Patrick S. und Susan K. sind auf den ersten Blick ein ganz normales Liebespaar. Sie leben mit ihren vier Kindern in einer Wohnung in Sachsen, werfen sich verliebte Blicke zu und gehen zusammen mit Freunden aus. Eine Sache fällt jedoch auf: Keiner der beiden trägt einen Ehering am Finger, die Ähnlichkeit zueinander im Gesicht ist dafür unverkennbar. Heiraten kommt für die beiden nicht in Frage – allerdings aus rein rechtlichen Gründen. Patrick und Susan sind Halbgeschwister.
Romantische Gefühle haben innerhalb der Familie für die meisten wenig zu suchen. Und doch gibt es Menschen wie Patrick und Susan, bei denen die Liebe zu einem Familienmitglied über eine familiäre Beziehung hinausgeht. Wenn Schwester und Bruder sich lieben, stößt das schnell auf gesellschaftliche Ablehnung. Auch rechtlich hatte die Beziehung der beiden Konsequenzen: Patrick saß für die Liebe zu seiner Halbschwester insgesamt über drei Jahre im Gefängnis. Jedes der vier Kinder ist ein erneuter Beweis für ihre Tat.
Denn: Inzest, ist in Deutschland illegal. Strafbar macht sich nach § 173 des Strafgesetzbuchs, wer den Beischlaf (vaginalen Geschlechtsverkehr) zwischen engen Verwandten – also aufsteigenden (Eltern), absteigenden (Kindern) oder Seiten- (Geschwistern) Linien – vollzieht. Bestraft wird nur, wer das 18. Lebensjahr zum Zeitpunkt des Beischlafs erreicht hat.
Im Fall von Patrick und Susan musste nur der volljährige Patrick eine Strafe verbüßen, seine Halbschwester war zu Beginn der Beziehung erst 16 Jahre alt. Später hielten die Gerichte sie wegen einer leichten geistigen Behinderung und einer „abhängigen Persönlichkeitsstruktur“ für schuldunfähig. Anders hätte die Beziehung der beiden dagegen in vielen Nachbarländern aussehen können. In Frankreich wurde Inzest bereits im Zuge der Aufklärung 1810 für straffrei erklärt. Viele weitere Länder folgten. Die untenstehende Grafik zeigt, wie unterschiedlich die Rechtslage zum Thema Inzest in Europa ist.
Wieso kann das Gesetz zwei erwachsenen Menschen vorschreiben, wen sie zu lieben haben und wen nicht? Ist ein solches Gesetz in Zeiten, in denen die sexuelle Selbstbestimmung weitestgehend Privatsache ist, noch zeitgemäß? Über sieben Jahre lang versuchte das Geschwisterpaar diese Fragen zu klären, zuletzt vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Klage der beiden, dass der Inzestparagraf eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstelle, wurde einstimmig abgelehnt: „Das Verbot der Geschwisterliebe verstößt gegen keine Menschenrechte“, hieß es von Seiten des Gerichtshofs. Das Gesetz diene in erster Linie dem Schutze des Kindeswohls, denn bei inzestuösen Beziehungen steigt die Gefahr für Erbkrankheiten aufgrund einer unzureichenden Vermischung von Genen erheblich an. Auch zwei der vier Kinder von Patrick und Susan haben eine Behinderung. Neben dem Kindeswohl sehen viele Expert*innen auch die festgelegte Ordnung innerhalb einer Familie durch inzestuöse Handlungen gefährdet.
Inzest bleibt ein kontroverses Thema
Der Fall von Patrick und Susan liegt bereits acht Jahre zurück, doch er sorgt bis heute für Diskussionen. „Erwägungen, die auf eine mögliche erhöhte Erberkrankung abzielen, haben schon nach unserem heutigen Grundrechtsverständnis keine Rolle zu spielen“, meint Tommy Kujus, Anwalt aus Leipzig. Er hat bereits mehrfach einvernehmliche Inzestfälle zwischen Geschwistern vor Gericht vertreten. Eine Strafbarkeit hält er persönlich in diesem Bereich für wenig sinnvoll.
Auch der deutsche Ethikrat sprach sich 2014 nach der Entscheidung des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen den Fortbestand eines Gesetzes aus, das den einvernehmlichen Beischlaf unter Geschwistern unter Strafe stellt.
„Das Risiko der Zeugung eines genetisch geschädigten Kindes […] ist zwar von ethischer Relevanz, aber es lässt sich aus diesem Umstand kein triftiges Argument gegen einvernehmliche Inzesthandlungen ableiten.“,
erklärte das Gremium in seiner Stellungnahme. Dies gelte besonders vor dem Hintergrund, dass für andere Paare, bei denen ein erhöhtes Risiko für Erbkrankheiten besteht – etwa Personen mit Behinderung oder Frauen über 45 – keineswegs ein Zeugungsverbot ausgesprochen oder erwogen werden dürfte.
Würde es jedoch nach Ulrike M. Dierkes gehen, wäre Inzest überall in Europa verboten. Sie wurde als Kind einer Vater-Tochter-Vergewaltigung geboren und leitet seit 20 Jahren den Verein Melina e.V. für Inzestkinder und Kinder aus Vergewaltigungen. Ihre persönliche Geschichte und die Erfahrungen anderer Betroffener teilt sie in der Podcastfolge zu diesem Projekt.
