Gewissen oder Gehorsam

 
 Die Entscheidung eines Bundeswehrsoldaten, den Gehorsam zu verweigern

Die folgende Geschichte handelt von den Erlebnissen eines Bundeswehrsoldaten während seines Auslandseinsatzes. Alle Namen sind von der Redaktion geändert worden. Die Fotos sind Symbolbilder, sie wurden nicht am Handlungsort aufgenommen.

Tag zwei des Auslandseinsatzes der Bundeswehr. Zehn Uhr Vormittag. In der Operationszentrale (OPZ) koordinieren fünf Soldaten die Kommunikation mit dem Einsatzlager. Das Telefon auf Stabsfeldwebel Mathias Grubers Schreibtisch klingelt. Eine neue Meldung geht ein. Er greift zum Hörer und hebt ab.

Sofort knackt eine sonore Stimme durch den Lautsprecher: „Hier spricht Kommandeur Hoppenstedt aus dem Einsatzlager. Wir brauchen das Gefechtsfahrzeug VW Bus T4. Bitte marschbereit machen und drei Tage einsatzbereit ausstatten. Mit vier Mann besetzt. Deadline: morgen früh acht Uhr im Einsatzlager.”

Der 42-jährige Gruber legt den Hörer wieder auf den Tisch ab und nimmt den Kugelschreiber zur Hand. Er notiert die Meldung, wie befohlen. Motor für VW T4, marschbereit, drei Tage einsatzbereit, vier Mann Besatzung.  Bis morgen früh acht Uhr ins 200 Kilometer entfernte Einsatzlager.

Gruber ist seit 20 Jahren bei der Bundeswehr, zehn Jahre davon hat er im Ausland gedient. Zeitweilig war er selbst im Einsatzlager stationiert. Währenddessen hat er erfahren, wie abhängig die Kameraden im Lager von der Operationszentrale sind. Kommandeur Hoppenstedt und sein Team benötigen Verstärkung – bis morgen früh.

Gruber blickt hoch zur Wand neben seinem Schreibtisch. Zwischen Listen, Übersichten und Landkarten hängt der Zeitplan für die Transporte. Heute Nachmittag um 16 Uhr fährt ein Konvoi Richtung Einsatzlager. Die perfekte Transportmöglichkeit für die angeforderten vier Mann plus Fahrzeug. Dafür muss Stabsfeldwebel Gruber genau drei Anrufe tätigen und die Sache ist geklärt.

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Aber er ruft nicht an. Denn für alle Anforderungen gilt: Das Lager fordert Ressourcen an, die OPZ nimmt diese an, der Major segnet sie ab. Dann erst dürfen Stabsfeldwebel Gruber und seine Kameraden die Ressourcen organisieren. So hat es Major Thomas Schilling persönlich befohlen. Befehlen muss Gehorsam geleistet werden. Die Vorgesetzten geben Befehle, die Untergeben folgen. So schreibt es das  Soldatengesetz vor.

Major Schilling wird wohl wieder gegen 14 Uhr ins Büro kommen. Dann wird er die Anforderungen einsehen. Nach seinen Besprechungen, nach dem Mittagessen, nach seinem Sport. So wie gestern. Dann wird es aber zu spät sein, den angeforderten T4 inklusive Mannschaft marschbereit zu machen. Dann werden sie den Konvoi um 16 Uhr nicht erreichen, dann werden sie nicht morgen früh im Einsatzlager sein. Gruber schaut nochmal auf die Liste. Der nächste Konvoi fährt erst wieder in zwei Tagen. Viel zu spät. Gruber greift zum Telefon.

Sieben Minuten später öffnet sich die olivfarbene Türe des Bürocontainers. Hauptmann Haller tritt ein.  „Stabsfeldwebel, Sie haben mich angefordert.” Gruber schildert die Lage. Der Hauptmann nickt. „Also, was haben Sie vor, Stabsfeldwebel?” Gruber sprudelt los: „Die Organisation ab jetzt selbst übernehmen. Wir können nicht auf Major Schilling warten. Die Kameraden im Einsatzlager sowieso nicht, die sind auf uns angewiesen. Unser Auftrag ist es, die angeforderten Ressourcen schnellstmöglich zu liefern. Das ist unser Job hier. Die Kameraden im Lager verlassen sich auf uns.”

