Verbrechen

Die stillen Hinweisgeber

In der Scheune von Silke Brodbeck ist ein weißer Pavillon aufgebaut, in dem sich einem der Anblick eines Massakers bietet. An der hinteren weißen Plastikwand: großflächige Spuren rotbrauner Rinnsale. An der Decke spannt sich bandförmig, fast wie die Milchstraße am Nachthimmel, ein Firmament aus unzähligen vereinzelten Spritzern, manche fast perfekte Kreise, manche davon ellipsenförmig und mit kometenartigem Schweif.  Auf dem Boden haben zwischen bogenförmigen Schlieren blutige Schuhsohlen einen Abdruck hinterlassen. Sind es die des Täters? Sind sie stille Zeugen eines brutalen Blutbads? Nicht ganz. „Das war ein Prüfungstatort für meine Studenten von der Polizeihochschule“, erklärt Silke Brodbeck. Ihre Arbeit beginnt dann, wenn alles schon vorbei ist, der Hammer geschwungen, der Abzug gedrückt, ein Leben beendet wurde.

Silke Brodbeck ist Deutschlands einzige spezialisierte Sachverständige für Blutspurenmusteranalyse, „eine Nischendisziplin“, wie sie sagt. Die Scheune ist das Versuchslabor ihres Blutspureninstituts, es ist in Deutschland das einzige seiner Art. Fachleute für Blutspurenmusteranalyse kommen aus allen Bereichen der Forensik – aus der Rechtsmedizin, der DNA-Analyse oder von den kriminaltechnischen Instituten der Polizei. Sie beschäftigen sich damit, wie sich Blut durch den Raum bewegt haben muss, um an Tat- und Geschehensorten spezifische Muster zu hinterlassen. Anhand der Form, Verteilung und Größe von Blutspuren lassen sich Tathergänge rekonstruieren, die Aussagen von Zeugen überprüfen oder Unfälle von Straftaten unterscheiden. Brodbeck selbst studierte in Frankfurt Medizin und Informatik. Die dunkelblonden, leicht gelockten Haare hat sie am Hinterkopf zu einem lockeren Dutt hochgesteckt. Sie spricht schnell und mit wissenschaftlicher Bestimmtheit. In der Scheune stellt sie eine Schale mit rotem Tierblut auf einen weißen Gartenstuhl. Es ist kein frisches Blut, Brodbeck hat es aus ihren Vorräten aus der Tiefkühltruhe geholt. „Wenn es ganz aufgetaut wäre, dann hätte es eine homogenere Farbe“, sagt sie. Dann hält sie eine Spritze in den flüssigen Teil des Blutes, zieht sie auf und stellt damit eine Spur nach, wie sie bei der Verletzung großer Blutgefäße entstehen kann. Ihre Faszination für Blut wachse fast mit jedem Tag mehr, sagt Brodbeck. „Es ist bisher noch nicht gelungen, Blut künstlich herzustellen. Es ist ein einzigartiges Wunder der Natur.”

Manche Autor*innen, die sich mit der Geschichte der Blutspurenmusteranalyse beschäftigen, führen erste Beschreibungen der Betrachtung von Blutspuren im Zusammenhang mit Tatgeschehen bis auf den angeblich ersten Mord der Menschheit zurück, auf das Buch Genesis, Kapitel vier. Draußen auf dem Feld erhebt sich Kain wider seinen Bruder Abel, schlägt ihn tot. Auf Gottes Frage, wo sein Bruder sei, antwortet Kain: „Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Aber Gott erkennt Kains Lüge: „Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ 

Als eine der ersten relevanten wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Verteilung von Blutspuren wird die Arbeit des Krakauer Arztes Eduard Piotrowski angeführt. 1895 veröffentlichte er an der Universität Wien seine Studie „Über Entstehung, Form, Richtung und Ausbreitung von Blutspuren nach Hiebwunden des Kopfes“. In einer weiß ausgekleideten Ecke schlug er Kaninchen die Schädel ein. Ikonografisch anmutende Zeichnungen hielten die Ergebnisse seiner martialischen Experimente fest, am unteren Rand vermerkte Piotrowski die Dimensionen der Tatwaffen: ein Hammer, 30 Zentimeter lang, 120 Gramm schwer; eine Axt, 40 Zentimeter lang, 620 Gramm schwer. Weitere Publikationen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert waren wenig systematisch und hauptsächlich beschreibend. Aus dieser Zeit stammen Bezeichnungen von Blutspuren als bärentatzen-, stechapfel- oder kronkorkenförmig.

Die Geschichte der modernen Blutspurenmusteranalyse beginnt in den 1950er Jahren. Silke Brodbeck deutet auf das Schwarz-Weiß-Foto eines jungen, gutaussehenden Mannes, das auf einem schmalen Wandvorsprung im Seminarraum des Blutspureninstituts steht, in dem Brodbeck Forensiker*innen, Polizist*innen und Ärtz*innen ausbildet. „Ich finde, man sieht, wie verängstigt er ist“, sagt sie. „Das Foto ist während des ersten Prozesses entstanden. Und das hier“, Brodbeck deutet auf ein weiteres Bild, „nachdem er freigesprochen und aus dem Gefängnis entlassen wurde, zwölf Jahre später.“ Das Bild eines gebrochenen Mannes, findet sie. Die Aufnahmen sind Abzüge von originalen Presseaufnahmen, Brodbeck hat sie auf Ebay gekauft.

Die Geschichte dieses Mannes, Samuel Sheppard, war ein großes Medienereignis. Sie ereignete sich 1954 in einem kleinen Vorort von Cleveland, Ohio. Lange bevor Brodbeck 2007 ihr Blutspureninstitut gründete und weit weg von Usingen, der beschaulichen, hessischen Kleinstadt, in der das Institut liegt. Trotzdem kennt Brodbeck jedes Detail dieser Geschichte, sie erzählt sie all ihren Kursteilnehmenden. „Es ist ein Mahnmal für uns Analysten.“ In der Nacht des 4. Juli 1954 findet Sam Sheppard seine Frau Marilyn tot im Schlafzimmer ihrer gemeinsamen Villa am Eriesee. Sie liegt auf dem Bett, das Kleid ist hochgerutscht, ihre Beine hängen von der Bettkante, um ihren eingeschlagenen Kopf herum hat sich das Blut in die Matratze gesogen. Sheppard gerät unter Tatverdacht, auf dem Kopfkissen seiner Frau glauben die Ermittler in einem Blutfleck die Umrisse einer chirurgischen Zange zu erkennen. Sheppard ist Arzt und Osteopath. Die Ermittler ziehen den Schluss, Sheppard habe seine Frau mit seinem chirurgischen Werkzeug erschlagen. In einem von großem Medieninteresse begleiteten Prozess wird Sheppard wegen Mord zweiten Grades zu lebenslanger Haft verurteilt. Kurz nach Sheppards Verurteilung tritt ein Zweifler auf: „In der Stille seines Labors ‚sah‘ Prof. Paul L. Kirk den Mord an Marilyn Reese Sheppard am 4. Juli. Seine ‚Augen‘ waren Reagenzgläser, Rechenschieber, Chemikalien, Diagramme, Schaubilder und Fotos,“ schreibt die Cleveland Press im April 1955.

