Gegangen, um zu bleiben

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Der 19-jährige Mohammed Al Hamdo beginnt mit 14 Jahren, Widerstand gegen das Regime al-Assads zu leisten. Als Journalist arbeitet er gegen die staatsgesteuerten Medien und als Krankenpfleger rettet er die Leben derer, die seinesgleichen sind. Für seine Mitmenschen setzt er jeden Tag sein Leben aufs Spiel. Nach zwei Monaten Folter durch die Hisbollah muss er Syrien verlassen. Mit seiner Mutter und den fünf Geschwistern macht er sich auf den Weg von Land zu Land. Als ältestester Sohn ist es seine Aufgabe, seine Familie bis nach Deutschland zu seinem Vater zu bringen. Er erzählt von seiner Flucht: seine Gedanken, Gefühle und Erlebnisse.

Der Nahostexperte Ulrich Tilgner hat sich jahrelang immer wieder in den Krisengebieten aufgehalten. Als Auslandskorrespondent berichtete er sowohl für die dpa, als auch für das ZDF, ARD sowie für diverse Zeitungen. 
So schätzt er die Situation von Widerstandskämpfern in Syrien ein.

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Erste Station: Syrien

Mohammed erzählt:

Es ist ungefähr zehn Uhr nachts. Mit einem Ziel vor Augen gehe ich mit großen Schritten voran. Meine Familie hinter mir her. Nach all den Qualen kann ich dieses Land nicht mehr ertragen. Ich hatte mir geschworen, dafür zu kämpfen. Für mein Volk, für mein Land. Doch nach zwei Monaten Folter und so vielen Toten muss das ein Ende nehmen. Allein für meine Familie muss ich gehen. Diese Entscheidung ist gefallen, auch wenn mein Herz mit jedem Schritt, den ich mich von meiner Heimat entferne, ein kleines bisschen mehr bricht. Mir ist bewusst, dass noch ein langer, steiniger Weg vor uns liegt, aber das nehme ich gerne in Kauf. Wenn es sein muss, werde ich meine kleinen Geschwister tragen. Bis zu einem bestimmten Punkt könnten wir noch das Taxi nehmen. Aber dann geht es zu Fuß weiter in die Türkei.

Auf dem Weg zur syrischen Grenze müssen wir von Checkpoint zu Checkpoint. Fünf Tage sind wir bereits unterwegs. Am Letzten scheint es fast zu scheitern. „Du hast eine Kamera dabei. Du bist sicher ein Journalist“, sagt einer der Wachmänner des Islamischen Staats. „Dann hast du sicher noch einen Laptop dabei.“  Hektisch durchsuchen sie meine Tasche. Sollten sie herausfinden, dass ich wirklich ein Journalist bin, würde ich gleich hier erschossen werden. Mir geht nur durch den Kopf, dass meine kleinen Geschwister dabei zusehen müssten. Sie durchwühlen meine Tasche, finden meinen Laptop Ich spüre, wie meine Knie zu schlackern beginnen.

Alle meine Daten waren verloren. Alles, wofür ich gearbeitet hatte, war verloren. „Gut. Du kannst gehen.“

Dieser Satz hallt noch Stunden später in meinen Ohren. Weinend bewege ich meine Familie zum Gehen. Einmal drehe ich mich noch um.

Zweite Station: Türkei

In der Türkei ist es bitterkalt. Ein eisiger Wind weht durch die Gassen. Wir sind Syrer. An Syrer werden keine Wohnungen vermietet. Und wenn, dann zu einem hohem Preis. Zu Anfang ist das nicht in unserem Budget. Ich muss einen Job als Buchhalter annehmen. Wenig Geld. Keine Pause. So ist das, wenn man kein Einheimischer ist. Eine Woche lang ist es an mir, meine Familie auf den kalten Straßen durchzubringen. Wenn meine kleinen Geschwister nach Essen fragen, stehen mir Tränen in den Augen. Ich habe nichts. Mein Onkel, der auch in der Türkei lebt, bietet uns Hilfe an. So können wir zumindest ein kleines Zimmer mieten. Zu siebt erscheint das menschenverachtend, aber immerhin haben wir einen sicheren Platz zum Schlafen und ein Dach über dem Kopf. Die Kleinen müssen nicht mehr frieren und die Tränen meiner Mutter sind getrocknet.

