VOM GLAUBEN BESOFFEN

Die Zeugen Jehovas klingeln an der Haustür und drängen dir ihre Lehre auf, Tom Cruise ist Mitglied bei Scientology und die Zwölf Stämme machen Schlagzeilen mit Missbrauchsvorfällen: Geschichten über Sekten gibt es viele und eigentlich will niemand etwas damit zu tun haben. Bei der Neureligion Shinchonji ist es aber gar nicht so einfach zu erkennen, dass man gerade etwas mit einer Sekte zu tun hat. Die meisten wissen erst, dass sie existiert, wenn sie schon in ihren Strukturen stecken.

Wie die Strukturen funktionieren und an was die südkoreanische Sekte glaubt, erklären wir euch im folgenden Video.

Seit der Gründung von Shinchonji 1984 breitet sich die Gemeinschaft von Südkorea bis nach Europa und in die USA aus. Sie ist seit 2006 auch in Deutschland aktiv und wird immer größer.

MISSIONIERUNGSSTRATEGIE

Laut Oliver Koch, Weltanschauungsbeauftragter der evangelischen Kirche, verfolgt die Sekte drei Missionierungsstrategien in Deutschland, die auf verschiedenen Ebenen ablaufen. Zum einen gehen Shinchonji-Mitglieder in Gottesdienste bestehender christlicher Gemeinden und sprechen dort gezielt Personen an, die alleine sitzen. Viele Aussteiger berichten, dass sie die Sektenmitglieder von Anfang an sympathisch fanden, da sie sehr offen und freundlich auftreten. Wie Koch erzählt versuchen sie schnell, einen persönlichen Kontakt zum „Missionsobjekt“ herzustellen, bis sie es zu einem Bibelkurs einladen.

Die 27-Jährige Anna ist Aussteigerin aus der Sekte. Sie kam über eine Freundin zu den Bibelkursen von Shinchonji. Ihre Freundin wurde auf der Straße von einer fremden Frau angesprochen, die angeblich ein Interview zum Thema „Religion und Glaube im Alltag“ machte. Das ist die zweite Methode, mit der Shinchonji neue Mitglieder generiert. Schnell intensivierte sich der Kontakt und Anna lernte die Frau kennen. Beide begannen, über die Bibel zu sprechen, bis sie die „Lehrerin“ recht bald zu einem Bibelkurs einlud. Anna wunderte sich über das enorme Interesse an ihrer Person.

Das starke Interesse äußert sich schon bald dadurch, dass den Teilnehmern mehr und mehr abverlangt wird. Die Strukturen werden starr.

Die ersten beiden Methoden funktionieren vorwiegend bei Menschen, die sich mit Glaubensfragen beschäftigen und Interesse daran haben, mehr über die Bibel zu lernen. So wie Anna und ihre Freundin. Die dritte Missionierungsstrategie hingegen geschieht über Tarnorganisationen, wie zum Beispiel die „Frankfurter Friedensgemeinde“ und die „International Womens Peace Group“. Es geht so weit, dass diese Institutionen Feste planen, zu denen auch bekannte Persönlichkeiten eingeladen werden. Der Name Shinchonji fällt nie.

INSTRUMENTALISIERUNG

Koch betont, wie wichtig es ist, immer wieder kritisch zu sein und zu überprüfen, was für eine Organisation hinter Veranstaltungen steht, bei denen für Frieden und Gerechtigkeit geworben wird. Ab und zu wird das vernachlässigt. 2013 trat der Gründer von Shinchonji, Man-hee Lee, beispielsweise auf die Bühne des Leipziger Friedensforums und hielt eine Rede. Die Organisatoren erfuhren erst nach der Veranstaltung, welche Hintergründe ihr internationaler Gast hatte.

