Gesellschaft

Blut ist rot und glitzert nicht

Insgesamt über sechs Jahre hat eine Frau* ihre Tage. Ohne sie wäre neues Leben gar nicht möglich und dennoch war und ist die Menstruation stets ein Tabuthema. Nicht mal Frau* selbst kann in vielen Fällen offen darüber sprechen. Wie die Aufklärung zum Thema Menstruation neben den eigenen Eltern und Lehrern noch vollzogen werden kann, zeigt eine Sozialpädagogin mit ihrer Arbeit.

Ein Vorraum einer Turnhalle. Reihum verstreut warten 17 Mädchen* eines Gymnasiums in München. Sie zappeln hin und her, tauschen sich aus und wirken gespannt. Sie sind Schülerinnen* einer fünften Klasse. Ihre männlichen Mitschüler* wurden bereits abgeholt. Bevor es auch für die Mädchen* los geht, müssen sie noch eingeteilt werden. Sie dürfen selbst entscheiden, in welcher Gruppe sie dabei sein wollen. Die erste Gruppe geht mit Danii Arendt mit, die zweite mit Zsuzsa Sandor. Die beiden sind Sozialpädagoginnen und arbeiten für das amanda Projekt.

Bei der amanda Mädchen*- und Frauen*arbeit werden Seminare zu verschiedenen Themen der Aufklärung gehalten. Vorrangige Aufgabe ist es hier, mit den Mädchen* ins Gespräch zu kommen und Erfahrungen auszutauschen. So sollen die unterschiedlichen Wege aufgezeigt und den Teilnehmerinnen* bewusst werden, dass es nicht nur den einen Lebensweg gibt.

Zsuzsa wird im folgenden mit ihrem Vornamen erwähnt, da sie so auch von den Schülerinnen* angesprochen wird.

Heute sind sie und ihre Kollegin Danii Arendt am Gymnasium in München zu Besuch, um den Mädchen* Themen der Sexualpädagogik näher zu bringen. Ihre Arbeit ist relevant, weil die Aufklärung zuhause oft lückenhaft und nicht ausreichend an die Bedürfnisse von Heranwachsenden angepasst ist.

Aus einer Studie von 2015 zum Thema „Jugendsexualität“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geht hervor, dass die häusliche Aufklärung im Jahr 2014 einen Abwärtstrend verzeichnet. Abgelöst wird diese Rolle beispielsweise von Schule und Internet. Jedoch wird zudem deutlich, dass die Aufklärung durch die eigenen Eltern immer noch als relevant zu beurteilen ist und dass Mütter und Väter somit weiterhin als wichtige Vertrauenspersonen fungieren. 

Zsuzsa nimmt neun der Mädchen* mit in die erste der verfügbaren Turnhallen. Sie zieht einen Rollrucksack hinter sich her und weist den Schülerinnen* den Weg.

Seit über zehn Jahren arbeitet sie bei amanda. 

„Der Wunsch auf dem Gebiet der Frauen*- und Mädchen*arbeit zu arbeiten, kam aus meiner persönlichen Geschichte. Die ständige Benachteiligung, die ich als Mädchen und junge Frau erfahren habe, brachte mich dazu, dass ich unbedingt für Mädchen* und junge Frauen* da sein wollte, die Unterstützung auf ihrem Weg für ein selbstbestimmtes Leben brauchen“, erzählt sie im Gespräch.

Jedes Mädchen* sucht sich einen Platz auf einer Turnbank. Zwischen ihnen genügend Raum, weil die Corona-Hygiene-Bestimmungen das so verlangen. Mit amanda hatten die Schülerinnen* wohl schon einmal zu tun. Und auch wirkt es so, als wüssten sie ganz genau, worum es heute gehen soll. Auf eine Nachfrage dazu grinsen sie, es antwortet jedoch keins der Mädchen*. Bevor es eine Vorstellungsrunde gibt, erzählt Zsuzsa den jungen Frauen* noch von einer Schweigepflicht, sie erklärt, was das genau bedeutet. 

Außerdem ist es ihr wichtig, dass die Mädchen* wissen, dass sie immer fragen können. Und dass auch vermeintliche Tabuwörter ausgesprochen werden dürfen: „In vielen Elternhäusern wird immer noch nicht ausführlich über Menstruation gesprochen. Die Mädchen* verbinden letztendlich immer Schmerzen damit oder, dass Blut und Ausflüsse ekelhaft sind. Wir müssen schon sehr dran arbeiten, dass wir gegen diese Vorurteile ankommen können.“

Und das muss natürlich auch nicht vor allen öffentlich passieren. Auch außerhalb der Gruppe, in Pausen oder nach dem Seminar sind sie stets für Fragen bereit.

Auf ihrer Agenda stehen also immer die Bedürfnisse der Schülerinnen*, die möglichen Ängste und auf die Fragen der Mädchen* Antworten zu haben. „Uns ist es wichtig, dass nicht nur die biologische Sexualpädagogik stattfindet, sondern auch andere Aspekte besprochen werden“, sagt sie weiter.

Dominik Kling, ebenfalls Kollege von Zsuzsa und Danii Arendt, arbeitet für die Jungenarbeit goja, sozusagen das Pendant zu amanda. Auch bei ihrer Arbeit spielt das Thema des weiblichen Zyklus und der Menstruation eine bedeutende Rolle. Die beiden Projekte kooperieren zusammen. Wenn sie also an Schulen zu Besuch sind, dann gemeinsam, aber in den meisten Fällen getrennt voneinander.

Für ihn ist es wichtig, dass Eltern Themen dieser Art überhaupt zur Sprache bringen: „Ich glaube, dass Eltern das Angebot leisten müssen zu sagen: Okay, ich bin potentieller Ansprechpartner. Also, dass sie signalisieren: Hey ich bin für dich da, ich erklär’ dir das so gut ich kann“. Wenn sie es nämlich nicht thematisieren, fragen sich Jugendliche, ob sie diese Themen selbst auch verheimlichen müssen, sagt er.

„Ich glaube es ist wichtig, dass Eltern signalisieren: Hey, ich bin für dich da, ich erklär‘ dir das so gut ich kann.“

Dominik Kling

Um ihr Programm heute zu eröffnen, beginnt Zsuzsa mit dem Thema Pubertät.

Sie versucht die Schülerinnen* auf eine Art zu leiten, sodass sie selbst auf die Antworten kommen. Die Mädchen* sind schüchtern. Aber das ist bei diesem Thema normal: „Erstmal sind die Mädels* sehr gschamig, also eher sehr schweigsam und sie finden es irgendwie komisch, dass da jetzt diese Frau da ist und über irgendwelche Tabu- und Schamthemen redet.“

Dominik Kling erklärt den möglichen Grund für das Verhalten der Schüler: „Wir haben oftmals eine Schambehaftung beim Thema Sexualität und allem, was mit weiblicher Sexualität zu tun hat. Es fängt damit an, dass ein Junge* seinen Penis sieht, und ein Mädchen* die Scheide aber nicht. Das wird in einer Form beschämt, als dass es nichts im Alltag zu suchen hätte, dass es keinen Platz dafür gäbe.“

Nach und nach schaffen es dennoch ein paar Stichworte und Einfälle zum Thema Pubertät auf Moderationskarten in die Mitte des Turnbankkreises. „Man bekommt seine Tage“, hilft Zsuzsa nach einer Weile. „Welche Wörter kennt ihr noch?“, wirft sie dann in den Raum. Begriffe wie Menstruation, Periode, Tante Rosa oder Erdbeerwoche sammeln sie und die jungen Frauen* gemeinsam. Der Begriff „Regel“ ist eher unbekannt.

Aus einer Studie der BZgA aus dem Jahr 2006 wird ersichtlich, dass der Prozentsatz derjenigen Mädchen*, die ihre Menarche mit 11-12 Jahren erfahren haben, weiter angestiegen ist.

Aus einer Studie der BZgA wird ersichtlich, dass der Prozentsatz derjenigen Mädchen*, die ihre Menarche mit 11-12 Jahren erfahren, weiter angestiegen ist.

Zudem ist mit Verweis auf die Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys von 2007 zu sagen, dass es ethische Unterschiede in Bezug auf den Einsatz der ersten Regelblutung gibt. So haben beispielsweise türkische Mädchen* der zweiten und dritten Generation, die in den Niederlanden oder Deutschland leben, früher als einheimische Mädchen* ihre Menarche.

Der Körper verändert sich, weil er sich über viele Jahre auf eine Schwangerschaft vorbereitet.

Bei dem Thema Schwangerschaft und Babys werden die Schülerinnen* plötzlich interessierter.  Ein Mädchen* mit hellbraunem Haar und einer Brille mit dünnem Metallrahmen, das links von Zsuzsa sitzt, bekommt große Augen.

„Woher kommt denn das Blut?“, fragt Zsuzsa weiter. Im nächsten Moment zückt sie das Paomi einer Gebärmutter.

Paomis heißen ausgesprochen „part of mine“. Sie sehen aus und fühlen sich an wie Stofftiere. Aber in Form von Körperteilen. Sie dienen damit zur Veranschaulichung und Erklärung von Eigenschaften und Abläufen des menschlichen Körpers. 

Zsuzsa hält es in der Luft vor ihren Unterbauch, um zu zeigen, wo sich das Organ im Menschen befindet. Daraufhin werden die weiblichen äußeren Geschlechtsorgane ausführlich erklärt. Auch hier hat Zsuzsa passende Paomis dabei. Normalerweise liegen die im roten Zimmer. Dort finden für gewöhnlich die Projekte zum Thema statt. Weil das rote Zimmer wesentlich kleiner als eine Schulturnhalle ist, und ein Sicherheitsabstand zueinander dort nicht gewährleistet werden kann, ziehen Zsuzsa und ihre Kollegin Danii Arendt nun vorerst mobil mit ihrem roten Zimmer von Schule zu Schule und halten ihre Projekte vor Ort.

Sozialpädagogin Zsuzsa Sandor gibt einen Einblick in das rote Zimmer

https://wp.zim.uni-passau.de/blutjung/2020/07/22/nicht-die-regel/

Im vergangenen Jahr besuchten rund 324 Mädchen* in insgesamt 27 Seminaren die Ausstellung des roten Zimmers. Ursprünglich diente das Zimmer nur zu besonderen Anlässen, wie dem internationalen Frauentag. Weil das Interesse immer weiter gestiegen ist, wurde die Ausstellung durch die Einrichtung eines gesamten Zimmers auch anderen Gruppen, wie beispielsweise Schulklassen, zugänglich gemacht.

Zsuzsa Sandor, Sozialpädagogin des amanda Projekts im roten Zimmer in München

Dann stellt sich Zsuzsa in die Mitte und schüttelt ein leichtes, orangefarbenes Tuch und lässt es wie eine Decke auf den Boden sinken. Auf diesem beginnt sie, mit dem Paomi der Gebärmutter und weiteren Tüchern ein Bild zu legen. „Ohne Schleimhäute könnten wir eigentlich so gut wie nichts tun. Beispielsweise nicht sprechen oder schlucken. Und auch in der Gebärmutter haben wir eine Schleimhaut“, erklärt sie. Weil sich die im Zuge eines Zyklus immer weiter aufbaut, um eine eingenistete Eizelle und somit das Baby zu schützen, muss sich diese auch wieder abbauen, wenn es zu keiner Schwangerschaft kommt. Die Mädchen* verstehen, was Zsuzsa meint. „Sie wird also aufgebaut und muss wieder abgeblutet werden“, hierfür platziert sie ein rotes Tuch in der Mitte der Paomi-Gebärmutter. Dass es blutet und schmerzt, weil sich die Gebärmutter zusammenzieht, um die Schleimhaut zu lösen und dabei Äderchen verletzt werden, macht für die Schülerinnen* greifbar, wie der Körper funktioniert. Erstaunte Blicke sind im Raum zu finden. Ein blondes Mädchen* beispielsweise formt ihre Lippen zu einem O. Ihre Augen werden groß, als sie versteht, was im Körper vor sich geht. Danach wird noch ausführlich über den Prozess des Schwangerwerdens und Gefühle gesprochen, die man in einem Zyklus spüren kann.

