Überdosierung durch Cytotec – wenn das Geburtserlebnis zum Albtraum wird

von Volodymyr Shtun; https://www.colourbox.de/preview/45634216-.jpg

Es hieß nur ich bekomme Tabletten. Die sind eigentlich für den Magen, aber super zur Einleitung. Mir wurde nicht gesagt was es genau ist, weder der Medikamentenname noch die Dosis. Von irgendwelchen Nebenwirkungen habe ich überhaupt nichts gehört. Ich habe auch nichts unterschrieben.

Lisa

In Deutschland wird jede fünfte Geburt eingeleitet. Oftmals kommt dabei das Medikament Cytotec zum Einsatz. Cytotec ist vom Hersteller Pfizer mit einer Dosierung von 200 µg Misoprostol pro Tablette als Magenschutzmittel und Abtreibungsmedikament indiziert. Für die Verwendung zur Geburtseinleitung gibt es keine Zulassung. Dennoch wird es laut Recherchen der SZ und des BR in über 50% der Kliniken in Deutschland für diesen Zweck genutzt. Mit 200µg ist Cytotec aber für die Geburt knapp 10fach zu hoch dosiert und kann in den schlimmsten Fällen schwerwiegende, bleibende Schäden hervorrufen. Dennoch wurde es im sogenannten „Off-Label-Use“, der im Rahmen der Therapiefreiheit der Ärzte in Deutschland erlaubt ist, eingesetzt.

Der Einsatz von „Off-Label-Use“- Medikamenten ist in der Geburtshilfe bei vielen Indikationen eher die Regel denn die Ausnahme.

Dr.Kainer von der Klinik Hallerwiese und Dr. Kehl vom Universitätsklinikum Erlangen

Der Grund für den Nutzen von Cytotec ist die Wirksamkeit des Wirkstoffs Misoprostol, der besonders effektiv Kontraktionen der Gebärmutter auslöst und somit die Wehentätigkeit einleitet. Seitens der WHO wird dafür eine Dosis von 25µg alle zwei Stunden empfohlen. Das Problem mit Cytotec ergibt sich jedoch aus der zu hohen Dosierung von 200µg Misoprostol pro Tablette. In Folge wird das Medikament laut einer Studie der Universität Lübeck von 40% der Hebammen händisch zerteilt, um der empfohlenen Dosierung näher zu kommen, obwohl der Hersteller Pfizer vor einer ungleichmäßigen Verteilung und einer Überdosis des Wirkstoffs warnt.

Cytotec wird aber nicht nur aufgrund seiner zuverlässigen Wirkung eingesetzt, sondern ist zudem sehr günstig und einfach aufzubewahren. Es gibt kein vergleichbares Medikament mit ähnlicher Effektivität in derselben Preisspanne. Gerade deswegen ist es für viele Ärzte attraktiv, obwohl es laut Univ. Prof. Dr. Husslein von der Universitätsfrauenklinik in Wien in der Geburtsmedizin nicht ausreichend erforscht ist. Er betont:

Zur Wirksamkeit von Misoprostol gibt es keine ordentlichen wissenschaftlichen Studien, zumindest nicht in der Qualität, wie sie zur Registrierung eines Pharmaproduktes vorgeschrieben sind.

Prof. Dr. Husslein

Er selbst blickt auf 30 Jahre Erfahrung als Klinikchef zurück und warnt vor den Risiken, die Cytotec mit sich bringt.
„Cytotec wurde lange unterschätzt […]“, doch „ein gefährliches Medikament ist ein gefährliches Medikament.“
Eine Überdosierung durch Cytotec kann zu einer Überstimulation der Gebärmutter und in weiterer Folge zu einer dauerhaften Kontraktion, einem sogenannten Wehensturm, führen. Daraus können sich erhebliche Folgen für Mutter und Kind ergeben, wie etwa Gebärmutterrisse, Sauerstoffmangel und Hirnschädigungen des Neugeborenen. Auch Todesfälle von Mutter und Kind wurden gemeldet. Im Fall von Lisa, einer jungen Mutter aus der Nähe von Passau, reichen die Komplikationen so weit, dass sie einem Verblutungstod nach der Geburt nur knapp entgehen konnte und intensivmedizinisch betreut werden musste. Knapp ein halbes Jahr nach ihrem schmerzvollen Geburtserlebnis ist sie bereit darüber zu sprechen.