Paul Leland Kirk, ein Chemiker, der an der Universität von Berkeley den Fachbereich für Kriminalistik gegründet hatte, konnte Blutspuren am Tatort einer unbekannten dritten Person zuordnen. Doch der Fall war gerichtlich abgeschlossen, ein Antrag auf Wiederaufnahme wurde abgelehnt. Erst 1966 kam es zu einem neuen Prozess, in dem Kirk aussagt. Auch von Kirk besitzt Brodbeck ein Foto, auf dem er über ein weißes Kissen gebeugt zu sehen ist. 1966 kommt Samuel Sheppard auch dank des entlastenden Gutachtens von Paul Kirk frei. Was in der Nacht des 4. Juli wirklich passiert ist, ist bis heute ungeklärt.

Brodbeck nennt Kirk den „Urgroßvater der Blutspurenmusteranalyse“. Kirks Gutachten im Sheppard-Fall ist das erste blutspurenmusteranalytische Gutachten der Moderne und inspiriert unter anderem den Forensiker Herbert L. MacDonnell zur weiteren Erforschung von Blutspuren und deren Entstehung. Dessen Arbeit „Flight Characteristics and Stain Patterns of Human Blood” wird 1971 vom amerikanischen Justizministerium veröffentlicht. Zwei Jahre später veranstaltet MacDonnell seinen ersten 40-stündigen Kurs für Blutspurenmusteranalyse. 1983 gründen Teilnehmer dieses ersten Kurses die International Association of Bloodstain Pattern Analysts (IABPA), die sich mit der Förderung und Standardisierung der Ausbildung und der praktischen Arbeit von Analysten befasst. Brodbeck selbst machte ihre Ausbildung bei New Scotland Yard in England. Auf die Blutspurenmusteranalyse wurde sie damals während ihrer forensischen Tätigkeit aufmerksam. „Als ich im Einsatz war, habe ich gesehen, dass da ganz viele Blutspuren sind, die nicht akquiriert werden.“ Ungenutzte Daten, die aber wichtige Hinweise auf den Hergang einer Tat geben können.

Ein Grundkurs macht noch keinen Experten

Auch Brodbeck bildet ihre Kursteilnehmenden nach den Standards der IABPA aus. Im Anfängerkurs lernen Analysten-Anwärter*innen in theoretischen und praktischen Einheiten unter anderem die biophysikalischen Eigenschaften von Blut, die Entstehung und korrekte Bezeichnung verschiedener Arten von Blutspuren sowie die Methoden zur Bestimmung des Ursprungsbereichs einer Blutungsquelle. Die Form von Blutspuren ist abhängig vom Winkel, in dem sie auf eine Oberfläche auftreffen. Je spitzer der Winkel, desto mehr nehmen die Spuren eine länglich-ovale Form an. Anhand der Länge und Breite lässt sich der Auftreffwinkel eines Blutspritzers berechnen. Damit können Sachverständige dann annähernd den Ursprungsort von Blutspritzern bestimmen. Doch Brodbeck macht deutlich, dass dieser 40-stündige Basiskurs allein nicht zur Gutachter*innentätigkeit ausreicht: „Der Kurs vermittelt nur die theoretischen Grundlagen.“

In den USA sah dies lange anders aus. Vor allem in der Anfangszeit schlossen dort viele Analyst*innen nur einen 40-stündigen Anfängerkurs nach dem Modell von Herbert MacDonnell ab, weiterführende Angebote gab es damals noch nicht. Erst ab Ende der 1980er wurden Kurse entwickelt, in denen fortgeschrittene Themen wie etwa die Analyse von Blutspuren auf Textilien angesprochen wurden. 2009 erscheint in den USA ein Bericht der National Academy of Sciences (NAS), in dem es heißt, die Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Blutspurenmusteranalyse seien enorm und die Einschätzungen von Analysten eher subjektiv als wissenschaftlich. „Der NAS-Report hat seinerzeit viel Staub aufgewirbelt“, sagt Brodbeck. Aber in dem Bericht seien genau die wissenschaftlich falschen Inhalte als korrekt gelobt worden. So sei etwa das Konzept, dass die Größe und Verteilung von Blutspuren Rückschlüsse auf die Wucht der Gewalteinwirkung zuließen „ein Konzept aus den Siebzigern, das vollkommen hypothetisch und letzten Endes falsch war“, sagt Brodbeck. „Ich glaube, dass sich alle forensischen Disziplinen den kritischen Fällen widmen müssen. Aber ich glaube auch, dass Entwicklung dann stattfindet, wenn man diese auf einer wissenschaftlichen Basis betrachtet.“ 2018 veröffentlichen die New York Times und ProPublica unter dem Titel „Blood Will Tell“ eine Serie von Artikeln, die die BPA als „dubiose forensische Wissenschaft“ und die Rolle der Methode in der fälschlichen Verurteilung des Texaners Joe Bryan für den Mord an seiner Frau problematisieren. Im selben Jahr gab die Texas Forensic Science Commission, die Beschwerden über den Missbrauch von forensischen Zeugenaussagen und Beweisen in Strafverfahren untersucht, bekannt, dass die zur Verurteilung Bryans verwendete Blutspurenmusteranalyse nicht genau oder wissenschaftlich nicht fundiert sei. Bedenken über die forensische Aussage in Bryans Fall veranlassten die Kommission, ein staatliches Lizenzprogramm für Analyst*innen zu entwickeln.

Silke Brodbeck ist Deutschlands einzige öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für Blutspurenmusteranalyse.