„Mein Ziel ist es, dass die Mädchen* ihren eigenen Körper und den Zyklus besser kennenlernen und ihre Wünsche, Bedürfnisse und Erfahrungen wahr- und ernstnehmen. Somit sollen sie in verschiedenen Situationen in der Lage sein, die eigene Meinung zu vertreten und auch spontan „nein“ sagen zu können.“

Im Anschluss daran holt Zsuzsa eine Tasche hervor. Auf einem weiteren Tuch breitet sie sämtliche Hygieneprodukte aus. Nach und nach finden einige Tampons, Binden, Slipeinlagen, Menstruationsunterwäsche und -tassen ihren Platz auf dem Tuch. Als Zsuzsa alles ausgebreitet hat, fragt sie: „Was benutzt man, wenn man seine Tage hat?“. Die Schülerin* mit den hellbraunen Haaren und der Brille mit Metallgestell meldet sich und weiß, dass es beispielsweise Binden gibt. Den Rest der Produkte stellt Zsuzsa den Mädchen* vor. Danach zeigt sie, wie sie zu benutzen sind. Dafür führt sie als erstes einen Tampon in die Scheide des Paomis ein. Aus der rechten Ecke hört man ein „Ah“ von einem der Mädchen*. Da die Menstruationstassen um einiges größer sind, zeigt Zsuzsa auch hier, dass man sie zusammenfalten muss und trotz der Größe gut im Körper Platz finden und nicht wehtun. Das Mädchen* mit der Brille kann sich das kaum vorstellen: „Ich habe irgendwie ein bisschen Angst vor den Tassen, ich fange mit der Binde an und warte dann, ob das gut funktioniert.“

Dann meldet sich ein weiteres Mädchen*, sie hat dunkelbraunes langes Haar, dunkle Augen und auf den Lippen ein Lächeln: „Was macht man, wenn man das erste Mal seine Tage bekommt, aufs Klo gehen muss und der Lehrer „nein“ sagt?“

Darauf antwortet Zsuzsa: „Dann sagt man es einfach!“. Und einige der Mädchen* nicken zustimmend.

Zu der Reaktion von Schulen kann Zsuzsa erzählen: „Die Schulen sind uns sehr dankbar, dass wir die Themen, die im Lehrplan stehen, mit den Mädchen* bearbeiten und vertiefen. Es gibt Schulen, die sich traditionell jedes Jahr bei uns melden und wir hören immer wieder, dass unsere Arbeit von zufriedenen Mädchen*beauftragten, Lehrkräften oder der Schulsozialarbeit weiterempfohlen wird.“

„Die Schulen sind uns sehr dankbar, dass wir die Themen, die im Lehrplan stehen, mit den Mädchen* bearbeiten und vertiefen.“

Zsuzsa Sandor

Mehtap Mosavi ist Biologielehrerin am Gymnasium in München und sie sieht die Einladung von externen Referenten als Ergänzung zum Unterrichtsstoff an: „Sie sind eine große Unterstützung, können den Unterricht aber nicht ersetzen.“ Nach ihren Erfahrungen trauen sich die Schüler*innen Fragen zu stellen, wenn es sich nicht um die Lehrer*innen handelt.

Dass es nicht so einfach für die Mädchen* sein kann, sich an Lehrer zu wenden, fällt auf den ersten Blick möglicherweise nicht auf.

Dominik Kling hat folgende Erklärung: „Wenn ich weiß, dass das mein Biolehrer ist, der mich auch bewertet, stell ich dann Fragen? Den sehe ich jeden Tag. Wir Sozialpädagogen sind vielleicht zwei Stunden oder mal einen ganzen Tag lange vor Ort und dann kommen wir nie wieder.“ Zudem müssen Lehrer seiner Meinung nach speziell geschult sein, nicht aufgrund der Informationen, aber aufgrund der Menge an umzusetzenden Lerninhalten und der Schambehaftung des Themas: „Die Lehrkraft muss ja die eigene Scham überwinden, um die Themen dann schamfrei den Jugendlichen vermitteln zu können.“

„Ich habe mich nie geschämt das Thema so sachlich zu unterrichten, wie der Lehrplan es fordert. Es werden auch immer wieder Fortbildungen zum Thema Familien- und Sexualerziehung angeboten, die wir Lehrer besuchen können“, erklärt Mehtap Mosavi. Zudem empfindet sie nicht, dass die Gesellschaft das Thema der Menstruation tabuisiert und führt hier die Umsetzung in Werbungen an.  

„Ich denke nicht, dass die Gesellschaft das Thema Menstruation tabuisiert, dies sieht man beispielsweise an der Werbung.“

Mehtap Mosavi

Abschließend sammelt Zsuzsa mit den jungen Frauen* noch Ideen zur Linderung bei aufkommenden Schmerzen. Tanzen, ein warmes Bad, eine kuschelige Decke oder auch die Apotheke und den Kinder- oder Frauenarzt sprechen sie an.

„Ich hab es echt gut verstanden, jetzt weiß ich endlich mal, wie das genau funktioniert. Ist ja echt krass, wie das alles geht“, sagt eines der Mädchen*.

Das Projekt des roten Zimmers trägt für die amandas Früchte: „Die Rückmeldungen sind überwiegend positiv. Oft bedanken sich die Mädchen* bei uns, loben unsere Erklärweise, das Material und finden unsere Räumlichkeiten sehr gemütlich und schön.“

Für Zsuzsa könnte neben dem Umgang, welchen wir von zuhause aus über das Thema Menstruation mitbekommen, auch die über Werbung vermittelte Einstellung ein Grund für den Tabucharakter sein: „Blaues, statt rotes Blut, Sicherheit und Sauberkeit. So als ob wir sonst nicht sicher und sauber wären, wo auch immer wir sind. Dass das normales Blut ist und wir alle einmal neun Monate in einer Gebärmutter gelebt haben, ich glaube das muss irgendwie in die Köpfe rein.“

Eine Welle an Enttabuisierung bricht auf eine Art auch durch das Praktizieren des freien Menstruierens ein. Frauen verzichten hierbei meistens komplett auf Hygieneprodukte und lernen mit der Zeit ihren Blutfluss zu spüren. Viele von ihnen sehen dies auch als „Period Pride“ an. Flora menstruiert frei und offenbart im Podcast spannende Einblicke dazu.

 

 

Weiterführende Links:

https://www.bzga.de/infomaterialien/sexualaufklaerung/sexualaufklaerung/jugendsexualitaet-2015/

https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/423/293fQNZFAlEs.pdf?sequence=1&isAllowed=y

 

*

Das Gender-Sternchen (*) dient im Text als Verweis auf den Konstruktionscharakter „Geschlecht“. Hiermit werden alle Personen angesprochen, die sich beispielsweise als „Frau“ definieren.

ROT. GRÜN. BRAUN.

Von „Blut und Boden“, rechten Ökos und der Gefährdung des ländlichen Raumes

“Mensch lass die doch machen. Die tun doch nichts.” Diesen Satz hört Martin Raabe immer wieder von Nachbar*innen in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide. Seit einigen Jahren zieht es auffällig viele kinderreiche Familien in die Gegend, die alte verlassene Höfe kaufen. Er beschreibt sie als ganz harmlos und unauffällig auf den ersten Blick, als Nachbar*innen, die er morgens beim Bäcker und abends in der Kneipe trifft. Erst, wenn die Kinder aus den Familien in die Kindergärten und Schulen kommen, fällt auf, dass hinter all dem eine ideologisch geprägte Erziehung steht. Wer sind diese Menschen, was treibt sie an und vor allem wie gefährlich sind sie?

Sich dem Phänomen dieser sogenannten völkischen Siedler*innen zu nähern, ist genauso schwer wie das Thema umfassend zu begreifen.
Ein Annäherungsversuch in drei Kapiteln.

Kapitel I: „Blut und Boden“

Die Siedlerbewegung an sich entstand bereits im Kaiserreich. Die Grundlage ihres Denkens findet sich in der „Blut und Boden”- Ideologie wieder, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreicht: Nur eine rein deutsche Abstammung kann den Erhalt des „Volkes“ garantieren. Teil des „Volkskörpers“ ist man durch eine Blutsverbundenheit. Jeder ist von Geburt an der „Volksgemeinschaft“ verpflichtet. Anhänger*innen der „Blut und Boden“-Ideologie fürchten eine „Überfremdung“, die zum Aussterben des deutschen „Volkes“, dem sogenannten „Volkstod“ führt.

Die Idee der Siedler*innen besteht kurz gesagt darin, in dünn besiedelten Landstrichen wirtschaftlich autark und weitgehend ungestört auf „deutschem Boden“ leben zu können.

Symbolbild: völkische Familien auf dem Feld. Foto: Deutsche Fotothek‎ / CC BY-SA 3.0 DE

Kapitel II: Ökologie, Natur, rechte Ideologie

Naturverbundenheit und rechte Ideologie – geht das überhaupt? Auf den ersten Blick passen die zwei Begriffe nicht zusammen. Das liegt zum einen an mangelndem Bewusstsein für die Geschichte der Ökologie, aber auch an Defiziten in der Wahrnehmung und Einschätzung rechtsextremer Ideologie.  

Klassische “grüne” Themen wie Anti-Atomenergie lassen sich auch in der rechten Szene wiederfinden. “Aus der Perspektive der völkischen Siedler sind das allerdings keine klassisch grünen Themen”, merkt Marius Hellwig, freier Mitarbeiter der Amadeu Antonio Stiftung, an.

“Die Ursprünge des Umweltschutzes in Deutschland sind nicht links oder emanzipatorisch geprägt, sondern sehr eindeutig rechts und sehr eindeutig von völkischem Gedankengut geprägt.”

Erst in den 60er und 70er Jahren wurden diese Themen von einer linken, emanzipatorischen Basis aufgenommen. Das „Öko-Dasein“ ist in der rechten Szene also kein Trend, sondern eine über Jahrzehnte tief verankerte Ideologie. 

Es formierte sich über Jahre eine Szene, die heute als „völkische Siedler“ bezeichnet wird. Eine eindeutige Definition gibt es nicht, da die Gruppe derjenigen, die als völkische Siedlerinnen bezeichnet werden, nicht genau festgelegt werden kann. Marius Hellwig sieht in dem Begriff keine Selbstbeschreibung. “Niemand sagt von sich ‘Ich bin ein völkischer Siedler’. Es ist immer der Blick von Journalist*innen oder Expert*innen auf diese Gruppe”, ergänzt Hellwig. Zudem verlaufen die Grenzen zu anderen rechtsextremen Phänomenen diffus.

völkisch = (in der Ideologie des NS) ein Volk als vermeintliche Rasse betreffend; zum Volk als vermeintliche Rasse gehörend (Quelle: duden.de)

Im Gegensatz zu anderen Akteuren innerhalb der rechten Szene, sind völkische Siedler*innen nicht immer direkt auf den ersten Blick erkennbar. “Es ist Sinn ihrer Strategie, nach außen nicht als Rechtsextreme in Erscheinung zu treten. Das macht es auch so schwierig zu sagen, die Person gehört der Szene an, die Person gehört der Szene nicht an”, schildert Marius Hellwig.