Fehlende Aufklärung

von Sergey Novikov; https://www.colourbox.de/preview/50321670-.jpg

Es ist Sonntag der 28. Februar 2021, als Lisa sagt sie könne nicht mehr. Seit zwei Wochen liegt sie nunmehr im Krankenhaus, um ihre Geburt einzuleiten. Ihr werden Kapseln gegeben, meist zwei bis vier aller drei Stunden. Was genau sie bekommt weiß sie nicht, doch man hat ihr versichert, dass die Tabletten die Geburt zuverlässig einleiten.

Lisa wurde über die Medikamente nicht aufgeklärt

Dennoch fordert Lisa am 28.02.2021 einen Notkaiserschnitt. Die Medikamente scheinen nicht wie geplant anzuschlagen, sie spürt noch immer keine Wehen. Ihre Ärztin schlägt ihr als letzte Möglichkeit vor dem Kaiserschnitt nochmal Tabletten vor, die man vaginal einführt. Auch hier weiß Lisa nicht, worum es sich handelt, vertraut aber in dem Moment der Expertise der Ärztin. Sie bekommt in der Nacht auf Montag dreimal entweder eine halbe oder eine viertel Tablette vaginal eingeführt. Die Wehen beginnen, doch was danach passiert liegt außerhalb ihrer Kontrolle. 

Als Wehen kann ich das gar nicht mehr bezeichnen, das Wellenartige fehlte.

Lisa

Lisa durchzieht ein dauerhafter Schmerz, als sie in den Kreißsaal gebracht wird. Sie bekommt Schmerzmittel, eine PDA und Lachgas, spürt den Schmerz aber dennoch. Zu ihrer Beruhigung geht die Geburt schnell und ihr Kind kommt am 01.03.2021 ohne Schäden zur Welt. Lisa wird wieder auf ihr Zimmer gebracht, um sich auszukurieren, doch schon bald merkt sie, dass etwas nicht stimmt. Sie verspürt links neben der Scheide Druck und wendet sich an die Ärzte, die sie zunächst nur beruhigen wollen, aber Lisa ist sich sicher, dass bei ihrer Geburt etwas schief gegangen ist. Als sie erneut in den Kreißsaal gebracht wird stellen die Ärzte fest, dass sie ein Hämatom in ihrer Gebärmutter hat, eine Ader ist gerissen. An den Rest kann sich Lisa kaum noch erinnern. Sie erfährt später im Aufwachraum, dass ihre Dränage innerhalb einer halben Stunde mit 500ml Blut vollgelaufen ist. Ihr wurden Ballons eingesetzt, um die lebensgefährliche Blutung zu stillen. Zusätzlich erhält sie Bluttransfusionen und insgesamt vier Liter Eiseninfusionen. Lisa wäre an der Geburt ihrer Tochter fast verblutet. Der Schock sitzt bei ihr bis heute tief. Am 07.03.2021, eine Woche nach der Geburt und drei Wochen, nachdem mit der Einleitung ihrer Geburt angefangen wurde, darf sie das Krankenhaus verlassen. Der Schock sitzt bei ihr bis heute tief.

Durch Zufall stößt sie in den Wochen darauf auf eine Anwaltskanzlei, die sich mit den Folgeschäden des Einsatzes von Cytotec beschäftigt. Sie fängt an, sich in das Thema einzulesen und findet erschreckend viele Parallelen. Mithilfe der Kanzlei fordert sie ihre Patientenakte und erfährt so nachträglich, dass bei ihrer Geburt Cytotec in viel zu großen Mengen verwendet wurde, was sowohl lauf des Herstellers, als auch der Neuen Leitlinie der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, kurz DGGG nicht zulässig ist. Sie hat gegen ihr Krankenhaus geklagt, doch der Prozess ist noch im Gange. 

Rechtliche Lage ist komplex

Insbesondere bei Medikamenten, die im „Off-Label Use“ angewandt werden, ist es schwierig Behandlungsfehler zu identifizieren und rechtliche Schritte gegen ein Krankenhaus einzuleiten. Sollte es durch die Verwendung von Cytotec zu Schäden an Mutter oder Kind kommen, kann dies nur schwer auf das Medikament zurückgeführt werden. Die Kliniken argumentieren mit einem „fehlenden Kausalzusammenhang“, denn niemand könne sagen, ob etwaige Komplikationen nicht auch ohne Cytotec aufgetreten wären. Dies macht es für die betroffenen Frauen schwer, nach erhaltener Medikation rechtlich gegen das behandelnde Krankenhaus vorzugehen.