Das Handy klingelt. Zwei Freunde von mir melden sich. Sie seien auch in Istanbul und würden sich gerne mit mir treffen. Bei Nacht und Nebel, nach harter Tag- und Nachtschicht schleppe ich mich die Straße entlang. Es fühlt sich so an, als würde ich bald an den Anforderungen zerbrechen, die an mich gestellt werden. Von weitem erblicke ich schon die Silhouetten meiner Freunde. Lachend laufen wir aufeinander zu und fallen uns in die Arme. Die Bande zwischen Menschen, die zusammen aufgewachsen sind, sind stark. Nach langem Austausch von Erlebnissen und vielen Umarmungen wird die Situation ernst. Ich soll mich mit ihnen auf den Weg nach Deutschland machen. Für eine Minute ist es, als sei ich in eine Parallelwelt abgedriftet. Ich stehe nun vor der nächsten Entscheidung, die mein Leben und das meiner Familie verändern wird.

Warum müssen die Entscheidungen in meinem Leben immer so schwer sein? Soll ich mich auf die Suche nach meinem Vater machen? Oder bei meiner Familie bleiben?

Aber wenn ich es bis Deutschland schaffe, könnte ich ihnen allen ein sicheres Leben ermöglichen. Plötzlich tauchen all die schlechten Erinnerungen der vergangenen Monate wieder auf. Soll das lebenswert sein? Die plötzlich eintretende Kälte scheint mit meinem Gemütszustand einher zu gehen. Noch gedankenverloren stimme ich zu. Ich werde nicht aufgeben. Irgendwann werden wir das Leben führen, das wir verdienen. Dafür werde ich kämpfen! Ich sichere ihnen zu, dass ich sie auf dem Boot nach Griechenland begleiten werde.

Ein paar Tage später ist es an der Zeit, mich von meiner Familie zu verabschieden. Wieder muss mich meine Mutter gehen lassen ohne zu wissen, ob sie mich je wiedersieht. Doch mein Entschluss steht fest. Ich gehe. In eine hoffentlich bessere Zukunft. Ein paar Stunden soll die Überfahrt dauern. Zur verabredeten Zeit treffe ich mich mit meinen Freunden am Hafen. In dem Moment zieht sich alles in mir zusammen. Das soll das Schiff sein? Das Schiff mit dem wir bis nach Griechenland kommen sollen? Vor mir steht ein altes, modriges, winziges Boot, das seine beste Zeit hinter sich hatte. Und darauf sollen 60 Menschen passen? Ich will mich schon auf den Rückweg machen, aber da höre ich das Einrasten des Magazins einer Pistole. Abrupt bleibe ich stehen. Vor mir verschwimmt alles. Wie in Zeitlupe drehe ich mich um und erblicke einen alten Mann. Sein faltiges, eingefallenes Gesicht wirkt gefährlich. Seine Augen resigniert. „Entweder du gehst auf das Schiff oder du stirbst hier und jetzt.“ Dies ist zur Abwechslung eine instinktive Entscheidung. Schweren Schrittes gehe ich dem Mann voraus an Bord. Beruhigt steckt er die Waffe weg.

Dritte Station: Griechenland

Auf dem Boot steigt meine Laune langsam. Die unzähligen Frauen und Kinder lachen, spielen und freuen sich auf die Zukunft, die sie erwartet. Meine Freunde und ich planen schon, wie wir die Reise ab Griechenland fortsetzen werden. Den Zustand des Boots vergessend, versinken wir in unserem Gespräch. Als ich jedoch bemerke, dass sich der Horizont schwarz verfärbt hat, wird mir ganz anders. Einen Sturm würde das Schiff nie überstehen. Der kalte Schauer, der mir über den Rücken läuft, kommt nicht nur vom eisigen Wind. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Die dunklen Wolken nähern sich. Das fröhliche Gelächter wandelt sich in Totenstille. Die altbekannte Totenstille, die ich in den vergangenen Monaten oft hatte spüren müssen.