Schon lange ist das Erscheinungsbild der Rechtsextremisten nicht mehr vom Bild des klassischen Neonazis aus den 90er Jahren mit Glatzen, Springerstiefeln und Bomberjacken geprägt. Während Anhänger*innen der Identitären Bewegung, quasi der Jugendorganisation der Neuen Rechten, sich hip, urban und modern geben, können völkische Siedler*innen als Gegenstück dazu gesehen werden.

Die Neue Rechte versucht sich von der Alten Rechten, die sich auf den Nationalsozialismus beruft, abzugrenzen. Die Neue Rechte bezieht sich auf die Theorie des Ethnopluralismus. Es geht hier weniger um Rasse, als um die kulturelle “Reinhaltung” von Staaten.

„Wir haben hier ein eher altertümliches Erscheinungsbild, was gerade in ländlichen Gebieten nicht sonderlich auffällt, weil die Assoziation in erster Linie erstmal „Hippies“ oder „Aussteiger“ ist“, beschreibt Ruben Obenhaus, Projektleiter der Mobilen Beratung Niedersachsen, die völkischen Familien. “Das klassische Bild wären Frauen mit langen Haaren und Zöpfen, Kleidern oder langen Röcken und Blusen. Männer oft in Zimmermannskleidung”, ergänzt Marius Hellwig.  Zudem nennt er neben dem altertümlichen Aussehen zwei weitere Kriterien, die es einfacher machen, die völkischen Siedler*innen einzuordnen. Dazu zählt zuallererst, dass die Personen im ländlichen Raum im Einklang mit der Natur leben, beispielsweise als Landwirte. Hinzu kommen Aspekte wie eine traditionelle Lebensweise, die moderne Einflüsse ablehnt. Die Familien sind oft sehr kinderreich. Kinder mit germanischen Namen sind keine Seltenheit. 

Auffälliger sind Symbole wie der Irminsul, der Lebensbaum, oder alte Runen, die häufig am Eingang von völkischen Höfen aufgestellt sind. Auch diese beziehen sich auf den germanischen, heidnischen Glauben und symbolisieren Stärke und Wildheit von Germanen.

“Wichtig ist, dass man erst in der Kombination mit einer völkisch-rechtsextremen Weltanschauung davon reden kann, dass es sich um völkische Siedler handelt”, betont Marius Hellwig. Was bedeutet das? Für die völkischen Siedler*innen stehen das “deutsche Volk” und die “Volksgemeinschaft” an oberster Stelle. Alle politischen Ziele sind dem Wohl des “Volkes” untergeordnet. “Entscheidend daran ist die Frage, was die deutsche ‘Volksgemeinschaft’ ist. Sie wird mit rassistischen Kriterien,  mit dem angeblichen ‘Blut’ begründet”, macht Hellwig deutlich. Menschen, die nicht weiß, nicht heterosexuell sind, Jüdinnen und Juden, Muslime, emanzipierte Frauen und politisch Andersdenkende, entsprechen nicht dem Willen dieses “Volkes” und werden deshalb ausgeschlossen. 


Zeitstrahl

Umweltbewegung Deutschland

Mit der  deutsche Umweltbewegung werden meistens unmittelbar die 70er und 80er  Jahre in Verbindung gebracht. Tatsache ist jedoch, dass dort bereits die zweite Umweltbewegung in Deutschland begann. Einen Überblick über die erste Bewegung gibt es hier:

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Kapitel III: Die braune Sippe auf dem Land

Zur Verbreitung der völkischen Siedler heute gibt es keine Statistiken. Marius Hellwig hat dafür folgende Erklärung: “Das hängt damit zusammen, dass alle Menschen, die sich mit dem Phänomen beschäftigen, größtenteils den norddeutschen Raum im Blick haben. Für den Süden Deutschlands verfügen wir nicht in dem Maße über tiefergehende Recherchen. Wir haben sehr wenig Wissen darüber.” Zwar ist Hellwig und seinen Kolleg*innen bewusst, dass bei Veranstaltungen in Norddeutschland auch Autos aus dem ganzen Bundesgebiet kommen. Recherchen der Amadeu Antonio Stiftung haben ergeben, dass sich aber Siedlungen vor allem in Bayern, Hessen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Schleswig-Holstein finden lassen.  

Ein Blick in den Norden: Das Bundesland Niedersachsen nimmt im negativen Sinn eine Vorreiterrolle ein, da hier völkische Familien siedeln, die bereits seit den 1920er Jahren in den rechtsextremen und nationalsozialistischen Strukturen der „Blut und Boden“-Ideologie leben. Ihr Gedankengut geben sie von Generation zu Generation weiter. Derartige alteingesessene Familien werden auch “völkische Sippen”  genannt.  

Hier lebt Martin Raabe in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide im Landkreis Uelzen. 1987 ist er zum ersten Mal mit dem Problem der völkischen Siedler*innen konfrontiert worden. Ursache war eine ganzseitige Anzeige zum Tod von Rudolf Heß im Uelzener Anzeiger. Unterschrieben wurde sie von 30 Familien mit Namen und Wohnort. Das war auffällig. Damals ist nicht viel passiert. Einen kleinen Aufschrei soll es gegeben haben. Mehr nicht. Erst Jahre später haben Martin Raabe und andere Anwohner*innen sich gefragt, was eigentlich auf den Höfen passiert.

Rudolf Heß war ehemaliger Stellvertreter Adolf Hitlers. Seit Beginn der völkischen Bewegung agierte er als überzeugter Nationalsozialist und Mitglied völkischer Vereinigungen wie der „Artamanen“.

„Uns sind merkwürdige Feste aufgefallen, die oft auch ziemlich heimlich abgelaufen sind. Größere Veranstaltungen, wo viele Menschen aus vielen Teilen Deutschlands angereist sind. Das waren Sommersonnenwendefeste. Wir haben uns dann bei Fachleuten informiert bis hin zum Verfassungsschutz, was das eigentlich ist”, erinnert sich Raabe. Letztendlich hat sich herausgestellt, dass der Kreis Uelzen ein bevorzugter Raum für völkische Siedler*innen ist.

Völkische Siedler*innen verhalten sich zunächst unauffällig, bieten Nachbarschaftshilfe an und versuchen Akzeptanz im Ort zu erreichen. Doch genau darin liegt die Gefahr. Martin Raabe sieht hier eine Graswurzelarbeit: Die Familien sickern von unten in die Dorfgemeinschaft ein, um beispielsweise an Stammtischen Deutungshoheit zu gewinnen. „Sie gehen in die Feuerwehren und breiten da ihre Meinung aus. Sie versuchen, in den Kindergärten als Elternvertreter oder auch an den Schulen mit zu beeinflussen, was dort geschieht”, beschreibt Raabe das Vorgehen. Er erinnert sich an einen völkischen Lehrer, der an einem Gymnasium in der Nähe von Lüchow in der Oberstufe Geschichte unterrichtet: “Wir haben durch Druck erreicht, dass er von diesen Leistungskursen für die Oberstufe entbunden worden ist. Eine seiner Schülerinnen ist meine Enkelin.” 

Eine andere Situation hat sich in einem Kindergarten in der Gegend zugetragen: “Der Vater eines Kindergartenkindes ist aufgetaucht und hat gefordert, dass die Leitung ein farbiges Kind aus dem Kindergarten entfernt, das Kind sei seiner Tochter nicht zumutbar. Der Mann ist Polizist und AfD-Mitglied und in völkischen Kreisen bekannt.”

Raabe erlebt immer wieder, wie die Menschen in seinem Dorf in derartigen Situationen wegschauen:

„Viele wollen diese Auseinandersetzung gar nicht, sondern wollen ihre Ruhe haben. Das ist eine Form der Reaktion, die nicht neu ist. Die war schon 1930 so und hat ja immer wieder solche Bewegungen ermöglicht“,

merkt der ehemalige Pastor an.   

Die freie Kameradschaftsszene bezeichnet autonom organisierte Neonazi-Gruppen, die nicht in Vereinen organisiert und daher schwierig zu greifen sind. Sie begreifen sich als Teil des “nationalen Widerstandes”.

Verschiedene Strömungen innerhalb der rechten Szene können heute nicht mehr einzeln betrachtet werden. Das beobachtet auch Hartmut Gutsche, Leiter eines der fünf Regionalzentren für demokratische Kultur in Mecklenburg-Vorpommern: „Man kann sich einzelne Segmente angucken, aber die haben sehr viel miteinander zu tun. Es sind Netzwerke von Menschen, die vielfältig verbunden sind.“ Er ist überzeugt, dass Siedler*innen über einzelne soziale Kontakte auch mit der Kameradschaftsszene und der NPD zu tun haben.

Ruben Obenhaus beobachtet in Niedersachsen eine große ideologische Schnittmenge von der NPD zu völkischen Siedler*innen und darüber hinaus zur Identitären Bewegung und der AfD. Auch personell gibt es Bewegung zwischen den vier Ecken des Beziehungsnetzes. Obenhaus sieht hier großes Gefahrenpotential: „Wir sehen immer wieder, dass an diesen Orten Treffen stattfinden, sich dort vernetzt wird und gefeiert wird.“ Er bezeichnet sie als „rechtsextreme Rückzugsorte“, an denen sich immer wieder verschiedene Strömungen der rechtsextremen deutschen Struktur versammeln. Was in großen Städten wie Hamburg oder Bremen schnell auffallen würde, ist hier auf dem Land unglaublich einfach.

Das Netzwerk der Neuen Rechten unter der Lupe.

Die Rückzugsorte zeigen einmal mehr, wie vernetzt die völkischen Siedler*innen untereinander sind und wie weit die Verbindungen in  Teile der rechten Szene reichen. Martin Raabe beobachtet nicht selten, dass Prominenz aus den Reihen der AfD den Höfen in seinem Dorf einen Besuch abstattet. Die Verbindungen reichen hier sogar soweit, dass Siedler*innen teilweise in den Büros von AfD-Abgeordneten arbeiten. 

Auch wenn die AfD in beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern, sich klar versucht von den völkischen Siedler*innen, abzugrenzen, wird die ganze Bewegung politisch vom Wirken der AfD gefördert und gestützt. „Die AfD hat einen Sprachgebrauch in die Politik gebracht, der vor zehn Jahren noch nicht denkbar gewesen ist,“ merkt Martin Raabe an und denkt dabei an Ausdrücke wie „Volkstod“ oder „Umvolkung“.

Was ist nun die konkrete Gefahr, die von den völkischen Familien ausgeht?