Bislang hat noch keine Frau gegen Cytotec gewonnen.

Karola Neuhaus, Leiterin von Cytotec Stories

Ein weiterer Grund, warum es für Betroffene schwer ist zu klagen, ist, dass die DGGG bis heute die von der WHO empfohlenen Dosis von 25µg alle 4 Stunden noch immer nicht festgeschrieben hat. In der neuen Leitlinie, welche im Dezember 2020 veröffentlicht wurde heißt es nur, dass Einzelgaben von über 100µg und Erstgaben von über 50 µg unterlassen werden sollen. Das zögerliche Handeln der DGGG wird vielseits kritisiert, unter anderem von Prof. Dr. Husslein, dem Vorstand der Universitätsklinik für Geburtshilfe und Gynäkologie in Wien. 

Die DGGG hat nicht konsequent genug gehandelt. Sie hat das Problem ignoriert und viel zu lange gebraucht eine einigermaßen konsequente Leitlinie zu formulieren. Sie hat sich absolut zu wenig mit diesem Problem beschäftigt und als solches ist ihr auch ein vehementer Vorwurf zu machen.

Prof. Dr. Husslein

Importstopp als Lösung?

Nach den Recherchen der SZ und des BR im Februar 2020 wurden über 400 Fälle vom missbräuchlichen Einsatz von Cytotec und daraus resultierenden Schäden publik. Als Konsequenz wurde über ein Jahr später, im April 2021 durch Gesundheitsminister Jens Spahn ein Importstopp von Cytotec veranlasst. Das Medikament wird seitdem nicht mehr in Deutschland vertrieben, stattdessen gibt es seit Ende 2020 ein neues Medikament mit dem Namen Angusta auf dem Markt. Dieses enthält genauso wie Cytotec auch den Wirkstoff Misoprostol, allerdings in der richtigen Dosierung von 25µg.

Für Lisa als Betroffene ist dieser Schritt fundamental. „Den Importstopp von Cytotec empfinde ich als richtig und wichtig“. Auch der Experte spricht sich für das Ende der Verwendung in der Geburtsmedizin aus, betont aber die Bedeutsamkeit des Medikaments zum Schwangerschaftsabbruch. 

Cytotec ist ein brauchbares und sehr wertvolles Präparat zum Schwangerschaftsabbruch im ersten und zweiten Trimenon und gegebenenfalls postpartal zur Behandlung einer postpartalen Atonie, aber zur Geburtseinleitung ist es falsch dosiert und gefährlich.

Prof. Dr. Husslein

16 Organisationen aus Deutschland, wie pro familia und doctors for choice richten sich in Folge mit einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Spahn. Der erschwerte Zugang zu Cytotec „hätte große Folgen für die Gesundheitsversorgung von ungewollten und gestörten Schwangerschaften“, heißt es in der Stellungnahme von pro familia.

Ausblick

Wie sich die Lage um Cytotec weiterentwickeln wird, ist also bislang unklar. Eines steht für den ehemaligen Klinikchef jedoch fest: „Es ist forensisch gefährlicher geworden Cytotec zu verwenden“. Durch das neue Medikament Angusta, das eine adäquate Dosierung enthält, gäbe es für ihn keinen Grund mehr, Cytotec länger im „Off-Label- Use“ für die Geburtseinleitung einzusetzen. Die Risiken seien zu hoch. Auch wie es mit der zukünftigen Verfügbarkeit von Cytotec für Abtreibungen und die Behandlung postpartaler Blutungen aussieht, ist unklar.

Aus Sicht der Betroffenen bleibt auf eine angemessene Aufklärung der Fälle zu hoffen. Die traumatischen Erfahrungen, welche die werdenden Mütter während der Geburt durchleben, prägen die Frauen oft noch Jahre später, hinzukommen mögliche körperliche Schäden an Mutter und Kind. Im Fall von Lisa hat dies sogar Auswirkungen auf ihre Zukunftsplanung. „Wir wollten eigentlich zwei Kinder haben, aber das hat sich aktuell erledigt“, sagt sie im Gespräch. Zu groß ist die Angst vor einem derartigem Geburtserlebnis.

Weitere Geschichten

https://www.cytotec-stories.de/

https://www.br.de/nachrichten/cytotec-die-ganze-recherche-gefahr-medikament-geburtseinleitung,RqSd5cs

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