„Ich finde die Lösung, die für die texanischen Verhältnisse gefunden wurde, korrekt“, sagt Brodbeck. Das Problem in Amerika sei, dass die Zulassung zur Analysten-Tätigkeit kaum beschränkt ist. „In Amerika hatten sie ein Kontingent von Menschen, die ohne Vorgaben zum Schulabschluss, ohne Vorgaben zum Studienabschluss einfach Gutachter in allem geworden sind.“ In Deutschland und Europa sei die Ausgangssituation eine völlig andere: Hier führe der Weg zur Sachverständigentätigkeit über ein naturwissenschaftliches Master-Studium oder eine polizeiliche Ausbildung, die in der Regel einem Bachelorstudium entspricht. Danach sammeln Anwärter Erfahrung in der forensischen Alltagsarbeit. „Und dann erst findet die blutspurenmusteranalytische Ausbildung statt. Das gibt uns ein gewisses Grundlevel, sodass wir nicht über eine Minimalbildung diskutieren müssen.“

Im Seminarraum des Blutspureninstituts lässt corona-bedingt derzeit wenig darauf schließen, dass hier eigentlich regelmäßig Kurse stattfinden. Aus 32 Ländern kamen Teilnehmdende an Brodbecks Kursen bisher hierher, um sich in der Blutspurenmusteranalyse ausbilden zu lassen. Denn weltweit gibt es nur eine Handvoll Zentren, in denen Fortgeschrittenenkurse angeboten werden. Derzeit findet kein Unterricht statt und der Raum versprüht den Charme eines mäßig gut sortierten Baumarkts. Einen Tisch hat Brodbeck zur Werkbank umfunktioniert, in der Corona-Zeit hat sie sich das Löten beigebracht, der 3D-Drucker hat Zicken gemacht. Damit fertig sie manchmal Modelle von Tatorten an. Jedoch finden sich auch zahlreiche Artefakte, die darauf hindeuten, was hier normalerweise passiert. In einem Regal sind in Plastikfolie gehüllte Kunststoff-Köpfe aufgereiht, in den Fensterscheiben hängen DINA4-Blätter, auf denen Bündel gerader Linien durch blutige Spritzfelder gezogen sind. Im zur Straße gewandten Bereich des Raumes befinden sich eine Tafel mit trigonometrischen Zeichnungen und eine Schaufensterpuppen-Familie. Der Vater trägt ein blutverkrustetes Hemd. Das leuchtende Rot ist zu einem Graubraun verblasst. „Durch verschiedene Zersetzungsprozesse verändert Blut mit der Zeit seine Farbe“, erklärt Brodbeck.

Zu viel Blut: Die Fallstricke der Tatortarbeit

Zu einer guten Ausbildung gehört auch, mit Störfaktoren umgehen zu können, die die Arbeit am Tatort erschweren. Durch den Abtransport einer angezogenen Leiche können wertvolle Spuren verloren gehen, weil die Kleidung während des Transports mit Blut durchtränkt wird. Ein zu viel an Blut kann also relevante Spuren überdecken. Daher ist es wesentlich, dass die Leiche vor dem Transport entkleidet wird. „Es kommt auch vor, dass jemand den Tatort nicht als Tatort erkennt und dann anfängt, ihn zu reinigen.“ 

Wenn Brodbeck an einen Tatort kommt, möchte sie nur wenig über den Fall wissen. Sie kennt die Bilder vom Tatort, die Verletzungen der Opfer, aber sie liest keine Aussagen, keine anderen Rekonstruktionen. „Das ist ganz wesentlich, damit Sie keine Beeinflussung haben.“ Manchmal vergehen nach einer Tat nur wenige Stunden, manchmal aber auch Jahre, bis Brodbeck an den Ort des Geschehens gerufen wird. Ein wesentlicher Teil der Arbeit findet für Brodbeck am Schreibtisch statt. „Für Außenstehende ist das natürlich unspannend, wenn ich zwei Wochen lang vor meinem Computer sitze.“ Mit bestimmten Computerprogrammen lassen sich Tatorte virtualisieren. Mitarbeiter*innen der Landeskriminalämter vermessen die Tatorte und geben die digitalen Modelle an Brodbeck weiter. „Sie können dann die Tatorte aus allen Ecken und Winkeln betrachten.“ Jedoch: „Der Computer ersetzt das Denken nicht“, sagt Brodbeck. Es sei von enormer Wichtigkeit, mehrere Entstehungsmöglichkeiten abzuwägen und dann zu überlegen, welche Entstehungsmöglichkeit die wahrscheinlichste ist. „Die Quintessenz der Forensik ist die Wahrscheinlichkeit“, sagt Brodbeck. Wann immer möglich, sieht sie sich den Tatort an, auch die Bereiche, die nicht beblutet sind. Das sei wichtig, um sich einen Eindruck von den räumlichen Strukturen zu machen.

Blutspuren sprechen keine eindeutige Sprache, sie lassen mehrere Schlüsse zu und können auf falsche Fährten führen. So muss das buchstäbliche weiße Hemd nicht immer ein Beweis für das sprichwörtliche sein – ganz im Gegenteil: Schwingt ein Täter beim Angriff eine blutige Waffe über seinen Kopf, sorgt die Zentrifugalkraft dafür, dass sich das Blut nach außen hin ausbreitet. Umstehende können daher viel, der Täter aber kaum Blut abbekommen. Außerdem kann Insektenkot fälschlicherweise für sehr kleine Blutspritzer gehalten werden.