„Ich bin zum Glück unversehrt auf die Welt gekommen, aber andere Betroffene, die ich kennenlernen durfte, haben teilweise multiple Schäden. Die leiden ihr ganzes Leben darunter.“ Aus ihrer Sicht ist Inzest außerdem ein Eingriff in Naturgesetze:
„Die Natur hat jedem Familienmitglied eine klare Rolle zugewiesen. Diese natürliche Ordnung eigenmächtig zu verändern steht uns nicht zu und tut uns auch nicht gut.“
Auch der deutsche Ethikrat sieht in der Aufrechterhaltung der bestehenden, familiären Ordnung ein Argument für das Inzestverbot. Eine Eltern-Kind-Beziehung könne durchaus dazu führen, dass Familienmitglieder aus ihrer genuinen Rolle innerhalb der Familie verdrängt werden. Allerdings treffe das nicht zu, wenn es sich bei den Betroffenen um erwachsene (Halb-)Geschwister handelt: „Einvernehmliche inzestuöse Beziehungen zwischen Geschwistern tasten die Rollen im familiären Zusammenleben nicht in einer Weise an, die nachvollziehbare Bedürfnisse der Familienmitglieder verletzt, wenn kein tatsächlich gelebter Familienverbund besteht.“
Laut eigener Aussage liegen dem Ethikrat nur Fälle von Inzest vor, in denen Betroffene sich erst im Erwachsenenalter als Halbgeschwister kennengelernt haben. Wäre eine Differenzierung des Gesetzes in einem solchen Fall also sinnvoll?
Strafrecht oder Moralrecht?
Tommy Kujus steht dem Inzest Paragrafen prinzipiell zwiegespalten gegenüber: „Diskutabel wäre gegebenenfalls der Umstand, dass familienrechtliche und gesellschaftliche Wirrungen vermieden werden sollen. Ob dies allerdings mit den Mitteln des Strafrechts, welches stets das letzte Mittel des Staates ist, auf ein Fehlverhalten seiner Bürger zu reagieren, sein muss, halte ich für fraglich.“
Doris Bertels* sieht das ähnlich:
„Ich bin der Meinung, dass so etwas den beteiligten Menschen überlassen werden muss. Es muss einfach im gegenseitigen Einverständnis geschehen.“
Bertels führte über 30 Jahre lang eine Beziehung mit ihrem zehn Jahre älteren Bruder. Im Alter von 13 Jahren initiierte sie die Beziehung. „Ich fühlte mich wie im siebten Himmel und wahrte das Geheimnis total. Ich war glücklich und stolz, so etwas zu erleben“, berichtet sie von ihren damaligen Gefühlen. Erst später erfuhr sie, dass ihr Bruder auch eine Beziehung mit ihrer Cousine und ihrer Schwester führte. Der Ordnung der Familie haben die inzestuösen Handlungen ihrer Meinung nach trotzdem nicht geschadet: „Die Beziehung unter uns Geschwistern ist völlig intakt. Alle sind verheiratet und haben eigene erwachsene Kinder.“ Auch das Verhältnis zu ihrem Bruder ist bis heute sehr gut. Auf Familienfeiern reden die beiden regelmäßig über alten Zeiten. Auf die Frage, wie sie sich wünscht, dass mit dem Thema Inzest in Zukunft in der Gesellschaft umgegangen wird, antwortet sie: „Mit mehr Toleranz. Alle sollten tun dürfen, was ihnen gefällt, aber es muss beiden gefallen.“
Liebe oder Manipulation?
Genau in der Bestimmung dieser beidseitigen Einvernehmlichkeit sieht Ulrike M. Dierkes, Vorsitzende des Vereins Melina e.V., ein großes Problem. Denn schließlich muss nicht jede Inzestbeziehung so positiv verlaufen wie die von Doris Bertels und ihrem Bruder. „Mir liegen keine Glücksberichte vor. Selbst in Fällen die mit sogenannter Bruder-Schwester-Liebe begannen oder so deklariert wurden, hat sich später herausgestellt, dass doch eine Form von Manipulation oder Gewalt eine Rolle gespielt hat“, berichtet sie aus den Gesprächen mit Betroffenen.
Parallelen dazu gab es auch im Fall von Patrick und Susan. Patrick wurde vor der Geburt seines dritten Kindes zusätzlich wegen vorsätzlicher Körperverletzung gegenüber Susan verurteilt. Ob Macht oder subtiler Zwang bei vermeintlich freiwilligen inzestuösen Handlungen eine Rolle spielen, kommt vermutlich auf den Einzelfall an. Laut Aussage der Verfassungsrichter des Bundesverfassungsgerichts bestehe bei Geschwisterinzest allerdings häufig ein erheblicher Altersunterschied, der zu einem Abhängigkeitsverhältnis und somit zu einer Duldung des Geschlechtsverkehrs führen könne. Ohne den Inzestparagrafen wären die Betroffenen auf Dauer schutzlos.
Eine Möglichkeit gibt es trotzdem, wie man auf Dauer sowohl freiwilligen als auch unfreiwilligen Inzestbetroffenen helfen kann: „Ich finde es sehr wichtig, dass man immer wieder in einen Dialog miteinander eintritt“, schildert Ulrike M. Dierkes ihren Wunsch, wie das Thema Inzest in Zukunft in der Gesellschaft behandelt werden solle.
*Der Name wurde von der Autorin geändert