Zunächst ist es wichtig, klarzumachen, dass völkische Siedler*innen nicht einfach ein  ökologisches Aussteigerprojekt sind. Es handelt sich um eine langfristige Strategie, die in der rechten Szene breite Unterstützung findet. “Die Strategie ist, dafür zu sorgen, dass man eigenständig, unabhängig von staatlichen Strukturen und Einflussnahmen  eine Basis bildet. Dass man dort mit Gleichgesinnten zusammenwohnt, eigene Strukturen aufbaut und kindderreiche Familien zusammenbringt”, beschreibt Marius Hellwig die Intention der Siedler*innen. Das Ziel dahinter ist, auf eine Zukunft hinzuarbeiten, in der die gesamtgesellschaftlichen Machtverhältnisse es zulassen, als rechtsextreme Szene wieder politischen Einfluss gewinnen zu können. In der Praxis versuchen sie auch, in kommunale Parlamente und letztendlich in die Städte zu gehen.

All das passiert unauffällig und macht sie so gefährlich. Hellwig verdeutlicht die Strategie an einem Beispiel besonders: In Niedersachsen im Landkreis Uelzen leben einige völkische Siedler*innen unter dem Slogan:

“Wir sind vielleicht die letzten von gestern, aber wir werden auch die ersten von morgen sein.”

Das “gestern” ist ganz klar ein Rückbezug zum Nationalsozialismus. Das “morgen” zeigt deutlich, dass die Entwicklung noch nicht vorbei ist und noch einige Schritte gegangen werden, bis sie wieder Einfluss haben werden. “Deshalb ist es wichtig, dass die Ansiedlungsprojekte als eine politische, strategische Aktionsform der rechtsextremen Szene wahrgenommen und auch ernstgenommen werden”, verdeutlicht Marius Hellwig die von den Sieder*innen ausgehende Gefahr. 

Gerade Menschen, die im ländlichen Raum leben und beispielsweise nicht weiß sind, so Hellwig, erfahren eine konkrete Bedrohung, die nicht zwangsläufig physisch sein muss: “Es ist für sie eine täglich Belastung, zu wissen, dass Menschen in der Nachbarschaft leben, die ganz eindeutig sagen: ‘Du gehörst nicht zur Dorfgemeinschaft und hast keine Daseinsberechtigung im ‘deutschen Volk’’.”

Martin Raabe ist sich dieser Gefahr auch bewusst. Es ist ihm wichtig, dass das Bewusstsein aller gestärkt wird. Völkische Siedler*innen existieren nicht einfach neben der rechtsextremen Szene. Es muss klar gesehen werden, dass der Ökologie- und Siedlungsgedanke bis heute fest in der rechten Szene verankert ist.

Die Gruppe „beherzt“ in Aktion. Foto: Martin Raabe

Doch was tun, wenn es deutliche Anzeichen für eine völkische Besiedlung im Dorf gibt?

Im Landkreis Uelzen organisieren sich mittlerweile 320 Anwohner*innen in der Gruppe „beherzt“, um sich auszutauschen und in Dialog zu treten. Sie haben sich auf ein Symbol verständigt. Es ist ein Kreuz, ähnlich wie früher die Kreuze zu Gorleben, in Gelb und Magenta mit der Aufschrift: “Kreuze ohne Haken, fUEr Vielfalt”. UE steht für das Autokennzeichen des Landkreises. Martin Raabe als Sprecher der Gruppe ist stolz. “Von diesen Kreuzen stehen inzwischen etwa 150 Stück auf Höfen, an Häusern und Firmen, damit deutlich gemacht wir, dass das völkische Denken, diese “Blut und Boden”-Ideologie, hier nichts zu suchen hat.”


Podcast

„Blut und Boden“-Ideologie: Aufklärung und Widerstand im ländlichen Raum

Wie Aufklärung und Widerstand im Kontext völkischer Landnahme stattfinden kann, erfährst du in einer Folge „Blutrauschen“.


Persönlich hat Raabe keine Angst vor seinen rechtsextremen Nachbarn. Als Gesicht der Gruppe „beherzt“ im Raum Uelzen/ Lüchow-Dannenberg gibt er denen eine Stimme, die nicht den Mut für eine Auseinandersetzung haben. „Diese Angst ist nicht unberechtigt,“ findet Raabe, „Ich persönlich bekomme sehr unschöne Anrufe oder böse Mails. Eines unserer Kreuze ist in einer Nacht zu einem Hakenkreuz umgebaut worden, andere sind mit Kot beschmiert worden.“

Martin Raabe weiß, dass man die Siedler*innen nicht einfach vertreiben kann. Deswegen möchte er andere bestärken und aufklären, damit sie das, was sie beobachten und erleben, besser einordnen und deuten können. “Denn hier zieht keiner, der einen Hof hat, freiwillig weg“, ist er sich sicher.

Es ist stark davon auszugehen, dass die Verbreitung völkischer Siedlungsprojekte zunehmen wird. “Wenn man sich die letzten Jahre anschaut, kann man erkennen, dass es einen extremen Anstieg gegeben hat”, sagt  Marius Hellwig mit Blick in die Zukunft. Er hofft, dass das Thema präsenter in der öffentlichen Wahrnehmung diskutiert und problematisiert wird, weil es ernst genommen werden muss. 

Das ist auch dringend notwendig, denn mischt man symbolisch das Rot der „Blut und Boden“-Ideologie mit dem Grün der Natur, entsteht schnell ein braunes Gemisch, das sich langsam in dünn besiedelten Landstrichen ausbreitet und unterschwellig zur Gefahr wird, die das ganze Land einnehmen kann.

Steak? Bitte medium rare und vegan

Was haben das Grillen im Sommer, der Besuch im Wirtshaus und das Familienessen an Weihnachten gemeinsam? Mit etwas Glück: Geselligkeit und Gemeinschaft. Mit ziemlicher Sicherheit aber: Fleisch. Denn: «Fleisch steht fast in der gesamten Menschheitsgeschichte für Wohlstand, Überleben, Macht und das männliche Geschlecht», erklärt Ernährungspsychologe Christoph Klotter. Ist dieses Fleisch dann auch noch so richtig schön blutig, fühlen wir uns mächtig: Der archaische Reflex sagt uns: Wir sind das stärkere Tier gewesen.

Dabei muss heute niemand mehr stark sein, um an Fleisch zu kommen. Noch nicht einmal viel Geld muss man haben; die Auswahl an billigen Fleisch- und Wurstwaren im Supermarkt ist enorm. Der Triumph über Fleisch auf dem eigenen Teller ist verblasst, er wird überschattet von den gesundheitlichen und klimaschädlichen Folgen, die der übermäßige Fleischverzehr mit sich bringt. Ganz davon abgesehen, ist der historische Jagdinstinkt nur noch sehr einseitig vorhanden: Denn während beim Anblick des saftigen Steaks vielen das Wasser im Mund zusammenläuft, verdirbt allein der Gedanke an die blutige Schlachtung vermutlich mindestens genauso vielen wieder den Appetit.

Wie blutig soll das Fleisch der Zukunft also sein? Metzger*innen, Restaurantbetreiber*innen, Lebensmitteltechnologen*innen und viele weitere kreative Köpfe haben mögliche Antworten und Lösungen entwickelt, die einen Kompromiss versprechen: nachhaltiges Fleischessen. Sogar der archaische Jagdinstinkt kommt nicht zu kurz: Denn selbst, wenn das Produkt am Ende völlig fleischlos ist – „Blut“ gibt es trotzdem. Zum Beispiel als Rote Beete Saft. In der veganen Blutwurst.

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Vegane Blutwurst aus der Bio-Metzgerei Spahn

Fleischqualität? Eine Frage der Schlachtung

Zunächst einmal gilt: Echtes Fleisch gibt es nicht ohne Blut. Genauer gesagt: Fleisch gibt es nicht ohne das Töten von Tieren. Das mag erst einmal nach einer recht simplen Erkenntnis klingen. Doch sind wir uns dieser Schuld, wie Ernährungspsychologe Klotter es nennt, wirklich bewusst? Wir finden Tiere einerseits süß und geben ihnen Namen; andererseits schlachten wir sie brutal und verzehren sie anschließend genüsslich in Würstchenform. Das funktioniert nur, weil wir das Töten und Schlachten „hinter die Kulissen legen“, sagt Klotter. Wer bewusst Fleisch konsumieren möchte, kann nicht erst im Supermarkt mit der Fleischwahl beginnen, sondern muss sich auch schon mit dem Akt der Schlachtung auseinandersetzen.

Todesangst schmeckt man

„Das Wichtigste ist das Schlachten“, sagt auch Rinderzüchter Coloman Wetterstetter. Wenn Tiere bei der Schlachtung Todesangst haben, schütten sie Adrenalin aus, das sich im Fleisch ablagert. Und das schmeckt man. Seine 16 Rinder können sich im Stall und auf der Weide frei in der Herde bewegen. Diese ursprüngliche Form der Tierhaltung geht sogar über die meisten Biostandards hinaus. Finanziert wird das Ganze durch sogenanntes Rinderleasing: Tier- und Fleischliebhaber können sich ein Rind in monatlichen Raten kaufen, um am Ende das qualitativ hochwertige Fleisch zu erhalten.

Bei dem Motto „vom Kalb bis zum Teller“ ist daher der Tötungsprozess entscheidend. Das Rind wird auf der Weide mit etwas Futter angelockt, fixiert und während es sich noch über sein Leckerli freut – zack – zwei Bolzenschüsse direkt ins Hirn und das Tier sackt leblos zusammen.

Was sich im ersten Moment brutal anhört, ist wohl die artgerechteste Schlachtung, die einem Rind passieren kann. Keine Trennung von der Herde, kein langer und anstrengender Transport und möglichst keine Angst. Das tote Tier wird anschließend an den Hörnern an einem Gabelstapler befestigt, hochgehoben und an der Halsschlagader aufgeschlitzt. Wenn das Rind seine 45 bis 55 Liter Blut in eine Metallwanne ausgeblutet hat, kann es im Anhänger des Metzgers abtransportiert werden. Innerhalb von drei Stunden muss der Metzger die Innereien entfernen, anschließend kann das restliche Rind weiter zu Fleisch verarbeitet werden.

Blut und Fleisch? Das geht auch ohne Tier

Wer trotz artgerechter Tierhaltung und Schlachtung lieber auf tierische Produkte verzichten möchte, muss trotzdem nicht völlig ohne „Fleisch“ auskommen. „Schnitzel nach Wiener Art“ aus Soja, Blutwurst aus Tofu und Roter Beete und sogar die bayerischen Weißwürste aus Weizeneiweiß bieten haufenweise kreative, rein pflanzliche Fleischalternativen. Zielgruppe der originalgetreuen Fleischersatzprodukte sind vor allem Fleischesser*innen, die der Umwelt und der Gesundheit oder vielleicht auch einfach den Enkel*innen zuliebe, mal etwas Veganes probieren wollen – ohne zu sehr von ihren Essgewohnheiten abweichen zu müssen.

„Wahrscheinlich 80 Prozent unserer Gäste sind keine Veganer oder Vegetarierinnen“, sagt Irene Schillinger, Mitgründerin von Swing Kitchen, einem veganen Burger-Restaurant mit Filialen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie ist sich sicher: „Wir essen Fleisch nicht wegen des Geschmacks, sondern aus purer Gewohnheit.“
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Der Frankfurter Metzgermeister Michael Spahn geht sogar noch einen Schritt weiter: „Fleisch ist kein Nahrungsmittel. Es ist ein Genussmittel.“ Archaische Blutrünstigkeit hin oder her – niemand muss heute noch Tiere töten oder überhaupt Fleisch essen, um überleben zu können. Dabei hat Michael Spahn früher selbst leidenschaftlich gerne Fleisch gegessen: Seit über 40 Jahren arbeitet er als Metzger, vor 20 Jahren stellte er auf Bio um und vor sieben Jahren kam dann der radikale Wandel: Von einem Tag auf den anderen begann er eine komplett vegane Ernährung.