Seit der Nachkriegszeit war die Blutspurenmusteranalyse in der deutschen Rechtsmedizin weitgehend in Vergessenheit geraten. Erst ab Mitte der 1990er Jahre nahm die Bedeutung der Methode für die rechtsmedizinische Arbeit zu. Rechtsmediziner*innen reisten in die USA und belegten dort die traditionellen fünftägigen Anfänger- und Fortgeschrittenenkurse nach Vorgaben der IABPA. 2005 wurde innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin die Arbeitsgemeinschaft für Blutspurenmusteranalyse gegründet, die Kurse für Rechtsmediziner*innen anbietet. Zeitgleich wird das Thema auch bei der deutschen Polizei intensiver diskutiert. Gerhard Schmelz war viele Jahre Kriminalbeamter, bevor er sich 1993 dazu entschied, Dozent an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung zu werden. “In meiner polizeilichen Praxis haben die Blutspuren bei weitem nicht die Rolle gespielt, die sie heute spielen”, sagt Schmelz. Zwar sei ihnen bei der Rekonstruktion immer schon eine wichtige Bedeutung zugekommen, jedoch habe sich die Blutspurenmusteranalyse erst in den 2000ern konkreter entwickelt. 2009 erhält Schmelz den Auftrag vom hessischen LKA, die Blutspurenmusteranalyse polizeipraktisch auszuwerten. 2009 stellen Leiter der DNA-Analytik der Länder und des BKA fest, dass Erfolge in der DNA-Analytik die kriminalistische Betrachtung von Blutspuren immer weiter in den Hintergrund gedrängt hatten. Aufgrund des Generationenwechsels sei zu befürchten, dass bald keine BPA-Expert*innen in den Kriminalämtern mehr vorhanden sein würden. Mitarbeiter*innen verschiedener Landeskriminalämter erarbeiteten daraufhin ein Ausbildungskonzept, das als langfristiges Ziel eine zentrale Ausbildung von Sachverständigen beim BKA vorsieht. Das BKA wies jedoch darauf hin, „dass eine Ausbildung auf nicht absehbare Zeit weder inhaltlich noch personell durch KI 32 abgedeckt werden kann.“ Auf Anfrage teilte das BKA mit, dass beim Kriminaltechnischen Institut des BKA die Anfertigung von Blutspurenmusteranalysen eingestellt wurde. 

Dennoch: Vor Gericht kann ein blutspurenmusteranalytisches Gutachten erheblichen Einfluss auf die Urteilsfindung haben. In dem 2017 erschienenen Bericht wurden die Akten von 19 Fällen aus Hessen ausgewertet, bei denen zwischen 2007 und 2010 durch Rechtsmediziner*innen eine Blutspurenmusteranalyse durchgeführt wurde. In drei Fällen führte diese zu einer Verurteilung wegen Mordes, da sich anhand des Gutachtens das Vorliegen von Mordmerkmalen begründen ließ. Silke Brodbeck erlaubt sich beim Verfassen eines Gutachtens kein Urteil. Mit ihrer Expertise trage sie nur ein naturwissenschaftliches Puzzleteil zum Gesamtkomplex der Ermittlungen bei. „Wie jemand verurteilt wird, ob jemand verurteilt wird, das ist Aufgabe der Juristen.“

Es sind Fälle wie die von Sam Sheppard, die die Verantwortung forensischer Sachverständiger besonders deutlich machen. „Ich denke, dass es der wichtigste Satz eines Sachverständigen ist: Wenn er etwas nicht weiß, dann auch zu sagen, dass er es nicht weiß“, sagt Brodbeck. Paul Kirks Gutachten trug wesentlich dazu bei, dass Sheppard schließlich freigesprochen wurde. Sam Sheppard fand nach seiner Freilassung nicht mehr in seine Arzttätigkeit zurück. Unter dem Namen „Killer Sam“ verdiente er fortan als Wrestler sein Geld. Im Alter von 46 Jahren stirbt er. Sheppards Bruder Stephen schreibt 1964 ein Buch, es trägt den Titel „My brother’s keeper“ – „Meines Bruders Hüter“.

Silke Brodbeck hat einen außergewöhnlichen, in Deutschland sogar einzigartigen Beruf. Im Podcast erzählt sie von ihrem Weg in dieses forensische Nischengebiet und davon, dass sich dieser Weg schon früh abgezeichnet hat.

(K)ein normaler Job

„Den Menschen, den riechst du raus, das weißt du“, erklärt Andreas Vogt den Leichengeruch. Wenn man einmal eine menschliche Leiche gerochen hat, erkennt man den Geruch immer wieder. Süßlich soll er sein und sehr intensiv. Vogt kennt den Geruch gut – er ist Tatortreiniger.

Automatisch stellt das Hirn eine Verbindung zu Mord und Verbrechen her, zu einem richtigen Tatort eben. Das ist aber in den wenigsten Fällen so. Tatortreiniger*innen sind auch nach Suizid, natürlichem Tod, Tod durch Vorerkrankungen oder nach Unfällen mit viel Blutverlust im Einsatz. Die Bezeichnung Tatortreiniger*in ist deshalb laut Vogt „ein bisschen unglücklich“ gewählt. Fachlich korrekt wäre Leichenfundortaufbereiter*in oder Unfallortaufbereiter*in. Bezeichnungen, die den Beruf nicht weniger blutig und herausfordernd machen.

Die NDR-Serie „Der Tatortreiniger“ machte den Beruf in der Öffentlichkeit bekannt. Über sieben Staffeln hinweg ist Schauspieler Bjarne Mädel als Tatortreiniger „Schotty“ im Einsatz. In jeder Folge wird er mit einem neuen Tatort konfrontiert und macht dabei skurrile, oft lustige Bekanntschaften, während er nebenbei das Blut der Toten wegputzt – ein voller Erfolg.

Kollege Schotty

Mitverantwortlich dafür, dass die Serie möglichst realistisch wirkt, ist Christian Heistermann. Der 51-Jährige Berliner mit langjähriger Tatortreinigungserfahrung hat die  Drehbuchautorin Ingrid Lausund und die Requisite beraten. Er sieht Schotty als einen Kollegen an. Einen reinigenden Philosophen nennt er ihn, einen Betrachter, der seine Meinung sagt. Damit kann sich Heistermann identifizieren: „Ich bin ja auch so ein Quatscher“, berlinert er.

„Schotty geht an den Imbiss, isst seine Currywurst und trinkt sein Bier. Das hat was fürchterlich Normales. Das brauchen wir auch, um uns zu zeigen, dass das, was wir tun okay ist.“

Christian Heistermann

Heistermann findet, das Berufsbild wird durch die Serie „in die richtige Richtung“ gerückt. Auch wenn einiges anders ist in der Realität – „ist ja schließlich Fernsehen“. Und so kann er auch verstehen, dass am Set die Nebelmaschine zu Hilfe genommen wird, wenn Schotty einen Raum desinfiziert. „Dass dann einer kommt und da ein bisschen rumwischt“, ist aber nicht die Realität, meint Heistermann. Die Serie würde banalisieren – zur Tatortreinigung gehöre noch eine ganze Menge mehr. Die fachgerechte Entsorgung der menschlichen Überreste und Abfälle zum Beispiel oder die Einhaltung einer genauen Reihenfolge im Arbeitsprozess.