Mit Hilfe der Tarnorganisationen bekommt Shinchonji Kontakt zu berühmten Persönlichkeiten, Politikern und Vertretern unterschiedlichster Glaubensgemeinschaften. Sie laden solche Personen unter dem Vorwand von Friedensaktivitäten nach Korea ein. Auch in Frankfurt gibt es immer wieder Kongresse, die sich zum Beispiel „World Alliance of religious Peace“ nennen, kurz WARP. Bei diesen Veranstaltungen unterschreiben Teilnehmer wie Politiker oder Vertreter von Kirchen Kongregationen, auf denen im Kleingedruckten steht: „You are now a part of WARP“, also Mitglied einer Tarnorganisation von Shinchonji. Sie tun das im Glauben daran, einem friedvollen Miteinander zuzustimmen. Solche Veranstaltungen nutzt Shinchonji, um in der Medienöffentlichkeit aufzutauchen – wenn auch mit anderen Namen.

Shinchonji tritt nie mit ihrem echten Namen auf. Oliver Koch berichtet von seiner Reise nach Südkorea, dass sich selbst am Headquarter der Sekte in Seoul kein Erkennungszeichen befindet. Das erlaubt ihnen, die Namen der Tarnorganisationen zu ändern, sobald kritische Informationen an die Öffentlichkeit geraten. Anschließend sind sie im Prinzip verschwunden. In Frankfurt hießen sie schon „Frankfurt Korea Internationale Missionsgemeinde“, „Frankfurter Friedensgemeinde“, „Bible Center“, „Bible College“ und „International Bible College“. Shinchonji hat den Namen immer wieder geändert und wird ihn wohl auch in der Zukunft noch öfter wechseln. Eines haben aber alle Namen gemeinsam: Sie vermitteln ein harmloses Bild der Organisation verbergen ihre Verbindung zu Shinchonji. Aussteiger berichten, dass ihnen am Anfang vor allem das internationale und junge Umfeld in den Kursen zugesagt hat.

MANIPULATION

Aussteiger sind meistens allein, wenn sie sich zum Schritt aus den Fängen der Sekte entscheiden. Die engeren Bindungen, die bestehen, sind oftmals mit der manipulativen Gemeinschaft verwoben.

Als Anna und ihre Freundin tatsächlich den Bibelkurs besuchten, waren sie schon in einer Art Strudel, wie Oliver Koch es nennt. Sie hatten eine Freundschaft zu einem Shinchonji-Mitglied geschlossen und Vertrauen aufgebaut. Das sei typisch, erklärt Koch. Der Kurs findet viermal in der Woche statt und die Mitglieder versuchen, die „Neuen“ dazu zu bringen, nach und nach mehr Zeit in den Bibelkurs zu investieren. Die Sektenmitglieder fordern immer mehr. Die Kurse beginnen früher als angesetzt und enden oft spät am Abend. Bei kritischen Nachfragen, wie Anna sie oft stellte, verweisen die Lehrer oft auf den nächsten Tag, die nächste Woche oder entgegnen: „Hab Geduld, hab Geduld, du verstehst das noch nicht.“

Anna bekam immer seltener Antworten auf ihre Fragen und die Mitglieder verwickelten sie in andere Gespräche, um von kritischen Fragen abzulenken. Oliver Koch, Weltanschauungsbeauftragter der evangelischen Kirche, erklärt, dass sich Kursbesucher in eine Art Abhängigkeit begeben. Ihnen wird versprochen, die Bibel zu verstehen. Aber erst am Ende des Kurses, weil sich einem erst dann die „ganze Wahrheit“ erschließt. Gleich zu Beginn des Kurses erklären die Lehrer, es sei wichtig, nicht mit anderen über das Erlernte im Kurs zu sprechen, das könnte die Teilnehmer verwirren. Auch Anna wurde geraten, nicht mit Freunden und Familie über den Kurs zu sprechen, da Satan sonst leicht auf sie Einfluss nehmen könne und sie abhalte, die Wahrheit zu lernen. Das könne er über die engsten Bezugspersonen besonders gut, da die emotionale Bindung hier am stärksten sei. Anna tat es trotzdem und erfuhr so von einer Frau aus ihrer Gemeinde, dass sie in einer Sekte ist.