Alleine mit den Wurstverköstigungen hat Spahn früher pro Woche rund drei Kilogramm Fleisch gegessen – reguläre Mahlzeiten nicht dazugerechnet. Die Folge waren starkes Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes Typ 2. Er stellte schnell fest, dass medikamentöse Dauerbehandlung nicht die beste langfristige Lösung sei.

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Metzger Spahn präsentiert seine veganen Rouladen.

Also beschloss Spahn alle tierischen Produkte von seinem Speiseplan zu streichen. Um sich selbst den Verzicht zu erleichtern und um anderen Menschen mit ähnlichen Beschwerden bei ihrer Ernährung helfen zu können, hat er kurzerhand auch die komplette Metzgerei umgekrempelt. Seitdem werden nur noch Reiswaffeln mit Tomatensoße durch den Fleischwolf gedreht („Hackepetra“ nennt sich der vegane Brotaufstrich, der dabei rauskommt) und die Blutwürste werden aus schwarzen Linsen zubereitet.

Der Erfolg gibt Irene Schillinger und Michael Spahn recht: Veganismus ist kein kurzfristiger Trend, sondern erlangt immer mehr Beliebtheit. Etwa 0,1 bis 1 Prozent Menschen ernähren sich in Deutschland vegan. Doch spätestens die Begeisterung für den Beyond Meat Burger und andere vegane Burgerpattys hat gezeigt: Mit pflanzlichen Fleischersatzprodukten kann man auch Nicht-Veganer*innen überzeugen.

Authentisches Aussehen hat dabei Priorität. In puncto Geschmack setzen Schillinger und Spahn vor allem auf gute Gewürze und kurze Zutatenlisten. Das ist ein wichtiges Merkmal, sagt Silke Restemeyer von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Wenn die Zutatenliste besonders lang ist und auf Zusatzstoffe hinweist, sollten Verbraucher*innen stutzig werden: “Je höher verarbeitet das Produkt ist, desto ungünstiger ist es – auch unter Nachhaltigkeitsaspekten.“

Beim Impossible Burger ist man dagegen ganz klar auf eine „magische Zutat“ stolz: Häm. Hinter diesen drei Buchstaben stecken der Blutfarbstoff (Hämoglobin) und der Eisengeschmack, die im Fleisch natürlicherweise vorhanden sind, erklärt Christian Zacherl, Geschäftsfeldmanager im Bereich Lebensmittel beim Fraunhofer Institut. Dass dieser Stoff in den USA mittels Gentechnik gewonnen wird, sieht Zacherl kritisch. „Es hat jetzt noch diesen Hype, weil es eben der tolle neue Burger aus Amerika mit dem pflanzlichen Blutfarbstoff ist. Sobald dann aber auf der Verpackung ‘gentechnisch modifiziert’ draufsteht, schreckt es die Konsumenten ab.“

Echtes Fleisch und Blut aus der Petrischale

Doch aus den USA kommen nicht nur mit Pflanzenblut getränkte Burger, es weht noch ein anderer verheißungsvoller Wind, der echtes Fleisch ganz ohne Tierleid – ja sogar ohne Tiertöten verspricht. In-Vitro-Fleisch, auch Laborfleisch oder Clean Meat genannt, soll es ermöglichen, Fleischzellen eines Tieres in der Petrischale zu züchten. Bisher ist es noch nicht gelungen, die faserige Struktur von einem ganzen Fleischstück nachzuahmen. Hackfleisch konnte man damit allerdings schon herstellen – das erste Burgerpatty, das mit diesem aufwändigen Verfahren zubereitet wurde, hat schlappe 250.000 Euro gekostet. Mittlerweile ist man bei etwa neun Euro pro Stück und die Hersteller hoffen, dass es bald markt- und massentauglich ist und dadurch noch günstiger wird.

Christian Zacherl erwartet jedoch so bald keine großen Erfolge: „Wir beschäftigen uns oft mit den Ökobilanzen und Stoffströmen. In-Vitro-Fleisch ist hochgradig unwirtschaftlich, weil sehr viel Energie und Nährstoffe in diese Nährlösungen eingebracht werden müssen.“ Die rein pflanzlichen Produkte seien da immer „um Welten besser”: „Sie sind günstiger, regional zu beschaffen, schmecken gut und werden in Zukunft vielleicht noch besser schmecken.”

Wenn es also auf der nächsten Grillfeier die Frage aufkommt, wie blutig das Steak sein soll, kann die Antwort auch heute schon lauten: „Medium rare und vegan, bitte.“

Des Leibes Leben ist in seinem Blut

Wenn du den Esel deines Widersachers unter seiner Last liegen siehst, so lass ihn ja nicht im Stich, sondern hilf mit ihm zusammen dem Tiere auf.
Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden.
Sechs Tage sollst du deine Arbeit tun; aber am siebenten Tage sollst du ruhen, auf dass dein Rind und Esel sich ausruhen.

Schemot 23,5 – Devarim 25,4 – Schemot 23,12

Allesamt Zitate aus der Thora, die vorgeben, wie Tiere im Judentum behandelt werden sollen. Es gibt ein Verbot der Tierquälerei, ein Muttertier soll sein Kind nicht beim Sterben sehen und selbst am Sabbat, dem wöchentlichen Feiertag im Judentum, an dem eigentlich jegliche Arbeit streng verboten ist, müssen Tiere versorgt werden. Der Mensch darf Tiere zu seinem Nutzen halten und einsetzen, jedoch darf er ihnen keine unnötigen Qualen zufügen.

„Einem unbetäubten Tier wird der Hals mit einem Messer von der Kehle aus durchschnitten. Dabei werden bei vollem Bewusstsein Haut, Muskeln, die Halsschlagadern, die Luft- und Speiseröhre sowie die daneben befindlichen Nervenstränge durchtrennt. Die Tiere durchleiden einen Todeskampf, der Minuten andauern kann, mit höllischen Schmerzen, Atemnot und Todesangst bis sie schließlich verbluten.“

Deutscher Tierschutzbund

So beschreibt der deutsche Tierschutzbund das Schächten, die rituelle Schlachtung, die in der Kashrut, den Speisevorschriften des Judentums, vorgegeben wird. Die Tiere werden ohne Betäubung mit einem einzigen Schnitt durch den Hals getötet und sollen möglichst vollständig ausbluten.

Auf der einen Seite also die Worte Gottes in der Thora, die dem Menschen einen liebevollen und nachsichtigen Umgang mit den Tieren vorschreiben – auf der anderen Seite ein Ritual, das Tieren scheinbar Qualen zufügen kann und trotzdem tief im Glauben verankert ist. Zwei offensichtlich sehr unterschiedliche Ansätze, die in einer Religion vereint werden. Wie gehen gläubige Juden in Deutschland damit um?

Ein fast normaler Feinkostladen

Zeev Vilf ist einer der Pioniere für koschere Ernährung im Süden Deutschlands. Vor rund dreißig Jahren hat er „sein Baby“, den koscheren Feinkostladen Danel in München gegründet. Mittlerweile ist er selbst in Rente und hat den Laden abgegeben. Man merkt ihm trotzdem an, dass Danel sein Lebenswerk ist. Er fühlt sich offensichtlich wohl in seinem ehemaligen Laden, schiebt Produkte auf den Regalen hin und her und dreht sie so lange, bis er mit der Anordnung einverstanden ist. Er strahlt Gelassenheit aus, Zufriedenheit. Der Laden ist nicht sonderlich groß, besteht eigentlich nur aus einem Raum und trotzdem findet sich alles dort, was man im alltäglichen Leben braucht: Käse, Cornflakes, eine kleine Weinauswahl, sogar Putzutensilien. Im hinteren Teil des Zimmers befindet sich eine abgetrennte Fleischtheke, in der ein Metzger seiner Arbeit nachgeht. Auf den ersten Blick scheint Danel ein normaler kleiner Laden im Herzen Münchens zu sein.


Zeev Vilf stellt die Besonderheiten des koscheren Feinkostladens Danel vor.


Erst wenn man genauer hinsieht, fallen einige Besonderheiten auf. Die Verpackungen sind nicht mit deutschen Worten, sondern mit hebräischen Schriftzeichen versehen. Auf vielen der Produkte findet sich ein Siegel, das man von gewöhnlichen Lebensmitteln nicht kennt. „Glatt koscher“ steht darauf oder „parve“. Hinter der Fleischtheke steht neben dem Metzger noch ein Mann mit langem Bart und Kippa. Er ist der Maschgiach, ein Aufseher, der die Einhaltung der jüdischen Speisegesetzte kontrolliert. „Das hier ist der einzige Laden in der Umgebung, in dem es nur koschere Lebensmittel gibt“, sagt Zeev Vilf stolz. „Für die Juden, die in München selbst wohnen, ist das hier eine wichtige Anlaufstelle.“ Alle anderen, die nicht direkt aus München kommen, können online bei ihm bestellen. „Wir leben nicht von dem Laden selbst, sondern vom Online-Handel. Wir sind der älteste und größte Großhändler für koschere Ware hier. Das ist unser Geschäft.“  


Zeev Vilf erklärt die jüdischen Speise-vorschriften.


Für viele gläubige Juden ist die Online-Bestellung von Lebensmitteln der einzige Weg, um ihre Religion ganz den Vorschriften nach ausüben zu können. Im Judentum gibt es strenge Speisevorschriften, die eingehalten werden sollen. Milchprodukte dürfen nicht zusammen mit fleischhaltigen Lebensmitteln gegessen werden, Fische dürfen nur verzehrt werden, wenn sie Schuppen und Flossen haben und Meeresfrüchte sind komplett verboten. Praktizierende Juden und Jüdinnen dürfen nur Produkte und Fleisch von Tieren verspeisen, die gespaltene Hufe haben und Wiederkäuer sind. Der Verzehr von einem Schweineschnitzel oder von Gummibärchen mit Schweinegelatine ist somit beispielsweise untersagt. Produkte von Kühen und Rindern, die im Judentum an sich erlaubt sind, gibt es natürlich auch in normalen Supermärkten – gläubige Juden und Jüdinnen würden sie dort jedoch nie kaufen.  Das Hauptprodukt im Feinkostladen Danel ist deshalb auch das Fleisch, das der Metzger, immer vom Maschgiach bewacht, frisch in die Theke legt. „Das Fleisch muss koscher gemacht werden und das ist eine ziemlich komplizierte Prozedur. Aber wir bieten es hier für die Leute an, die die jüdischen Essensvorschriften befolgen wollen“, sagt Zeev Vilf dazu. 