Auch wenn Andreas Vogt sich teilweise mit der Serie identifizieren kann und es „immer wieder Aspekte gibt, wo man sich selber sieht“, findet er die Serie verharmlosend – die Komik stehe klar im Vordergrund. Die Serie würde nur einen kleinen Ausschnitt des Berufs zeigen:

„Das, was im Fernsehen gezeigt wird, sind für uns die einfachen Arbeiten. Die schlimmen Sachen könnte man im Fernsehen nicht zeigen. Wenn sich jemand mit dem Schrotgewehr den Kopf wegschießt, dann kann man das nicht darstellen.“

Der 46-Jährige hat bereits vor 27 Jahren angefangen, als Schädlingsbekämpfer im Unternehmen „A.S.S. Schädlingsbekämpfung“ seines Vaters in München zu arbeiten. Zwei Jahre später kamen dann erste Erfahrungen in der Tatortreinigung dazu – zwei Tätigkeiten, die zusammengehören. Denn wo ein Mensch verwest und für längere Zeit unentdeckt liegt, ist auch Ungeziefer nicht weit.

Blutige Realität

Bevor die Tatortreiniger*innen gerufen werden, vergehen oft Wochen oder sogar Monate. Die Leiche wird abtransportiert – Schädlinge bleiben aber am Leichenfundort. So erzählt Vogt von einem Mann, der in Folge einer Leberzirrhose Blut erbrach und dieses in der ganzen Wohnung verteilte. Er stürzte und verstarb letztendlich eingeklemmt zwischen zwei Türen auf dem Weg zum Badezimmer. Dort lag der leblose Körper dann für sechs Wochen, bevor die Bestatter*innen ihn abtransportierten und dabei auseinanderrissen. Denn in der Zwischenzeit hatte der natürliche Verwesungsprozess eingesetzt: die Muskelspannung gibt nach und Körperflüssigkeiten laufen aus allen Öffnungen des Körpers. Zurück am Leichenfundort blieben ein übler Geruch, Blut, Urin, Fäkalien und zersetzte Innereien. Außerdem Aas-, Speckkäfer und Fliegenmaden, die sich dort in der Lache mit menschlichen Überresten tummelten. Die Nachbarn des Mannes wunderten sich über den strengen Geruch, klebten dem Toten Zettel mit Beschwerden an die Tür.

„Auf die Idee, dass der da seit Tagen und Wochen tot drin liegt, ist keiner gekommen.“

Andreas Vogt

In so einem Extremfall muss die Wohnung komplett desinfiziert, geräumt und dann entkernt werden. Die Schädlingsbekämpfung ist der erste Arbeitsschritt am Leichenfundort, den die Tatortreiniger*innen nur mit Schutzanzug betreten. Im Vordergrund einer jeden Tatortreinigung steht der Aspekt, sich und die anderen im Team zu schützen.

Teil der Ausrüstung beim ersten Betreten sind neben dem Schutzanzug mit Haube, Gebläse und Luftfiltern auch Überschuhe und stichfeste Handschuhe, die beispielsweise vor Infektionen durch Spritzen schützen. Danach folgen die Desinfektion und Reinigung des Tatorts mit verschiedenen Mitteln und Geräten, auch zur Geruchsneutralisierung. Oft müssen die Wohnungen dabei zusätzlich entrümpelt werden.

Was in der Serie nicht zur Sprache kommt, ist die Tatsache, dass der Beruf Tatortreiniger*in in Deutschland namentlich nicht geschützt ist – theoretisch könnte also jede*r zu Schotty werden und die Dienstleistung anbieten. Professionelle Tatortreiniger*innen kritisieren das.

Eine einheitliche Ausbildung gibt es in Deutschland nicht. Deshalb führt der Weg über Seminare und Weiterbildungen schließlich zum Ziel der Tatortreinigung.

Auf diesen Weg gelangen Tatortreiniger*innen auf unterschiedliche Weise. Den Berufswunsch Leichenfundortaufbereiter*in haben wohl die wenigsten. Die Vorstellung, Leichenflüssigkeiten, Maden und menschliche Überreste zu beseitigen, ist einfach nicht überzeugend. Kaum jemand kann sich vorstellen, in dem Bereich zu arbeiten, meint Andreas Vogt. Lachend fügt er hinzu: „Die wissen gar nicht, was sie hier Spannendes verpassen.“

Traumberufe

Er selbst wollte als Kind eigentlich Koch werden, machte dann aber eine Ausbildung in der Industrieelektronik mit Fachrichtung Robotertechnik. Hier wurde er nicht glücklich – wollte „was anpacken“ und landete schließlich, wie der Vater, bei der Schädlingsbekämpfung. Später kam noch die Tatortreinigung dazu. „Da bin ich hängen geblieben und nie wieder weggekommen.“ Vor allem die Komplexität und Vielseitigkeit des Berufs begeistern den Münchner:

“Es vergeht keine Woche, wo ich nicht irgendwo mindestens zwei, drei neue Sachen dazulerne, weil es einfach so umfassend ist. Und das macht es auch so spannend – es ist nie ein Trott da: jedes Objekt ist neu, man muss sich jedes Mal neu drauf einstellen.“

Die Begeisterung, immer neue Herausforderungen zu bewältigen, schätzt auch Özlem Kaya: „Jeder Tatort ist anders“, erklärt die 44-Jährige, die seit fünf Jahren als Tatortreinigerin in Frankfurt tätig ist. Sie ist eine der wenigen Frauen in der Branche und wurde auf ihrem Umweg zur Tatortreinigung von einem alten Bekannten beeinflusst.

Eigentlich ist Kaya Unternehmerin, hat eine kaufmännische Ausbildung und gründete 2009 mit ihrem Geschäftspartner die Reinigungsfirma KABO in Frankfurt. Sie kam, so verrückt es klingt, dank Schotty zu ihrem heutigen Traumjob. Vor einigen Jahren entdeckte sie die Serie und war sofort von Schotty und seiner Arbeit begeistert, sah darin eine weitere Dienstleistung für ihr Unternehmen. Fasziniert von der Tatortreinigung bildete sie sich weiter und wurde schließlich im Jahr 2015 Tatortreinigerin. Ihr Vater war zunächst nicht begeistert: „Kannst du keinen anständigen Beruf lernen?“, erinnert sie sich an seine erste Reaktion – mittlerweile ist er stolz auf seine Tochter und ihren außergewöhnlichen Beruf.

