Wer ermordete Lucas Villa? Gewaltsame Auseinandersetzungen dominieren seit April die Politik Kolumbiens. Was die Ursachen für die Proteste sind.

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Die Geschichte von Lucas Villa ist beispielhaft für diesen Protest. Der junge Lehramtsstudent nahm an den Protesten in Pereira, einer Provinzhauptstadt 6 Stunden südlich der Hauptstadt Bogota, teil. Lucas ist bekannt auf den Demonstrationen, hat viele Redebeiträge und führt Sprechchöre an. Diese Bekanntheit wird ihm zum Verhängnis. Am Abend des 05.Mai nach einem Protestzug, versammeln sich einige der Demonstranten am „Viadukt“, einer Hängebrücke in Pereira welche regelmäßig für Kundgebungen genutzt wurde. Unter Ihnen ist auch Lucas Villa, der in einem Video gerade eine Rede abschließt mit den Worten „Ihr Ignoranten, Sturen und Schlafenden, Wacht auf!“. Kurz darauf fallen Schüsse. Zwei Personen auf einem Motorrad eröffnen das Feuer auf die Demonstrierenden und verwunden drei von ihnen, unter anderem Villa. Er stirbt im Krankenhaus, die beiden anderen überleben schwerverletzt.
Wut in der Peripherie
Sebastian Salzar war Teil des gleichen Protestzuges wie Lucas, war aber mit seiner Gruppe kurz vor den Schüssen zum Hauptplatz der Stadt, dem Plaza Bolivar weitergezogen. Für ihn ist der Angriff kein Zufall, sondern Teil einer gezielten Einschüchterungsstrategie gegen die Demonstranten. Anführer der Protestierenden würden gezielt angegriffen und eingeschüchtert. Der Bürgermeister der Stadt Enrique Vasquez Zuleta, welcher Mitglied der Regierungspartei ist gegen die demonstriert wird, forderte am Tag vor dem Mord die Bürger der Stadt auf, mit den Sicherheitskräften eine bewaffnete „gemeinsame Front“ gegen die Proteste zu bilden. Egal wer auf Lucas geschossen habe, Paramilitärs, wütende Zivilisten oder gar Polizisten in Zivil, wegen dieser Aufstachelung sei der Bürgermeister mitschuldig an der Gewalt am Viadukt, so Sebastian.

