gehöre ihnen nicht, so Rummenigge. Auch Uli Hoeneß greift in eine ähnliche Schublade, wenn er sagt, der Fußball sei auch ohne Ultras möglich. Aus ökonomischer Sicht sei das zunächst natürlich nicht falsch, meint auch Alex Fischer vom Club Nr. 12, einer Vereinigung aktiver Fans des FC Bayern. Dafür seien nicht nur die Ultras, sondern die aktiven Fans generell, ein zu kleiner Faktor.


Wie kamen die Ultras eigentlich in die deutschen Stadien? Ein Podcast über die Geschichte der Fankultur.

Allerdings könne es für den Verein zum Problem werden, wenn die Stimmung im Stadion stark nachlässt. Womit man wieder beim Thema der Entfremdung wäre. Nicht nur der FC Bayern, auch die DFL sieht die Stimmung in den Stadien, welche hauptsächlich von den Ultras ausgeht, als Verkaufsfaktor, der einen nicht unwesentlichen Teil im „Produkt“ Fußball einnimmt. „Die DFL versteht die Fankultur als ihre USP (unique selling proposition, d. Red.) und grenzt sich genau darüber von anderen europäischen Top-Ligen ab“, erklärt Jonas Gabler. Es sei demnach durchaus im Interesse der Vereine und der DFL, die Stimmung in den Stadien aufrecht zu erhalten und eine zu starke Entfremdung zu verhindern. Gerade die DFL halte sich deswegen meist mit Kritik an Ultras und anderen aktiven Fans zurück. Die Errichtung der „Taskforce Zukunft Profifußball“ habe laut Gabler gezeigt, dass man sich bemühe, auf die Fans zuzugehen. Jedoch zeigten sich diese von den Ergebnissen eher enttäuscht. Zu stark habe man die Diskussion um mögliche wirtschaftliche Maßnahmen auf eine internationale Ebene verschoben. Es bleibt also abzuwarten, ob sich die DFL diesbezüglich noch einmal mit den Forderungen der Fans auseinandersetzt.

(Gerne hätten wir auch mit Vertreter:innen der DFL über das Thema einer zunehmenden Entemotionalisierung in Fußball-Fanszenen gesprochen. Leider erklärte sich dort niemand für ein Gespräch bereit. Die Begründung: Man sehe zu diesem hochspekulativen Thema keinen Zugang.)

Ob die da jetzt Fußball spielen oder ein Kegelturnier veranstalten, ist mir komplett egal.

Jens kann es egal sein, er hat die Reißleine bereits gezogen. Ins Stadion ist er trotzdem weiterhin gegangen, wenn auch nicht so regelmäßig. Und er wird es auch wieder tun, nach Corona. „Ob die da jetzt Fußball spielen oder ein Kegelturnier veranstalten, ist mir aber komplett egal“. Er will einfach seine Leute wiederzusehen, mit denen er die, laut ihm, „beste Zeit seines Lebens“ verbracht hat. In einen Gewissenskonflikt, weil er so ja weiterhin den Verein unterstützt, kommt er dadurch nicht: „Der Platzwart muss ja auch irgendwie bezahlt werden, der hat mir mal beim Umzug geholfen“. Komplett vom Fußball lösen konnte sich Jens ohnehin nicht. Seinen jährlichen Urlaub verbringt er oft auf Reisen, und da mag es schon mal vorkommen, dass zur selben Zeit ein Fußballspiel stattfindet, welches man besuchen könnte. 72 Kreuze zählt seine Fußball-Landkarte bis jetzt, über Albanien und Kuwait, bis nach Belize. Der Fußball nimmt statt des Lebens jetzt halt „nur“ noch den Urlaub ein.