Die Wellen werden stärker und Erinnerungen kommen hoch: Vor ein paar Tagen hatte ich mir zur Sicherheit einen Rettungsring gekauft. Dieser hatte mich viel Geld gekostet. Ein Grund, warum ich einer der Wenigen bin, die einen bei sich haben. Ich spüre den ersten Regentropfen auf meiner Haut. Hypnotisiert starre ich ihn an. Ab da passiert alles ganz schnell. So schnell, dass ich nicht einmal mehr die Zeit hatte, mir zu überlegen, wie ich alle Menschen auf dem Schiff retten kann. Der Regen wird so stark, dass er auf der Haut zwickt. Die Passagiere laufen durcheinander. Kinder weinen. Das Schiff schwankt hin und her. „Wasser! Hier ist überall Wasser!“, schreit eine Frau panisch. Wir beginnen zu sinken. Was soll ich nun tun? Springen? Bleiben? Es ist mir kaum möglich, meine Gedanken zu sammeln. Instinktiv packe ich meine Freunde am Arm und treibe sie an vom Boot zu springen. Bleiben würde uns im Moment auch nicht helfen. Ich springe hinein und tauche tief in das dunkle Wasser ein. Als ich gerade aufgeben will, steche ich nach oben und beginne zu kämpfen. Mit meinem Rettungsreifen werde ich länger durchhalten können. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Entweder wird mich die Kälte töten oder meine Kräfte werden mich verlassen.

Das Weinen und Schreien kann ich kaum mehr hören. Das einzige Geräusch in meinen Ohren ist mein eigener Atem. Als ich schon eine Weile im Wasser bin, tauchen die Leichen der Ertrunkenen auf.

Ich schließe die Augen und schwimme schneller. Als ich schon nicht mehr an ein Ziel glaube, taucht die Silhouette eines großen Schiffes im Nebel auf. Das ist die Chance! Ein grelles Licht vertreibt die Dunkelheit. Ich blinzle. Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass ich aus dem Wasser gezogen wurde. Wo sind meine Freunde? Sie haben es nicht geschafft. Ich weine. Ich fühle mich schwach.

Vierte Station: Mazedonien

Eine Woche später werde ich entlassen. Die zwei Monate Haft in Syrien stecken mir trotzdem noch in den Knochen. Ich bin unterernährt und kraftlos. Doch mein Weg geht weiter.

Um zehn Uhr abends überschreite ich die Grenze nach Mazedonien. Es ist ein langer Fußmarsch. Mein Magen knurrt vor Hunger und ich begebe mich auf die Suche nach etwas zu Essen und einem Schlafplatz. Lange irre ich ziellos durch die Stadt. In einer dunklen Seitengasse blicke ich auf den Boden. Drei Schatten.

Bevor ich mich umdrehen kann, packt mich ein starker Mann. Er ist in Begleitung zweier Anderer. „Gib uns dein Geld und deinen Pass!“ Den Teufel würde ich tun. Ohne Pass würde ich nie nach Deutschland kommen. Ich hatte meine Wertgegenstände zuvor zwischen meinen Beinen versteckt.

„Hey! Aufwachen!“ Ein Polizist beugt sich über mich. Ich war wohl bewusstlos. Panisch taste ich mich ab, in der Hoffnung, dass mein Reisepass noch dort ist, wo ich ihn versteckt habe. Er ist noch da. Erleichterung macht sich in mir breit. Die Polizei verschwindet wieder. Ihre Schuldigkeit ist getan. Mit ein paar blauen Flecken vom Vorabend, mache ich mich auf.