Hauptmann Haller runzelt die Stirn: „Gruber, Sie wissen schon, wie der Befehl des Majors lautet: Annehmen, sammeln, absegnen lassen.” Gruber bleibt hartnäckig: „Der Major ist aktuell in wichtigen  Meetings und wird frühestens ab 14 Uhr die Organisation absegnen. Bis dahin vergeht wertvolle Zeit und wir sitzen hier rum, nichts passiert. Das ist doch nicht unser Auftrag.“

Haller versteift sich: „Das haben Sie Major Schilling gestern schon verdeutlicht. Dennoch hat er seinen Befehl anders erteilt. Major Schilling ist verantwortlich für die Organisation in der Zentrale. Er ist selbst für seine Befehle verantwortlich. Und wir als seine Untergebenen führen diese aus. Befehl ist Befehl.”

Stabsfeldwebel Gruber schaut sich um. Er blickt in die ratlosen Gesichter seiner Kameraden. Einige von ihnen waren noch nie im Einsatzlager. Die jungen Männer wissen nicht, wie stark diese Abhängigkeit zwischen Einsatzlager und Zentrale ist. Er selbst war vor zwei Jahren während eines Einsatzes im Lager stationiert, zusammen mit seinen Kameraden Wittmann und Paintner.

Sie teilten Kameradschaft, aber auch Schmerz und traumatische Anblicke. In der Bundeswehr hat Gruber einmalige Erfahrungen durchlebt – und Freundschaften geschlossen. Wittmann und Paintner sind auch dieses Mal im Lager stationiert. Sie zählen auf Gruber.

Die Zentrale organisiert, das Lager setzt den Auftrag um. Führung und Kameradschaft, es gibt kein entweder oder. Gruber setzt eine entschlossene Miene auf. Seine klaren blauen Augen fokussieren den Vorgesetzten Haller, seine Stimme klingt ruhig und bestimmt: „Hauptmann, Kameraden. Wir machen das jetzt so, wie ich es sage. Ansonsten läuft der Laden nicht.”

Haller und die anderen in der Zentrale sind nicht begeistert von Grubers Vorhaben. Das ist Gehorsamsverweigerung. Damit macht sich Soldat Mathias Gruber strafbar.

Dennoch gewährt Hauptmann Haller seinem Untergebenen das Vorhaben: „Gruber, Sie wissen, was Sie tun. Von uns allen haben Sie die meiste Erfahrung in Auslandseinsätzen gesammelt. Der Erfolg des Auftrags steht an erster Stelle. Wir machen das also, wie Sie gesagt haben. Aber auf Ihre Verantwortung.”

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Das läuft sechs Wochen lang so. Die Sonne brennt auf das kahle Land zwischen den felsigen Bergen. 30 Grad täglich. Die Soldaten schwitzen. In den Containern staut sich trockene Luft.

Die heißen Augusttage vergehen, die Nächte werden kühler. Wilde Hunde streunen umher, im freien Gelände zirpt, jault und knistert die Natur. Tagsüber färbt Platzregen den staubigen Boden in ein sattes Braun.

Das Basislager fordert Ressourcen an, das Team in der OPZ koordiniert und organisiert die Materialien. Major Schilling macht viel Sport. Alles läuft glatt.

Der September bringt böigen Wind. Im Hochgebirge beginnt die herbstliche Witterung eher. Im fast 2000 Meter hoch gelegenen Einsatzlager fallen hochsommerliche 40 Grad nachts auf zehn Grad. Nach langen, kalten Nächten in den Zelten freuen sich die Soldaten auf die warme Verpflegung.

Aus der sporadischen Feldküche duftet es nach Kartoffeln, Zwiebeln und Gewürzen. Leckeres Essen ist extrem wichtig für die gute Stimmung im Lager.