Seinen Verein hat Jens, zumindest emotional, hinter sich gelassen. Natasha, und mit ihr vermutlich vielen anderen, steht ein solcher Prozess vielleicht noch bevor. Allzu viele Gedanken möchte sie daran noch nicht verschwenden. Ihre Überlegungen sind bis jetzt oft nur Theorie, in die Praxis werden sie zurzeit nur notgedrungen umgesetzt, doch ob das auch so bleibt? Anfang April muss Eintracht Braunschweig auswärts in Osnabrück antreten. Auf der Fahrt dorthin wird der Mannschaftsbus von einem Autokorso der Fans begleitet, andere warten mit wehenden Fahnen auf Autobahnbrücken. Später sieht Natasha Videos der Fans im Netz, und wird von ihren Emotionen übermannt: „Plötzlich habe ich einfach angefangen zu weinen. Als ich die Menschen dort gesehen habe dachte ich mir nur wie geil es ist, dass der Fußball einen so verbindet“. Auf einmal merkt Natasha, dass solche Momente sie doch noch packen. Vor allem zu einer Zeit, in der sie das nicht mehr erwartet hätte. Vielleicht ist diese Entfremdung also auch nur ein Selbstschutz vor der ständigen Realisation, dass man zurzeit keine Chance hat, dabei sein zu können. So wie Natasha könnte es zurzeit vielen gehen. Wie viele es genau sind und ob sich eine entsprechende Zahl tatsächlich im Bereich der Millionen widerspiegelt, wie es der Fanforscher Harald Lange prophezeite, lässt sich womöglich erst beantworten, sobald die Fans wieder ins Stadion dürfen. Fest steht: Die Kommerzialisierung schreitet voran, während Corona mehr denn je, das haben Beispiele wie die Super League nur allzu stark deutlich gemacht. Gleichzeitig entfernen sich so die Vereine immer weiter von denen, die sie unterstützen.

In der wohl bekanntesten Fußballhymne aller Zeiten heißt es: „At the end of a storm, there’s a golden sky“. Ein goldener Himmel, der am Ende des Sturms wartet. Ob Natasha auf ihn warten will, weiß sie noch nicht. Noch kann sie nicht sicher sagen, ob sie wieder ins Stadion gehen wird. Die nächsten ein bis zwei Jahre kann sie sich das aktuell nicht vorstellen. Zumindest solange nicht alle reinkommen. Und damit ist sie nicht allein. „Alle oder keiner“ ist ein Spruch, den man immer wieder aus den aktiven Fanszenen hört, die Gruppe steht über allem. Und wenn, dann wird es wohl auch sie sein, die die Leute zurück ins Stadion treibt. Damit irgendwann keine 0, sondern wieder eine 20.000 in die Statistik eingetragen werden kann. Bleibt nur die Frage, wer in den letzten Monaten auf der Strecke geblieben ist.

Das erste Fußball-Spiel, an das ich mich komplett erinnern kann, ist das Eröffnungsspiel der WM 2006, Deutschland gegen Costa Rica. Seitdem hat mich dieser Sport nicht mehr losgelassen. Während am Anfang noch die typische kindliche Faszination, in der Podolski, Schweinsteiger und Klose in meinen Augen Helden waren, das Interesse leitete, habe ich später angefangen, mich zunehmend mit sportpolitischen Themen auseinanderzusetzen, oft auch sehr kritisch. Trotzdem habe ich mich immer als Fan gesehen und alle möglichen Spiele verfolgt und tue das auch immer noch. Auch wenn ich weiß, dass es nur wenig gute Gründe gibt, an einem Donnerstagnachmittag im Juni zuzusehen, wie Wales gegen die Türkei in Baku spielt. Bei den vielen Gesprächen, die ich in den letzten Wochen und Monaten geführt habe, ist mir aber zum ersten Mal richtig deutlich geworden, dass mein „Fan-Sein“ nicht zu vergleichen ist mit den Menschen, für die der Fußball einfach so viel mehr ist als nur ein Sport, sondern oft ein riesiger Teil ihres Lebens.