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Er und Duber Bermudez sind Mitglieder des Kollektives Periferia, welches in Pereira mit Kunst und Sport sozial benachteiligte Jugendliche unterstützen will. Dass die Polizei Monate später immer noch keine Ergebnisse hat, zeigt für Duber, dass kein Wille zur Aufklärung besteht. Viel mehr würde die Polizei, vor allem die Einheit ESMAD die vergleichbaren Aufgaben wie das deutsche USK hat, mit Paramilitärs zusammenarbeiten, um die Proteste zu unterdrücken. Besonders eine Gruppe namens „Gute Leute“, erkennbar an ihren einheitlich weißen Hemden, haben eine weit weniger weiße Weste als ihr Anblick vermuten lassen soll. Sie übernehmen die schmutzige Arbeit für die Polizei und sie vermutet Duber auch hinter dem Angriff am 05. Mai. Beweisen lässt sich das nicht, auch wenn Aktivisten immer wieder berichten, dass sie nach Polizeiverhören plötzlich anonyme Drohungen auf ihren zuvor konfiszierten Handys erhalten. Für ein angespanntes Klima sorgt es in jedem Fall. Immer wieder werden Polizeistationen von Protestierenden angriffen und zerstört. Duber und Sebastian heißen das nicht gut, sagen aber auch, dass diese Stationen die Orte sind, an denen Demonstranten misshandelt und verletzt werden und Frauen vergewaltigt wurden. Verstehen könne man die Wut daher durchaus.
Bücher in Ruinen
Mit zerstörten Polizeistationen kennt sich Walter Gomez aus. Er betreibt die Bibliothek „Maloca Comunitaria Nicolas Guerrero“ in einer ehemaligen Polizeiwache in Cali, die Jahre zuvor bei Protesten verwüstet und danach für ihre jetzige Funktion instandgesetzt wurde. Cali ist die drittgrößten Stadt Kolumbiens und zusammen mit Pereira eines der Epizentren der Proteste, weshalb es hier die Zusammenstöße mit der Polizei besonders heftig waren. Da die Bibliothek auch als eine Art Gemeindezentrum fungiert erfuhr er früh von den Problemen, welche später zu den Protesten führten.
Ursache ist die immer noch weit verbreitete Armut im Land, verursacht durch die extreme Ungleichheit, laut der Heinrich Böll Stiftung die höchste in Lateinamerika. Zudem ist ein Drittel der Jugendlichen ohne Ausbildung, Job oder Studium und die Hälfte der unter 25-Jährigen gilt als arm. Im Zuge der Corona Pandemie und ihren Auswirkungen eskalierte die Situation. Da die Staatsfinanzen infolge der gesunkenen Steuereinnahmen und der Hilfsprogramme raide schlechter wurden, plante die Regierung von Präsident Iván Duque eine Steuer und Gesundheitsreform, welche hauptsächlich die ärmeren Bevölkerungsteile belastet hätte. Die Regierung unterschätze dabei offenbar den Unmut der Bevölkerung und die Wut über zusätzliche Belastungen entlud sich auf die Straße. Auch die großen Gewerkschaften mobilisierten gegen die geplanten Änderungen. Die Regierung lenkt schnell ein und nahmeinen Großteil der Forderungen zurück, die Dynamik der Straße hatte sich aber bereits über die ursprünglichen Forderungen hinaus entwickelt. Neue Forderungen nach besseren Sozialprogrammen, besserer Bildung und Gesundheitsversorgung kamen auf.

Quelle: Gallup https://news.gallup.com/poll/272324/colombians-wider-divide-rich-poor.aspx
Brandstifter im Hintergrund
Dass die Regierung nur schlecht auf die Proteste eingehen kann, liegt auch an ihrer Ideologie meint Gomez. Der nach dem ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe benannte Uribismus macht für die Probleme Kolumbiens zwei Gruppen verantwortlich: Die Guerilla Bewegung FARC, die seit 1964 gegen den Staat kämpft, und die fast zwei Millionen Flüchtlinge aus Venezuela. Diese beiden Gruppen stünden der strahlenden Zukunft Kolumbiens entgegen. Für die Coronakrise hingegen waren diese beiden Gruppen nur schwer verantwortlich zu machen, wodurch die üblichen Schuldzuweisungen scheiterten.

Von Center for American Progress – https://www.flickr.com/photos/americanprogress/542421384/, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3368658
Bei der Diskreditierung der Proteste greifen die alten Muster hingegen besser. Regelmäßig werden die Demonstranten wahlweiße als Kriminelle, FARC Terroristen oder als von Venezuela gesteuerte Agenten beschimpft. Maßgeblich daran beteiligt ist auch der ehemalige Präsident Uribe. Er verkündete auf Twitter: „Lasst uns das Recht von Soldaten und Polizisten unterstützen, ihre Waffen einzusetzen, um ihre Integrität zu verteidigen und Menschen und Eigentum vor den kriminellen Handlungen des vandalischen Terrorismus zu schützen!“ Obwohl Uribe Verbindungen zu Massakern von Paramilitärs und Drogenkartellen nachgewiesen werden konnten, genießt er in der Bevölkerung immer noch großes Vertrauen und ist der politische Ziehvater des aktuellen Präsidenten Duque. Solange die Regierung nicht von seiner Rhetorik Abstand nehme, befürchtet Gomez, dass die politische Gewalt in Kolumbien weiter anhält. Die Zahlen scheinen ihm Recht zu geben. Der Mord an Lucas Villa ist kein Einzelfall, NGOs gehen von mindestens 75 Toten aus und selbst die Regierung bestätigt zusätzliche 89 Personen von denen jede Spur fehlt.