Die Soldaten rücken täglich aus: Fahrzeug- und Personenkontrolle. Die Bundeswehr sichert Zivilisten und koordiniert die Lage. Dieser Einsatz ist bedeutend für die Bundeswehr. Er beeinflusst die Außenwirkung für Deutschland maßgeblich.

Kommandeur Hoppenstedt ist das bewusst. Er hat den übergeordneten Auftrag im Blick und kommandiert seine Untergebenen im Einsatzlager zielorientiert. Er gibt klare Befehle und lässt den Soldaten Handlungsspielraum, den Befehl situationsgerecht auszuführen. Er lebt Innere Führung nach dem Prinzip der Auftragstaktik.

Es regnet wieder. Die Temperaturen reichen nachts inzwischen nur noch knapp über den Nullpunkt. Die Soldaten im Einsatzlager bauen zusätzliche Heizgeräte und Lüfter auf. Die Zelte werden wärmer, die klammen Uniformen trocknen langsam. Das Heizöl wird knapp.

Kommandeur Hoppenstedt nimmt das Telefon zur Hand und ordert Nachschub an Öl und Heizgeräten an. Auf der anderen Seite der Leitung  hebt Stabsfeldwebel Gruber ab und organisiert die Ressourcen.

Die US-Army hat ihr Lager in der Nähe der Bundeswehr-Anlage aufgeschlagen. Darum kann sie die benötigten Mengen Heizöl schnell liefern. Schon früher hat Stabsfeldwebel Gruber eng mit den amerikanischen Kollegen zusammengearbeitet. Im Einsatz hilft man sich multinational, wann immer es geht. So sind ihm aber auch Unterschiede der beiden Armeen bewusst geworden.

Gruber antwortet: „Das Einsatzlager hat heute Morgen 56 Heizgeräte und 15.000 Liter Heizöl angefordert. Wir haben 32 Stück schon aufgetrieben. Die restlichen 24 Heizgeräte liefern die Amerikaner. Die US-Army bringt auch die 15.000 Liter Öl mit, holen gegen 15.30 die anderen Heizgeräte hier ab und transportieren alles pünktlich bis 19 Uhr zum Einsatzlager.”  

Der Major schluckt laut. Seine blonden Augenbrauen schieben sich zusammen, seine Stirn wirft tiefe Falten. Er blickt Stabsfeldwebel Gruber ungläubig an. „Stabsfeldwebel Gruber. Versteh ich richtig, dass Sie eigenmächtig gehandelt haben. Die angeforderten Materialien schon organisiert haben, ohne mein Okay einzuholen?”

Gruber erwidert: „Ja, Major Schilling. Die Kameraden im Lager benötigen die Heizgeräte so schnell wie möglich. Die Uniformen sind vom Regen nass. Die Heizgeräte und das Öl haben höchste Priorität, sie müssen noch vor dem Nachteinbruch im Lager ankommen.” – „Der Befehl lautet, Sie sammeln die Anforderungen, übergeben sie mir und ich entscheide, wie weiter verfahren wird!” „Herr Major, ich konnte Sie nicht fragen, da Sie ja nie vor Ort sind.”

Schillings Miene verhärtet sich, seine Lippen pressen aufeinander.

„Hören Sie mal, Gruber: Wenn Sie meine Befehle umgehen und selber entscheiden, dann brauche ich ja hier gar nichts mehr zu machen.“

„Herr Major, das haben Sie ja in den letzten Wochen auch nicht getan.“

Die restliche Mannschaft ist still. Die Luft im Raum knistert. Gruber hatte sechs Wochen lang gegen den Befehl des Majors gehandelt – und jetzt ist er aufgeflogen. Das war Gehorsamsverweigerung. Es können rechtliche Konsequenzen folgen. Thomas Schilling nimmt den Ungehorsam seines Untergebenen persönlich, er ist empört.

Mathias Gruber aber auch. Die Ressourcen wurden rechtzeitig organisiert, die Kameraden haben ihre Materialien pünktlich bekommen. Gruber hat sich richtig entschieden – damals, vor sechs Wochen. Er hat Gehorsam verweigert, aber sich gleichzeitig für sein Gewissen entschieden. Gruber beschließt für sich, mit den Folgen leben zu können.