Koscher machen – das fängt schon bei der Art und Weise an, auf die ein Tier zu Tode kommt. Hier kommt die wohl umstrittenste Speiseregeln ins Spiel, die auch in Deutschland schon hitzige Debatten ausgelöst hat. Fleisch darf nur als koscher bezeichnet werden, wenn das Tier ohne vorherige Betäubung mit einem einzigen Schnitt mit einem scharfen, langen Messer durch den Hals getötet wurde. Was sich brutal anhört, wird im Judentum durch die halachischen Regeln verteidigt. Auch Zeev Vilf steht hinter der blutigen Vorschrift: “Das Schächten war eigentlich die Schlachtmethode, die dem Tier am wenigsten Leid zufügen soll.“

Blutiges Leiden wegen Gottes Wort

Ein großer Teil der halachischen Regeln ist in der Thora festgehalten. Dort findet sich nur eine Passage, in der es einen kleinen Hinweis auf das Schlachtritual gibt. Im fünften Buch Mose, für die Juden und Jüdinnen das Devarim, heißt es: „So schlachte von deinen Rindern oder Schafen, die dir der Herr gegeben hat, wie ich dir geboten habe.“ Das Problem dabei: Wie genau Gott es geboten hat, wird in der Thora nicht weiter erläutert. Die Grundlage für das Schächten wird aber in anderen Stellen der Thora gesehen. Stellen, in denen das Verbot des Verspeisens von Blut betont wird. „Ihr sollt keines Leibes Blut essen, denn des Leibes Leben ist in seinem Blut“, heißt es da zum Beispiel oder „Allein das Fleisch mit seinem Leben, seinem Blut, esst nicht!“ Hier finden sich in der Thora also eindeutige Anweisungen: Gläubige Juden und Jüdinnen sollen kein Blut verspeisen. Wollen sie dennoch Fleisch essen, sollte es von einem Tier stammen, das möglichst komplett ausgeblutet ist.  



Frigga Wirths, Fachreferentin für Tiere in der Landwirtschaft beim deutschen Tierschutzbund, sieht im Blutverbot jedoch keine Begründung für das betäubungslose Schlachten von Tieren. „Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Ausblutungsgrad bei Tieren, die mit Betäubung und Tieren, die ohne Betäubung geschlachtet wurden.“ Dass in jeder Muskelzelle noch Blut zu finden ist, zeige allein die rote Färbung der Fleischstücke an, die auch bei koscheren Produkten gegeben ist. Ein ausreichender Blutverlust ist sowohl bei normalen Schlachtungen, als auch bei rituellen Schlachtungen nach religiösen Regeln der Grund für den Tod des Tieres.

Der Deutsche Tierschutzbund fordert jedoch, dass jedes Tier, bevor es zu diesem Blutverlust kommt, betäubt sein muss, sodass es von seinem Tod nichts mitbekommt. Beim Schächten hingegen würden nur die weichen Strukturen des Halses durchtrennt, also Muskeln, Speiseröhre und auch die Luftröhre. Die Knochen und Wirbelkörper, an denen auch Gefäße laufen, die die Versorgung des Gehirns mit Blut sicherstellen, können durch den Schnitt nicht durchtrennt werden, so Frigga Wirths. Das Tier bekäme also alles mit. „Diese Regeln stammen aus einem anderen Zeitalter. Heute gibt es keine Berechtigung mehr, so vorzugehen, weil man mittlerweile viel mehr über das Seelenleben und das Schmerzempfinden von Tieren weiß.“ 

Flughafen oder Restaurant?

Während Zeev Vilfs Feinkostladen zumindest auf den ersten Blick wie ein ganz gewöhnlicher kleiner Shop wirkt, merkt man beim Restaurant Einstein schon, bevor man es wirklich betritt, dass hier etwas anders ist. Vor der großen, schweren Tür, die ins Gebäude führt, in dem sich das Einstein befindet, steht ein junger Mann. Kommen Personen auf die Tür zu, spricht er mit ihnen in gebrochenem Deutsch, wenn sie seine Frage „Do you speak English?“ verneinen. Er will wissen, ob sie eine Reservierung für das Restaurant haben oder einen anderen Grund, um in das Gebäude zu wollen. Für Gäste mit einer Reservierung öffnet er die Tür. Doch selbst dann kann man das Restaurant noch nicht direkt betreten.


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Das Einstein befindet sich im Gebäude der Israelitischen Kultusgemeinde für München und Oberbayern.

Stattdessen landet man in einer Art Sicherheitsgang. Zwei Männer sitzen hinter einer Glasscheibe und fragen nach den Ausweisen. „Haben Sie irgendwelche Dinge dabei, mit denen Sie sich selbst verteidigen können? Pfefferspray? Ein Taschenmesser? Nein? Dann gehen Sie bitte durch die Schleuse.“  Durch die Schleuse zu gehen fühlt sich an als wäre man am Flughafen. Dabei betritt man eigentlich nur das Gebäude der Israelitischen Kultusgemeinde für München und Oberbayern. Die Lichter an der Schleuse leuchten kurz auf und einer der beiden Männer gibt den Besucher*innen das Zeichen, weiterzugehen. Die Glastüre, vor der man nun steht, öffnet sich automatisch und endlich ist man im Inneren des Gebäudes angekommen. 


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Die meisten Besucher im Einstein sind neugierige, nicht-jüdische Personen.

Karl-Heinz Fichtner passt gut in den großen, hellen Raum. Er ist ein gepflegter, eleganter Mann, der wirkt, als hätte er immer alles im Griff, selbst wenn er in einer noch so stressigen Situation steckt. Er ist selbst kein Jude, leitet das Einstein aber mittlerweile schon im neunten Jahr. „Das war, sagen wir mal, eine Summe von Zufällen.“ Über eine Freundin, die Feiern für jüdische Familien organisierte, wurde er an die jüdische Gemeinde herangeführt. Als er dann die Stellenausschreibung für das Einstein sah und auch seine Freundin meinte, er sollte sich bewerben, habe er es einfach versucht – mit Erfolg. „Die ersten drei Monate waren schon hart. Bis ich begriffen habe, wie der Hase läuft, das war schon intensiv.

Besonders in dieser ersten Zeit hat Karl-Heinz Fichtner Hilfe gebraucht und diese auch bekommen. Vom Rabbinat und wiederum von einem Maschgiach, der auch hier die Einhaltung der jüdischen Speisevorschriften überprüft. Während der Öffnungszeiten des Einstein ist auch er immer vor Ort und sieht den Köchen über die Schulter und in die Töpfe. „Man muss sich erst daran gewöhnen – und vor allem auch daran gewöhnen wollen. Es gibt viele Regeln, die kann man nicht logisch erklären. Man muss sie nur befolgen.“ Karl-Heinz Fichtner legt viel Wert darauf, dass in seinem Restaurant alle Regeln akribisch befolgt werden.



So werden im Einstein gar keine Milchprodukte angeboten, um die Trennung von Fleisch und Milch gewährleisten zu können. Nach der strengen Auslegung der jüdischen Lehre soll nämlich auch das Geschirr, das einmal für Milchprodukte verwendet wurde, danach nicht mehr mit Fleisch in Berührung kommen – für ein Restaurant wäre das ein enormer Aufwand. Fleisch wird im Einstein dagegen schon angeboten, natürlich nur von geschächteten Tieren. „Es ist in vielen Ländern verboten, die Tiere nach jüdischen Regeln vom lebenden in den verzehrfertigen Zustand zu bringen. Es gibt noch ein paar Länder in Europa, die das dürfen und da beziehen wir auch unsere Ware her“, erklärt Karl-Heinz Fichtner.

Tierschutz vs. Religionsfreiheit

In Deutschland ist das Schächten grundsätzlich nicht erlaubt. Das Tierschutzgesetz sieht vor, dass ein warmblütiges Tier nur mit vorheriger Betäubung geschlachtet werden darf. Heute hat der Tierschutz in Deutschland Verfassungsrang und ist somit ein sehr wichtiges Gut – ähnlich wichtig wie die Religionsfreiheit. Sie bedingt auch, dass für Angehörige bestimmter Religionsgemeinschaften, deren Religion ihnen das Schächten zwingend vorschreibt, Ausnahmen vom eigentlichen Verbot gemacht werden können. Frigga Wirths vom deutschen Tierschutzbund spricht sich für ein ausnahmsloses Verbot des Schlachtens ohne Betäubung aus, weiß aber, dass das mit der deutschen Gesetzeslage kaum vereinbar ist. „In Deutschland wird sowieso kaum mehr geschächtet. Aber dadurch hat sich das Problem in andere Länder verlagert.“ In manchen europäischen Staaten, wie Frankreich, Italien und Polen gebe es weitaus weniger Auflagen als in Deutschland. Auch die EU-Schlachtverordnung habe weiter gefasste Ausnahmeverordnungen. Hier sieht Frigga Wirths eine Notwendigkeit zur Verschärfung der Regeln. „Das Ziel wäre, dass dort auch mindestens solche Regelungen eingeführt werden, wie das in Deutschland der Fall ist.” Im Moment ist durch die EU-Verordnung das Schächten von Tieren nur in ausgewählten Schlachthöfen erlaubt – spezielle Ausnahmegenehmigung und Einzelfallprüfungen sind bei diesen dann jedoch nicht mehr nötig.



„Alles, was wir hier tun, muss in Relation gesehen werden zu der Zeit, der Umgebung und den äußerlichen Umständen, als die halachischen Regeln angefangen haben”, betont Karl-Heinz Fichtner. Der Respekt vor dem Leben werde im Judentum großgeschrieben. “Und damals gab es noch keine Bolzenschussapparate oder Vergasungseinrichtungen für Schlachtbetriebe und so weiter. Das ist erst in jüngster Zeit aufgetreten. Und was ist humaner? Das lass’ ich jetzt einfach mal so stehen”, versucht er das Schächten zu verteidigen. Dass es auch bei normalen Schlachtungen häufig nicht tierfreundlich zugeht, lässt sich nicht leugnen. Sobald Fleisch gegessen wird, wird Blut vergossen, leiden Tiere – egal auf welche Art. “Wenn du nicht töten möchtest, musst du ein Vegetarier werden”, erklärt auch Steven Langnas, ein Münchener Gemeinderabbiner im Podcast über die Schächt-Debatte im Judentum. Vielleicht ist das der beste Weg, um Tierschutz und Religionsfreiheit im Judentum auf einen Nenner zu bringen. In der Thora wird die vegetarische und vegane Lebensweise sogar recht hoch angesehen:

Wer auch immer ein einziges Leben rettet, der ist, als ob er die ganze Welt gerettet hätte.

Irdisches oder ewiges Leben?

– Bluttransfusionen bei den Zeugen Jehovas –

Leben – Sterben – Tod. So unerklärbar und mysteriös der Tod ist, so faszinierend ist er auch. Es gibt wenig, was den Menschen so sehr beschäftigt wie der Übergang vom Leben in das Ungewisse. Manche behaupten, dass genau dieses Ungewisse der Ursprung von Religionen sei. Eine der größten Motivationen der Menschheit findet sich in einer fanatischen Suche nach der Erklärung, was nach dem Tod passiert. Ist es das ewige Leben? Ist es eine Auferstehung oder kommt man einfach als neues Leben zurück in den Zyklus der Welt? Die Zeugen Jehovas glauben an ein ewiges Leben nach dem Tod. Dieses kann allerdings nur gelebt werden, wenn man sich ehrfürchtig an Gottes Wort orientiert. Das bedeutet jedoch, dass man in seinem irdischen Leben auf vieles verzichten muss. Die Zeugen Jehovas lehnen Bluttransfusionen vehement ab – auch wenn das bedeutet, den Tod zu umarmen.