Es steht außer Frage, dass nicht jede*r für diese Tätigkeit geeignet ist. An ihrem ersten realen Tatort hatte Kaya kurz überlegt, das Handtuch zu werfen: „Oh Gott, was mache ich hier eigentlich?“ Am liebsten wollte sie es dem Hausmeister, der ihr die Tür aufschloss, gleichtun und vor dem Verwesungsgeruch der drei Monate alten Leiche fliehen. Sie tat es aber nicht, blieb und kann heute sagen: „Ich liebe meinen Job“ – Tatortreinigerin in einer sonst männerdominierten Branche.

Kaya hat langes, schwarzes Haar, ist gepflegt, selbstbewusst und trägt aufwendiges Make-up. Immer wieder stößt sie auf Vorurteile: „Eine Frau, die so gestylt ist, würde doch nie im Leben was mit Blut anfassen.“

„Männer denken oft, das krieg ich nicht hin, nehmen mich teilweise nicht ernst. Aber ich krieg das hin. Ich kann das und hab dafür hart gearbeitet.“

Özlem Kaya

Und sie kann die grausamen Anblicke am Tatort verarbeiten. Schafft es, diese von ihrem Privatleben fernzuhalten. Ein Grund dafür ist Kommunikation: „Man muss lernen, darüber zu reden, ohne dass man es zu sehr emotional an sich ranlässt. Sonst würde ich keine weitere Tatortreinigung mehr schaffen.“ Am Tatort schaltet Kaya ab: „Da mache ich nur meine Arbeit. Wenn ich abgeschlossen hab, gehe ich raus und lass das hinter mir.“Sie erzählt von Kolleg*innen, die diesen Spagat nicht schaffen, die der Beruf krank gemacht hat, weil sie die Schicksale zu nah an sich heranließen und die blutigen Bilder immer wieder vor Augen hatten.

Der Beruf geht an die Substanz. In der Serie kennt man Schotty als Einzelkämpfer mit einer mehr oder weniger stabilen Beziehung zu seiner Freundin Merle. Am Tatort ist er immer allein im Einsatz. Einzelkämpfer*in als Tatortreiniger*in? Im realen Leben, weder am Leichenfundort, noch im Privaten möglich. Allein schon wegen der körperlichen Anstrengung – desinfizieren, reinigen, schrubben, menschliche Überreste beseitigen, Wohnungen entrümpeln und das alles schwitzend, sicher verpackt unter Schutzanzug und Atemmaske, ist Tatortreinigung Teamarbeit. Meistens zu viert oder fünft.

Für Kaya ist es wichtig, offen miteinander zu reden, sich gegenseitig zu unterstützen: „Ich habe gelernt, darüber zu sprechen. Dass das einfach zum Leben dazugehört.“

Wenn sie spürt, dass die Arbeit eine*n Kolleg*in mitgenommen hat, versucht sie, sich und den anderen klar zu machen: „Das ist ihr Schicksal. Wir haben gereinigt, jetzt ist es vorbei und morgen wird ein neuer Tag sein.“

Offen über die Szenen am Leichenfundort zu reden, fällt Christian Heistermann schwer. In der Öffentlichkeit lehnt er es ab, detailliert von seinen Einsätzen zu berichten. Er möchte „Verhütung“ betreiben, sagt er. Das Hirn anderer nicht „verschmutzen“. Der Beruf und das Gesehene könnten einen unheimlich runterziehen:

„Es gibt Sachen, die will man einfach nicht sehen und die will man auch der Gesellschaft ersparen. Es tut einem nicht gut. Das sollte man mal verstehen.“

Andreas Vogt wurde schon früh mit blutigen Bildern konfrontiert. Er sah als Kind bei Schlachtungen auf dem Bauernhof des Großonkels zu, begleitete den Opa bei der Jagd und schlich mit einem Schulfreund, dessen Vater Bestatter war, ins Krematorium des Nordfriedhofes. Wie er es schafft, die Schicksale an den Leichenfundorten nicht an sich heranzulassen, kann der 46-Jährige nicht genau sagen. Vielleicht sind diese Erinnerungen ein Grund dafür, haben ihn schon früh an Extreme gewöhnt. Er geht seine Arbeit pragmatisch an, denkt an die fachlichen und spannenden Aspekte seines Jobs: „In dem Moment, wo ich das mit nach Hause mitnehme und Albträume hätte oder sonst was, höre ich mit dem Beruf auf.“

Das heißt nicht, dass er die Bilder völlig ausblendet, im Gegenteil. Er sitzt an seinem Glasschreibtisch und erzählt detailliert von blutgetränkten Autositzen, aufgeschlitzten Pulsadern, einem Selbstmord mit Großkaliberwaffe und einem Mann, der drei Jahre unentdeckt tot und mumifiziert unter seiner Wärmedecke auf dem Sofa lag. Er kann offen über diese Leichenfundorte sprechen und schafft es trotzdem, Abstand zu wahren.

Viel schwieriger ist für Kaya und Vogt die Begegnung mit Angehörigen. Ganz anders als für Schotty, den regelmäßig die verschiedensten Personen bei der Arbeit überraschen. Dem Comedy-Charakter der Serie entsprechend philosophiert Schotty. Führt mal lustige, mal nachdenkliche Gespräche.

„ »Der Tatortreiniger« lockert den Beruf auf und man lacht darüber. Aber die Realität ist wirklich sehr weit davon entfernt.“

Özlem Kaya

Die realen Tatortreiniger*innen müssen sehr sensibel sein. Oft sind die Hinterbliebenen beim Erstkontakt in einer Notsituation und auf Hilfe angewiesen. Keine Komik, sondern Einfühlsamkeit, Professionalität und Trauerbewältigung. Hier wird der Tatortreiniger auch schon mal zum Psychologen, erklärt Vogt.

Trotzdem: „Es ist nicht verboten, lustig zu sein“, stellt Christian Heistermann klar. Mit Kolleg*innen gehe man anders um als mit Kund*innen. Manchmal passieren auch skurrile Dinge am Tatort.