Und die Konsequenzen folgen: Am nächsten Tag beim Abendessen dirigiert  Major Schilling Stabsfeldwebel Gruber zum Zwei-Augen-Gespräch. Die beiden sitzen sich am Esstisch nahe der Feldküche gegenüber. Es gibt gegartes Gemüse mit Reis. Beide schlucken.

Dann spricht Schilling in scharfem Ton:

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„Sie wissen ja dass Sie demnächst durch mich beurteilt werden. Und ich versichere Ihnen, dass Ihr Handeln der letzten Wochen nicht unberücksichtigt bleiben wird, Herr Gruber.”

Schillings arroganter Blick spiegelt sich in der Messerspitze, welche auf Grubers Tablett ruht. Mathias Gruber fokussiert seinen Gegenüber, atmet lange ein und sagt selbstsicher:

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„Herr Major. Jede Beurteilung ist eine subjektive Sicht eines Einzelnen.”

Gruber nimmt sein Tablett und verlässt den Raum.

Sechs Monate später ist der Einsatz beendet. Die Lager werden abgebaut und die Soldaten dürfen nach Hause. Zurück in Deutschland zahlt Stabsfeldwebel Mathias Gruber den Preis für seine Gehorsamsverweigerung.

Seine Bewertung lautet: Mittelfeld, unteres Mittelfeld. Das ist Grubers schlechtestes Zeugnis in seiner gesamten Bundeswehr-Karriere. Er schluckt. Der Major hat seine Drohung eingehalten. Rechtliche Schritte werden aber nicht eingeleitet.

Später ruft Kommandeur Hoppenstedt an: Auch er hat seinen Untergebenen Bewertungen geschrieben. Als Kommandeur steht er über dem Major Schilling und  benotet folglich auch dessen Leistung. Dabei ist ihm eine Besonderheit ins Auge gefallen: Stabsfeldwebel Mathias Gruber ist von Spitzenleistungen aufs untere Mittelfeld herabgestuft. Was ist da vorgefallen?

Der Kommandeur geht dieser Auffälligkeit nach und erfährt die ganze Geschichte. Er selbst war ja im Einsatzlager stationiert. Er hat mitbekommen, wie die Organisation lief. Und er war absolut zufrieden damit. Er selbst hat mit seinen Kameraden im Zeltlager gefroren und war angewiesen auf die Zuverlässigkeit der Soldaten in der Operationszentrale.

Gruber hat seinen Job sehr gut gemacht. Er hat den Erfolg des Auftrags garantiert, hat Kameradschaft bewiesen und vor allem seine Erfahrungen und seinen gesunden Menschenverstand genutzt: Er hat nach seinem Gewissen gehandelt. Hoppenstedt revidiert Schillings Beurteilung und stellt Gruber ein hervorragendes Zeugnis aus, woraufhin er eine Gehaltsklasse nach oben gestuft wird.

Die Bundeswehr basiert wie jedes Militär auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam. Der Stabsfeldwebel hat seine gesamte Karriere über vorbildlich Befehl und Gehorsam erfüllt. Was die Bundeswehr als Armee einzigartig macht: das Prinzip der Inneren Führung.

Die außergewöhnliche Geschichte des Protagonisten ist das gelebte Beispiel von Innerer Führung. Eine Gehorsamsverweigerung mit Happy End.

Der preußische General Carl von Clausewitz (1780-1831) hat Innere Führung mit folgenden Worten beschrieben: „Die Fehler der oberen Führung werden durch die Bedachtsamkeit der Truppe im Keime erstickt.“

Das deutsche Militär in seiner heutigen Form ist geprägt von den Ereignissen seiner Geschichte. Wie ist das Prinzip Innerer Führung entstanden? Wie hat sich das Berufsbild des deutschen Soldaten im Laufe der Zeit verändert?

Der folgende Zeitstrahl beginnt Anfang des 19. Jahrhunderts, als das Führen mit Auftrag seinen Anfang hatte. Er veranschaulicht, wie und wann das Prinzip der Inneren Führung in die Bundeswehr integriert wurde.

Landschaftsfotos: Florian Kronawitter

[ssba]

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