„Wenn Richten, dann Aufrichten“, ziert als Überschrift ein leicht verblasstes Blatt Papier, das rechts über dem Arbeitsplatz von Barbara Kohout hängt. Sie ist ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas und betreibt seit über zehn Jahren aktive Ausstiegshilfe. Die Rentnerin folgte 60 Jahre lang den Lehren Jehovas, ehe ihr eigener Sohn seine Zweifel an der Glaubensgemeinschaft äußerte. Sie wollte ihn von seinem damaligen “Irrglauben” fernhalten und ihren Sohn vor Harmagedon und der Vernichtung retten. Doch dann kam alles ganz anders:

Harmagedon ist der Gotteskrieg, auf den die Zeugen Jehovas hinfiebern. Mit ihm werden Ungläubige vernichtet und Gläubige gehen in das ewige Leben über.


Barbara Kohout spricht über ihren persönlichen Ausstieg bei den Zeugen Jehovas


Die Doktrinen der Wachtturm-Gesellschaft

Losgelöst von den unzähligen Doktrinen der Wachtturm-Gesellschaft beginnt für die 81-jährige ein neues Leben, in dem sie sich für Aufklärung stark macht und Menschen hilft, die Ähnliches erlebt haben. Sie erzählt von den zahlreichen Regelungen, die ihr eigenes Leben bestimmt haben. Von der richtigen Kleidung über Speisen, Kontaktverbote und einem*r akzeptablen Arbeitgeber*in bis hin zur Blutspende. Solche Reglementierungen sind Alltag und betreffen auch die lebensrettende Bluttransfusion. Wie kann es aber sein, dass sich Zeugen Jehovas im Angesicht des Todes gegen einen lebensrettenden Eingriff entscheiden?


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Der Weg vom Blut: Wie deine Spende zu Leuten kommt, die sie wirklich brauchen

Beim Blutspenden kommt immer was dazwischen. Diesmal habe ich es durchgezogen. Aber nur Spenden reicht mir nicht, ich will wissen: Was passiert mit meinen Blut?


Nach Kohouts Einschätzung, gab es einen Zeitpunkt, an dem die Leitung der Zeugen Jehovas verstanden hat, dass sie die Loyalität der Mitglieder extrem stärken muss. Vorausgesetzt wird hier, dass alle Mitglieder einer Doktrin folgen und absoluten Gehorsam leisten – selbst wenn die Möglichkeit besteht deswegen zu sterben. „…dann kann man mit ihnen alles machen, dann werden sie jede Anweisung befolgen, wenn sie selbst bereit sind, mit der Verweigerung auf eine Bluttransfusion ihr Leben zu opfern“, beschreibt die Aussteigerin. Sie spricht mehrmals von dem geschulten Gewissen der Mitglieder, das auch in diesem Fall greift und nur eine einzige Entscheidung zulässt: „Richtig ist, Bluttransfusionen zu verweigern, selbst wenn es das Leben kostet. Falsch wäre es, einer Bluttransfusion zuzustimmen, weil man dann sein ewiges Leben verliert.“

Wie begründen die Zeugen Jehovas den Verzicht?

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Während der Recherche flog tatsächlich ein Flyer der Zeugen Jehovas in den Briefkasten.

Differenzierter ist hier die Sicht der Zeugen selbst: „Das hat vielmehr religiöse als medizinische Gründe. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament wird klar geboten, sich von Blut zu enthalten. Außerdem: Bei Gott steht Blut für Leben. Wir haben also zwei Gründe dafür, dass wir Blut ablehnen: Gehorsam gegenüber Gott und Respekt vor ihm als Lebengeber“, steht in ihrem Online-Auftritt. Als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Zeugen Jehovas ergänzt Wolfram Slupina, dass Entscheidungen bezüglich einer medizinischen Behandlung eine sehr persönliche Angelegenheit sind, über die kein anderes Gemeindemitglied informiert werden muss. “Wie sich also ein Zeuge Jehovas im persönlichen Ernstfall entscheidet, obliegt ganz allein und völlig seinem eigenen Gewissen. Hier wird nicht hereingeredet oder investigiert”, schreibt Slupina.

Gewissensentscheidung – wirklich frei?

Gewissen ist ein wesentlicher Bestandteil in dem Glauben von Zeugen Jehovas. Auch Kohout erzählt viel über das Gewissen. Allerdings spricht sie davon, dass Gewissensentscheidungen nicht automatisch frei getroffen werden. Ihrer Meinung nach ist der Druck der Wachtturm-Gesellschaft so hoch und das Streben nach dem ewigen Leben zu zentral, dass sich im Normalfall niemand “falsch” entscheidet. Falsch ist es also auch, Blut zu spenden. Die rote Flüssigkeit ist allerdings nicht nur bei der Transfusion wichtig, sondern auch Bestandteil einiger Medikamente.

Beispielsweise wird Medizin gegen Hämophilie unter anderem mit Blutplasma produziert. Streng genommen müssten Zeugen Jehovas also auch auf eine Vielzahl an Medikamenten verzichten. Das wird aber laut einem Aussteiger, der gerne anonym bleiben möchte, nicht so konsequent gelebt, wie bei der Transfusion. Blut schränkt noch weitere Bereiche wie zum Beispiel den Speiseplan ein. Plump gesagt: Auch eine Blutwurst findet man nicht auf dem Teller eines Zeugen Jehovas.

Zeugen Jehovas verzichten nicht nur auf die Blutwurst. Es gab eine Zeit in der manche Zeugen Jehovas auf schweizer Schokolade verzichtet haben, da es hieß, darin wäre Blut als Bindemittel verarbeitet. Es gibt auch Früchte, in die Insekten – und somit Blut- einwachsen können. Deswegen gibt es auch sehr strenge Zeugen Jehovas, die auf Bananen verzichten.

Im Sprachgebrauch der Wachtturm-Gesellschaft scheint die Bluttransfusion ebenfalls eine freiwillige Gewissensentscheidung zu sein. Kohout widerspricht erneut: 


Barbara Kohout über die Doktrin der Bluttransfusion und das Problem mit dem deutschen Recht


Gewissen in der Medizin

Das Gewissen spielt nicht nur in Religionen, sondern auch in Berufen eine Rolle. Ein ethisches Bewusstsein und die Motivation, Leben zu retten, ist für viele Ärzte*innen Grundvoraussetzung für eine Laufbahn in der Medizin. Aber wie fühlt es sich an, Menschen sterben zu sehen, denen man durch einfachste Mittel das Leben hätte retten können?

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Wolfgang Beyer – pensionierter Unfallchirurg

Der pensionierte Chefarzt Wolfgang Beyer weiß, wie sich das anfühlt. Er weiß auch was es bedeutet, Fremdblut anzunehmen. Der Wahlpassauer bekam während einer komplizierten Operation fünfzehn Bluttransfusionen. Gleichzeitig weiß der ehemalige Unfallchirurg, was für ein inneres Chaos in einem wütet, keine Transfusion geben und somit keine Leben retten zu dürfen. „Leben zu erhalten ist elementarer Baustein ärztlichen Denkens und Handelns. In uns steckt ganz tief drin, dass wir Leben erhalten wollen.“ Unterstützung bekommt Beyer von seinem Kollegen Ralf-Peter Filipp. In seiner ruhigen Stimme schwingt auch Traurigkeit mit, wenn er von seinen Erlebnissen erzählt. Er spricht von Zeuginnen Jehovas, die beim Gebären Komplikationen erlitten haben und fast verbluteten: „Da hat man dann schon Gewissenskonflikte, dass man einen Menschen fast verbluten lassen muss.“


Ralf Peter Filipp über den hippokratischen Eid und seine Durchführung von Bluttransfusionen


Sein Unverständnis wandelt sich in Ärger und Wut, da er es einfach nicht akzeptieren kann, dass Leben weggeworfen werden. Während seiner Tagschichten gibt Filipp diese Entscheidungen an seine Kollegen*innen weiter. Er schließt hier an, dass es durchaus Ärzte*innen gibt, die solche Entscheidungen leichter treffen aber für Filipp selbst gibt es hier keine zwei Optionen. Er kann sich nur für das Leben und nicht für den Tod entscheiden. Erneut betont der Arzt, dass er diesen Konflikt im Nachtdienst aber selbst ausfechten muss und festigt seinen Standpunkt: „Wenn ich Nachtdienst habe, dann muss ich mich entscheiden und ich persönlich setze mich über die Patientenanordnung hinweg, um Leben zu retten.“ 

Das Spannungsfeld zwischen Zeugen Jehovas und Ärzten

Kohout beschreibt das Spannungsfeld zwischen Ärzten*innen und den Zeugen Jehovas als eine prekäre Situation. Sowohl Zeugen Jehovas als auch Mediziner*innen handeln nur in bestem Wissen und Gewissen. Die einen wollen mit jeder Möglichkeit, die sich ihnen bietet, Leben retten. Die anderen wiederum möchten aus absoluter Überzeugung auf Bluttransfusionen verzichten, damit sie die Chance auf das ewige Leben nach dem Tod erhalten. Sowohl die eigene Tochter, die fast an einem Blutsturz während einer Mandeloperation verblutet wäre, als auch der eigene Sohn waren von der Doktrin der Religionsgemeinschaft betroffen. Ihr Jüngster musste operiert werden – natürlich ohne Bluttransfusion. Der erste Arzt versicherte der Mutter, so blutarm wie möglich zu operieren, aber erklärte ihr, dass er im Fall von Komplikationen Blut geben wird. Daraufhin suchte sie sich einen Arzt, der ihr zusicherte, auf eine Transfusion zu verzichten, egal was passiert. Heute würde sie anders reagieren, aber damals war es für sie der einzig richtige Weg.


Barbara Kohout über ihre Entscheidung gegen eine Bluttransfusion bei ihrem Kind


„Ich weiß immer nicht, wie ehrlich solche Antworten sind. Es gibt Ärzte die diesem Konflikt einfach aus dem Weg gehen, wohlwissend dass sie vielleicht nicht halten werden, was sie versprochen haben“, meint Wolfgang Beyer. Er findet die Diskussion über den Konflikt zwischen Ärzten und Zeugen Jehovas „schön, nett und wichtig“. Er stellt aber auch klar, dass die innere Auseinandersetzung am Sterbebett mit keiner Theorie beschrieben werden kann. Er vergleicht diesen Prozess mit dem Abschalten der Vitalgeräte seiner eigenen Mutter: „Das gönne ich niemandem.“ 

Wie schwierig Theorie und Praxis zu verbinden sind, wissen nicht nur die Ärzte*innen, sondern auch so manche Zeugen Jehovas selbst. Auf Filipps Betten lagen bereits Zeugen Jehovas, in deren Augen er noch die letzte Hoffnung und das Klammern am Leben sah. Und tatsächlich haben zwei seiner Patienten kurz vor dem Verbluten mit ihrem Glauben gebrochen und sich für die lebensrettende Maßnahme entschieden. 