Humor kann helfen, zu verarbeiten. Allgemein sind Positivität und Selbstsicherheit für Andreas Vogt wichtige Eigenschaften für den Job: „Man muss eine sehr positive Einstellung zum Leben haben und man darf sich im Endeffekt auch nicht vorm Tod fürchten. Sonst hätte man da ein Problem.“

Blutlachen, Leichengeruch, Maden und ein Hinrichtungsmord – Zumindest für die Aussage „Meine Arbeit fängt da an, wo sich andere vor Entsetzen übergeben“, hat Schotty den Realitätscheck ohne Zweifel bestanden.


Dünnes Blut

Ungeklärte Einbrüche, Affären, mysteriöse Geldquellen, eine Vergiftung. Eine Ehe, wie sie nicht ungewöhnlicher sein könnte, mit einem versuchten Mord am Ende. Können sich zwei Menschen wirklich lieben und hassen? So sehr, dass man den anderen ausbluten lassen möchte? Die Geschichte einer Krankenschwester, die versuchte ihren Ehemann zu töten. 

Es ist Sonntagmorgen, der neunte Juni 2015, als ein 66-jähriger Mann mit einer stark blutenden Kopfwunde in das Klinikum Landshut eingeliefert wird. Zuvor stürzt er, ruft selbst den Notarzt und klagt über Schwindel und Schmerzen. Er blutet im Krankenwagen, er blutet im Krankenhaus. Die Ärzt*innen reagieren sofort und versuchen ihn zu stabilisieren. Sie schicken sogar eine Blutprobe an die toxikologische Abteilung der Charité. Die Auswertungen der Berliner zeigen nicht nur dramatische Daten, sie offenbaren auch einen kuriosen Wert: die vierfache Menge über dem therapeutisch bekannten Höchstwert von Phenprocoumon, einem Blutverdünner, besser bekannt unter dem handelsüblichen Namen Marcumar. Kurz: Josef A. schwebt in absoluter Lebensgefahr. 

Er hätte verbluten können. Hätte er verbluten sollen?

Die nächsten vier Tage geben die Ärzt*innen Vitamin K, um die Blutgerinnung wieder zu normalisieren und nehmen regelmäßig Blutproben. Eine natürliche Ursache, Rattengift oder ein Versehen werden schnell ausgeschlossen. Josef A. muss das Medikament vorsätzlich und ohne sein Wissen verabreicht worden sein. Als der Verdacht der Vergiftung aufkommt, entgegnet er, dass das nur seine Frau Maria gewesen sein könne, dann verweist er auf die ärztliche Schweigepflicht. Seine Ärztin dürfe niemandem davon erzählen. Er will damit nicht sie schützen, sondern sich selbst: prekäre Details seines Privatlebens sollen nicht an die Öffentlichkeit kommen. Die Medizinerin hadert: Ist hier ein  Verbrechen zu vermuten? Muss sie zum Wohl ihres Patienten reden?

Am Donnerstag, vier Tage nach der Einlieferung des Josef A. in die Klinik, ruft sie die Polizei und erzählt, was passiert ist. Am Freitag um 20 Uhr passen zwei Landshuter Polizisten die Ehefrau Maria A. im Krankenhaus auf dem Weg zu ihrem Mann ab und nehmen sie mit Verdacht auf versuchten Mord fest. Sie ist eine attraktive Frau, trägt ein leichtes Sommerkleid in rot, das Make-up und die Frisur sitzen perfekt. Als Außenstehender könnte man meinen, sie wäre 15 Jahre jünger als ihr Mann mit grauem Haarkranz und fahlem Gesicht, tatsächlich ist es nur ein Jahr. Noch am gleichen Abend möchte Hauptkommissar Stefan Maily sie verhören. Ihr wird ein Strafverteidiger im Notdienst gestellt. Sie wirkt freundlich und eloquent, gleichzeitig berechnend und unnahbar. Keine Strategie, kein Versuch des Beamten bringen die Frau zum Reden. Sie schweigt zu den Vorwürfen, kommt in U-Haft und bis heute nicht mehr aus dem Gefängnis. 

Kommissar Maily erzählt

Eine schillernde Persönlichkeit

Ende der 1990er kommt die gebürtige Russin nach Deutschland. Aus erster Ehe hat sie einen Sohn, der zweite Mann, ein Offizier der roten Armee, stirbt an einer Essigsäure-Vergiftung. Nach dem Aussiedlerheim in Waldkirchen im Bayerischen Wald findet sie ihr erstes Zuhause bei Alois, ihrem damaligen Liebhaber.

„Feldscher“ ist eine altertümliche Bezeichnung für medizinische Hilfskraft, eine Art Symbiose zwischen Krankenschwester, Hebamme und Arzt. Noch heute gibt es in den russischen Streitkräften „Feldscher“ als unterste Stufe des Militärarztes oder im zivilen Bereich.

Mit seiner Unterstützung macht sie die Weiterbildung zur anerkannten Krankenschwester, denn sie ist gelernter „Feldscher“. Obwohl sie Alois als Sprungbrett nutzt, gehen sie im Guten auseinander und haben Jahre später noch Kontakt. Zweimal im Jahr besucht sie den alten Freund. Dass sie irgendwann verheiratet ist, weiß er nicht. Bei ihm fehlen später 50 Tabletten Marcumar. „Vielleicht hat er sie verlegt, verloren, vielleicht wurden sie aber auch von einer guten Freundin gebraucht“, spekuliert der Kommissar Maily. „Wir wissen es nicht und können nichts beweisen.“

Maria bekommt eine Anstellung an der Münchner Klinik „Diakoniewerk“ und kauft 2002 in der Stadt eine Eigentumswohnung für 230.000 Euro. Innerhalb von fünf Jahren ist sie abbezahlt. Sie habe noch einen Nebenjob in der Pflege gehabt und auch so recht sparsam gelebt, sagt sie hinterher dem Gericht. Die Wohnzimmergarnitur sei aus weißem Plastik, so wie man sie im Baumarkt findet, erzählt eine Nachbarin. Dennoch bleiben Zweifel, wie sie mit ihrem Gehalt als Krankenschwester die Grundschuld der Wohnung in der kurzen Zeit getilgt haben kann. Ausgehend von diesen Ungereimtheiten suchen die Kommissare nach weiteren Spuren für Betrug und illegale  Bereicherung, können aber keine Beweise finden.