Koch betont, dass das natürlich eine geschickte Strategie sei, um Menschen von Kritik abzuhalten.

Die Bibelkurse sind in Grundstufe, Mittelstufe und Hauptstufe eingeteilt. Jede Stufe müssen die Teilnehmer mit einer Prüfung abschließen, in der sie Bibelzitate wortwörtlich zitieren. Es gibt keine Transferfragen, sondern es geht um stupides Auswendiglernen. Wer eine Prüfung nicht besteht, muss einen Teil des Kurses wiederholen und sie nochmal schreiben. Zwischen der Mittelstufe und der Oberstufe werden die Teilnehmer „eingeweiht“. Das bedeutet, sie erfahren von Man Hee Lee, dem angeblichen verheißenen Pastor der Endzeit. Ab diesem Punkt steigt der Druck auf die Teilnehmer. Sie müssen mehr und mehr Zeit investieren und weitere Personen anwerben. Koch beschreibt das als einen „manipulativen Strudel“.

Sobald Mitglieder „versiegelt“, also eingeweiht sind in die Endzeitvorstellungen von Shinchonji, besuchen sie zusätzlich einen separaten Gottesdienst. Dort gibt es oft Liveübertragungen aus Südkorea, in denen Man Hee Lee beim Predigen zu sehen ist. Je nachdem, in welchem Teil der Erde sich die entsprechende Dependance von Shinchonji befindet, ist sie einem der zwölf Stämme aus der Bibel zugeordnet, die jeweils ihre spezifische Farbe haben. In Frankfurt ist das der Stamm des Simon mit der Farbe Gelb. Männer tragen bei Gottesdiensten eine gelbe Krawatte und Frauen ein gelbes Halstuch. Darauf ist die Unterschrift von Man-hee Lee eingestickt.

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Eine Krawatte von einem Shinchonji Mitglied aus Frankfurt.

In Frankfurt sind an Sonntagen die Fenster im 15. Stock des Gebäudes, in dem Shinchonji den Gottesdienst für die Eingeweihten feiert, mit gelben Tüchern verhangen.

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Nur am Sonntag sind die Fenster des 15. Stockwerks verhangen.

Die „Versiegelten“ müssen außerdem ihren Zehnten, also zehn Prozent ihres Nettoeinkommens, an Shinchonji abgeben. Wer wie viel gegeben hat, sehen die Mitglieder während des Gottesdienstes auf einem großen Bildschirm.

Letztlich führt die mangelnde freie Zeit dazu, dass sich die Mitglieder immer weiter abkapseln und den Anschluss zu ihren Angehörigen und Freunden verlieren.

ISOLATION

Oft brechen Mitglieder den Kontakt zu Außenstehenden ab. Alle Freunde und sozialen Kontakte leben innerhalb der Gruppierung. Kritische Stimmen verstehen Shinchonji Mitglieder als satanistische Versuche sie zu unterwandern und zu zerstören. Deswegen lassen sie Kritik sofort an sich abprallen, was es für Angehörige erschwert, Kontakt zu halten. So erging es auch der Mutter von Markus, der selbst ein Jahr lang Mitglied der Sekte Shinchonji war und eine Dependance in Stuttgart errichten sollte. Wie es der Familie in dieser Zeit ergangen ist, könnt ihr hier nachlesen.

Nur dann können Mitglieder die Kraft finden, aus der Sekte auszutreten. Doch eine endgültige Entscheidung kann den Betroffenen von niemandem abgenommen werden.

AUSSTIEG

Anna entscheidet sich aus eigenen Stücken für den Ausstieg. Obwohl sie nicht einmal einen Monat lang den Bibelkurs besucht hat, ist der Druck enorm und die Kritik der anderen Sektenmitglieder bleibt nicht aus.

Anna hat es geschafft und ist seitdem vorsichtiger, wenn sie anderen Menschen von ihrem Glauben erzählt. Ihre Offenheit und ihr Gottvertrauen hat sie aber behalten.

[ssba]