Fünfte Station: Slowenien

 

In Slowenien angekommen, fällt mir auf, dass ich nur noch 20 Euro in meinem Geldbeutel habe. Das Busticket nach Österreich würde das Doppelte kosten. Aber irgendwie musste ich die Gegenstände, die ich im Meer verloren habe, wieder ersetzen. Außerdem habe ich unglaublichen Hunger, seit ich aus der Folter entlassen worden bin. Aber die ganzen Rechtfertigungen helfen mir jetzt auch nicht weiter. Ich muss irgendwie an Geld kommen, um nach Deutschland reisen zu können. Ich will meinen Vater finden. Die Menschen, die mit mir nach Slowenien eingereist sind, können mir auch nichts geben. Mir wird klar, dass es nur einen Weg gibt: Ich muss auf die Straße und betteln gehen, über meinen Schatten springen. Wie konnte mir das nur passieren. Ich begebe mich auf die Suche nach einem Karton und einem Stift, damit ich mir ein Schild basteln kann. Als ich das aufgetrieben habe, setze ich mich an eine Hauswand an einem belebten Gehweg. Mein Hunger wird immer stärker, doch außer einem mitleidigen Blick kann man von den Passanten nicht viel erwarten. Ich brauche doch nur zwanzig Euro, damit ich weiterreisen kann. „Entwürdigt“ wäre wohl in diesem Kontext das passende Wort. Oder man kann es auch „erniedrigt“ nennen.

Stunden verstreichen. Nichts ändert sich. Plötzlich kommt ein alter Mann auf mich zu. Er fragt, wie es mir geht. Nach einem langem Gespräch mit Details aus meiner Vergangenheit, drückt er mir 20 Euro in die Hand. Ich kann mein Glück kaum fassen. Das werde ich ihm niemals vergessen.

Sechste Station: Österreich

Mein Hals kratzt und ich merke, dass ich langsam krank werde. Na super! Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Es ist bitterkalt und ich muss zu Fuß weiter und weiter. Irgendwann, ich habe das Zeitgefühl verloren, komme ich an der Grenze zu Deutschland an. Ich fühle mich schwach und ausgelaugt. Aber ich spüre, dass ich meinem Ziel näher komme. Theoretisch könnte ich auch illegal nach Deutschland einreisen. Wer weiß, wie streng die Polizei dort ist. Ich will aber keinesfalls wieder zurück nach Syrien. Dafür habe ich zu viel hinter mir. Ich schleiche weiter durch die Wälder, gehe und gehe. Plötzlich fängt mich die Polizei ab.

Es gibt anscheinend doch noch Soldaten [so nennt Mohammed Polizisten] auf dieser Welt, die einen nicht quälen wollen. Es geht mir schon besser. Die Freundlichkeit muntert mich auf.

Siebte Station: Deutschland

 

Ich sitze im Zug auf dem Weg nach Mannheim. Die Landschaft zieht an mir vorbei. Wieder versinke ich in Gedanken. Ich stelle mir vor, wie ich meinem Vater in die Arme falle. Doch in diesem Moment war mir noch nicht bewusst, wie lange das noch dauern würde. Als mein Handy im Meer versunken ist, war meine Chance auf Kontakt mit meinen Eltern verwirkt. Wie ich sie erreichen kann? Keine Ahnung. Sie haben auch kein Facebook. In Mannheim angekommen werde ich in ein Asylheim gebracht.

Nach einigen Monaten, in denen ich mich erholen konnte, bin ich wie jeden Tag auf Facebook. Plötzlich sehe ich das Gesicht meines Vaters. Er wird mir als Freund vorgeschlagen. Ich kann es nicht fassen. Umgehend kontaktiere ich ihn. Wie zu erwarten war, glaubt er mir nicht, dass ich es bin, sein Sohn.

Hoffnungsvoll sitze ich ein weiteres Mal im Zug. Im Zug auf dem Weg, meinen Vater nach langer Zeit wiederzusehen. Als ich am Bahnhof ankomme, schießt mir Adrenalin ins Blut. Gleich würde ich ihm gegenübertreten. Mein Herz pocht. Nervös steuere ich Richtung Ausgang. Dort steht er.

 

Mein Sohn, sagt er

Ich bin angekommen. Mein Weg ist zu Ende. Jener harte, steinige Weg. Mein Name ist Mohammed Al Hamdo und ich habe es geschafft. Ich sage der grausamen Welt Gute Nacht.

[ssba]

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