Ralf-Peter Filipp über die letzten Momente, die Hoffnung und das Klammern am Leben


Es ist schwierig, Ärzte*innen und Zeugen Jehovas unter einen Hut zu bekommen. Es gibt natürlich Mediziner*innen, die moralisch und ethisch kein Problem damit haben, keine Bluttransfusionen zu geben und im Zweifel Menschen sterben zu lassen. Aber viele Ärzte*innen belastet diese Situation und man darf auch nicht vergessen, dass die Lehren Jehovas teilweise in eine Irrationalität abdriften und vor persönlichen Entscheidungen keinen Halt machen. Die Gewissensentscheidungen scheinen nicht so frei zu sein, wie sie von der Wachtturm-Gesellschaft nach außen kommuniziert werden. Es gibt viele diskutable Verhaltensweisen innerhalb dieser Glaubensgemeinschaft. Es geht um Gewalt, sexuelle Nötigung, Missbrauch und Einschränkungen in den intimsten Entscheidungen. Bibeltext ist Bibeltext, aber wenn er von unterschiedlichen christlichen Religionen jedes mal anders ausgelegt wird, sollte man sich schon hinterfragen, was denn wirklich die Wahrheit ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Gott mein irdisches Leben nehmen möchte.

„Letztendlich darf es keine Glaubensgründe geben, um Leben retten zu dürfen.“

Wolfgang Beyer

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Inzest – Strafbare Liebe?

Patrick S. und Susan K. sind auf den ersten Blick ein ganz normales Liebespaar. Sie leben mit ihren vier Kindern in einer Wohnung in Sachsen, werfen sich verliebte Blicke zu und gehen zusammen mit Freunden aus. Eine Sache fällt jedoch auf: Keiner der beiden trägt einen Ehering am Finger, die Ähnlichkeit zueinander im Gesicht ist dafür unverkennbar. Heiraten kommt für die beiden nicht in Frage – allerdings aus rein rechtlichen Gründen. Patrick und Susan sind Halbgeschwister.

Romantische Gefühle haben innerhalb der Familie für die meisten wenig zu suchen. Und doch gibt es Menschen wie Patrick und Susan, bei denen die Liebe zu einem Familienmitglied über eine familiäre Beziehung hinausgeht. Wenn Schwester und Bruder sich lieben, stößt das schnell auf gesellschaftliche Ablehnung. Auch rechtlich hatte die Beziehung der beiden Konsequenzen: Patrick saß für die Liebe zu seiner Halbschwester insgesamt über drei Jahre im Gefängnis. Jedes der vier Kinder ist ein erneuter Beweis für ihre Tat.

Denn: Inzest, ist in Deutschland illegal. Strafbar macht sich nach § 173 des Strafgesetzbuchs, wer den Beischlaf (vaginalen Geschlechtsverkehr) zwischen engen Verwandten – also aufsteigenden (Eltern), absteigenden (Kindern) oder Seiten- (Geschwistern) Linien – vollzieht. Bestraft wird nur, wer das 18. Lebensjahr zum Zeitpunkt des Beischlafs erreicht hat.

Im Fall von Patrick und Susan musste nur der volljährige Patrick eine Strafe verbüßen, seine Halbschwester war zu Beginn der Beziehung erst 16 Jahre alt. Später hielten die Gerichte sie wegen einer leichten geistigen Behinderung und einer „abhängigen Persönlichkeitsstruktur“ für schuldunfähig. Anders hätte die Beziehung der beiden dagegen in vielen Nachbarländern aussehen können.  In Frankreich wurde Inzest bereits im Zuge der Aufklärung 1810 für straffrei erklärt. Viele weitere Länder folgten. Die untenstehende Grafik zeigt, wie unterschiedlich die Rechtslage zum Thema Inzest in Europa ist.

Wieso kann das Gesetz zwei erwachsenen Menschen vorschreiben, wen sie zu lieben haben und wen nicht? Ist ein solches Gesetz in Zeiten, in denen die sexuelle Selbstbestimmung weitestgehend Privatsache ist, noch zeitgemäß? Über sieben Jahre lang versuchte das Geschwisterpaar diese Fragen zu klären, zuletzt vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.  Die Klage der beiden, dass der Inzestparagraf eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstelle, wurde einstimmig abgelehnt: „Das Verbot der Geschwisterliebe verstößt gegen keine Menschenrechte“, hieß es von Seiten des Gerichtshofs. Das Gesetz diene in erster Linie dem Schutze des Kindeswohls, denn bei inzestuösen Beziehungen steigt die Gefahr für Erbkrankheiten aufgrund einer unzureichenden Vermischung von Genen erheblich an. Auch zwei der vier Kinder von Patrick und Susan haben eine Behinderung.  Neben dem Kindeswohl sehen viele Expert*innen auch die festgelegte Ordnung innerhalb einer Familie durch inzestuöse Handlungen gefährdet.

Inzest bleibt ein kontroverses Thema

Der Fall von Patrick und Susan liegt bereits acht Jahre zurück, doch er sorgt bis heute für Diskussionen. „Erwägungen, die auf eine mögliche erhöhte Erberkrankung abzielen, haben schon nach unserem heutigen Grundrechtsverständnis keine Rolle zu spielen“, meint Tommy Kujus, Anwalt aus Leipzig. Er hat bereits mehrfach einvernehmliche Inzestfälle zwischen Geschwistern vor Gericht vertreten. Eine Strafbarkeit hält er persönlich in diesem Bereich für wenig sinnvoll.

Auch der deutsche Ethikrat sprach sich 2014 nach der Entscheidung des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen den Fortbestand eines Gesetzes aus, das den einvernehmlichen Beischlaf unter Geschwistern unter Strafe stellt.

„Das Risiko der Zeugung eines genetisch geschädigten Kindes […] ist zwar von ethischer Relevanz, aber es lässt sich aus diesem Umstand kein triftiges Argument gegen einvernehmliche Inzesthandlungen ableiten.“,

erklärte das Gremium in seiner Stellungnahme. Dies gelte besonders vor dem Hintergrund, dass für andere Paare, bei denen ein erhöhtes Risiko für Erbkrankheiten besteht – etwa Personen mit Behinderung oder Frauen über 45 – keineswegs ein Zeugungsverbot ausgesprochen oder erwogen werden dürfte.

Würde es jedoch nach Ulrike M. Dierkes gehen, wäre Inzest überall in Europa verboten. Sie wurde als Kind einer Vater-Tochter-Vergewaltigung geboren und leitet seit 20 Jahren den Verein Melina e.V. für Inzestkinder und Kinder aus Vergewaltigungen. Ihre persönliche Geschichte und die Erfahrungen anderer Betroffener teilt sie in der Podcastfolge zu diesem Projekt.

„Ich bin zum Glück unversehrt auf die Welt gekommen, aber andere Betroffene, die ich kennenlernen durfte, haben teilweise multiple Schäden. Die leiden ihr ganzes Leben darunter.“ Aus ihrer Sicht ist Inzest außerdem ein Eingriff in Naturgesetze:

„Die Natur hat jedem Familienmitglied eine klare Rolle zugewiesen. Diese natürliche Ordnung eigenmächtig zu verändern steht uns nicht zu und tut uns auch nicht gut.“

Auch der deutsche Ethikrat sieht in der Aufrechterhaltung der bestehenden, familiären Ordnung ein Argument für das Inzestverbot. Eine Eltern-Kind-Beziehung könne durchaus dazu führen, dass Familienmitglieder aus ihrer genuinen Rolle innerhalb der Familie verdrängt werden. Allerdings treffe das nicht zu, wenn es sich bei den Betroffenen um erwachsene (Halb-)Geschwister handelt: „Einvernehmliche inzestuöse Beziehungen zwischen Geschwistern tasten die Rollen im familiären Zusammenleben nicht in einer Weise an, die nachvollziehbare Bedürfnisse der Familienmitglieder verletzt, wenn kein tatsächlich gelebter Familienverbund besteht.“

Laut eigener Aussage liegen dem Ethikrat nur Fälle von Inzest vor, in denen Betroffene sich erst im Erwachsenenalter als Halbgeschwister kennengelernt haben. Wäre eine Differenzierung des Gesetzes in einem solchen Fall also sinnvoll?

Strafrecht oder Moralrecht?

Tommy Kujus steht dem Inzest Paragrafen prinzipiell zwiegespalten gegenüber: „Diskutabel wäre gegebenenfalls der Umstand, dass familienrechtliche und gesellschaftliche Wirrungen vermieden werden sollen. Ob dies allerdings mit den Mitteln des Strafrechts, welches stets das letzte Mittel des Staates ist, auf ein Fehlverhalten seiner Bürger zu reagieren, sein muss, halte ich für fraglich.“

Doris Bertels* sieht das ähnlich:

„Ich bin der Meinung, dass so etwas den beteiligten Menschen überlassen werden muss. Es muss einfach im gegenseitigen Einverständnis geschehen.“

Bertels führte über 30 Jahre lang eine Beziehung mit ihrem zehn Jahre älteren Bruder. Im Alter von 13 Jahren initiierte sie die Beziehung. „Ich fühlte mich wie im siebten Himmel und wahrte das Geheimnis total. Ich war glücklich und stolz, so etwas zu erleben“, berichtet sie von ihren damaligen Gefühlen. Erst später erfuhr sie, dass ihr Bruder auch eine Beziehung mit ihrer Cousine und ihrer Schwester führte. Der Ordnung der Familie haben die inzestuösen Handlungen ihrer Meinung nach trotzdem nicht geschadet: „Die Beziehung unter uns Geschwistern ist völlig intakt. Alle sind verheiratet und haben eigene erwachsene Kinder.“ Auch das Verhältnis zu ihrem Bruder ist bis heute sehr gut. Auf Familienfeiern reden die beiden regelmäßig über alten Zeiten. Auf die Frage, wie sie sich wünscht, dass mit dem Thema Inzest in Zukunft in der Gesellschaft umgegangen wird, antwortet sie: „Mit mehr Toleranz. Alle sollten tun dürfen, was ihnen gefällt, aber es muss beiden gefallen.“

Liebe oder Manipulation?

Genau in der Bestimmung dieser beidseitigen Einvernehmlichkeit sieht Ulrike M. Dierkes, Vorsitzende des Vereins Melina e.V., ein großes Problem. Denn schließlich muss nicht jede Inzestbeziehung so positiv verlaufen wie die von Doris Bertels und ihrem Bruder. „Mir liegen keine Glücksberichte vor. Selbst in Fällen die mit sogenannter Bruder-Schwester-Liebe begannen oder so deklariert wurden, hat sich später herausgestellt, dass doch eine Form von Manipulation oder Gewalt eine Rolle gespielt hat“, berichtet sie aus den Gesprächen mit Betroffenen.

Parallelen dazu gab es auch im Fall von Patrick und Susan. Patrick wurde vor der Geburt seines dritten Kindes zusätzlich wegen vorsätzlicher Körperverletzung gegenüber Susan verurteilt. Ob Macht oder subtiler Zwang bei vermeintlich freiwilligen inzestuösen Handlungen eine Rolle spielen, kommt vermutlich auf den Einzelfall an. Laut Aussage der Verfassungsrichter des Bundesverfassungsgerichts bestehe bei Geschwisterinzest allerdings häufig ein erheblicher Altersunterschied, der zu einem Abhängigkeitsverhältnis und somit zu einer Duldung des Geschlechtsverkehrs führen könne. Ohne den Inzestparagrafen wären die Betroffenen auf Dauer schutzlos.

Eine Möglichkeit gibt es trotzdem, wie man auf Dauer sowohl freiwilligen als auch unfreiwilligen Inzestbetroffenen helfen kann: „Ich finde es sehr wichtig, dass man immer wieder in einen Dialog miteinander eintritt“, schildert Ulrike M. Dierkes ihren Wunsch, wie das Thema Inzest in Zukunft in der Gesellschaft behandelt werden solle.


*Der Name wurde von der Autorin geändert