In der Klinik betreut Maria Patienten nach Operationen, viele sind betagte Menschen, um die sie sich rührend kümmert. Manchen trifft sie nach ihrer Genesung auf einen Kaffee. Einer erinnert sich, dass sie die freundlichste Person überhaupt gewesen sei und für ihr Alter auch sehr gut aussähe. Hier stolpern die Ermittler wieder: Sie finden bei der Wohnungsdurchsuchung 1000 Dollar, doch keinen Hinweis, dass die Beschuldigte je in den USA war, noch dass sie in die USA reisen wollte. Der Verdacht: das Geld entdeckte sie in einer fremden Wohnung und nahm es mit. „Das hat schon a Gschmäckle“, sagt Maily und zuckt mit den Schultern. Die Spuren führen ins nichts, auch hier bleiben nur Spekulationen. Im Rahmen der Ermittlungen 2015 gibt es keine Beweise.

Zurück in 2010: Maria und Josef

Zurück in 2010: Maria lernt Ende Dezember den ehemaligen Scheidungsanwalt Josef A. über Friendscout24, eine Onlinedating-Plattform, kennen. 2011 sind die beiden ein Paar, 2013 heiraten sie. Er hat keine Kinder, keine engere Familie. Für ihn ist sie die Vorzeigefrau, sieht gut aus, ist intelligent. Sie fahren bis zu achtmal im Jahr in den Urlaub, er schenkt ihr Schmuck, sie kauft mit seinem Geld Teppiche, Kleidung, fliegt mit der Enkelin in den Urlaub, unterstützt ihren Sohn finanziell. Die Plastikgarnitur weicht neuen Möbeln und ihr Lebensstil ändert sich radikal. Zwei Monate nach der Trauung schaltet der Ehemann im Münchner Merkur und der tz folgende Anzeige: 

Herr sportlich 63, 173: 
Wer möchte wie ich hin und wieder dem Ehealltag 
entfliehen und Dinge erleben, die man seit einiger Zeit vermißt?

Er entflieht dem Ehealltag bei vielen Gelegenheiten und auf vielseitige Art und Weise. Im Gästezimmer warten versteckte Kameras auf seine Liebschaften, auch mit dem  Kugelschreiber in der Hemdtasche filmt er seine Umgebung. Doch Josef ist nicht der einzige, der heimlich Kameras montiert. Seine Frau traut ihm nicht, weiß längst von den vielzähligen Affären und klebt eine Kamera in sein Arbeitszimmer. Sie spioniert ihn aus, antwortet sogar selbst anonym auf eine spätere Annonce für Liebesabenteuer in der Süddeutschen Zeitung: sie vereinbaren ein Treffen an der Münchner Freiheit, er erkennt sie jedoch und sie läuft davon. Gleichzeitig wird während dieser turbulenten Jahre immer wieder in das Haus des Geschädigten eingebrochen. Die Täter*innen agieren mit absolutem Insiderwissen, unter anderem wird eine Münzsammlung gestohlen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit steckt Maria dahinter, Josef verdächtigt sie auch. Beweise gibt es keine.

2014 kommt es zur ersten Trennung, er schmeißt sie aus seinem Haus in Pfettrach, ca. zehn Kilometer von Landshut. Im Herbst nähern sie sich wieder an, Maria spielt Josef vor, es sei alles beim Alten, lässt Zärtlichkeiten zu und kocht. Morgens, mittags, abends hat er marmeladenglasgroße Behälter mit seiner täglichen Medikation, die er immer schon für mehrere Wochen im Voraus herrichtet. Darunter ASS, ein weiteres Mittel, dass die Blutgerinnung hemmt und Allopurinol, ein Mittel für zu hohe Harnsäure. Zuvor hatte das Opfer schon einen Herzinfakt, zwei Stents und  war nicht unerheblich dem Alkohol zugetan. Sie feiern zusammen Weihnachten und planen eine Reise nach Marokko im Februar des folgenden Jahres. Ihrer Nachbarin gesteht sie: „Ich kann seine Nähe nicht mehr ertragen, ich ekle mich vor ihm.“ Dass eine Scheidung im Raum stand, bestreitet die Beschuldigte in der Gerichtsverhandlung.

Die Indizien häufen sich

Während der späteren Ermittlungen stoßen die Kommissare auf zwei ungewöhnliche Transaktionen aus dieser Zeit: Einmal 5.000€ und später 11.500€ überwies Maria an eine Bekannte aus dem Krankenhaus. Die Polizisten spüren sie auf und bekommen von ihr eine „Wundertüte“: Tagebuchausschnitte des Opfers, in denen er akribisch Treffen mit Geliebten und seinen Gesundheitszustand dokumentiert. Mit dem in der Wohnung festgestellten Mörser und einem, auf Maria ausgestellten Privatrezept für 98 Marcumar-Tabletten häufen sich die Indizien gegen die Frau. 

Marcumar (Phenprocoumon) ist ein Vitamin-K Antagonist mit blutgerinnungshemmender Wirkung. Es wird zur Behandlung und Prophylaxe von Thrombose und Embolie eingesetzt sowie zu Langzeitbehandlung von Herzinfarkten, wenn z.B. ein erhöhtes Risiko für einen Verschluss der Herzkranzgefäße besteht.

Die Beamten rekonstruieren während der Ermittlungen drei Vergiftungszeiträume: Der erste gescheiterte Versuch ist während der Marokko Reise im Februar 2015. Josef blutet zum ersten Mal aus Mund und Nase, eindeutige Anzeichen für eine zu schlechte Blutgerinnung. Wider Erwarten überlebt er. Nach der Rückkehr verschlimmert sich sein Zustand, er leidet an steifen Gelenken und kann kaum gehen. Zweimal wird er ins Klinikum eingeliefert, Verdacht schöpfen weder das Opfer selbst noch die Ärzt*innen. Auch den zweiten Versuch, vermutlich im Mai 2015, überlebt der zähe 66-Jährige, Maria fliegt zu dem Zeitpunkt mit ihrer Enkelin in den Urlaub. Beim dritten Versuch, im Juni, verkauft sie ihrem Mann glaubhaft, dass sie kommendes Wochenende nach Moskau fliegen müsse um ihre betagte Tante zurück in die russische Heimat zu bringen. Er könne sie nicht anrufen, wenn etwas wäre. Sie erhöht die Dosis und wartet. Am Sonntagmorgen, dem neunten Juni 2015, kommt sie zum Haus in Pfettrach. Sie will ihn finden, den Hausarzt rufen und sich den natürlichen Tod bescheinigen lassen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist groß: Bei einem älteren Herrn mit seinem allgemeinen Gesundheitszustand hätte jeder Arzt auf einen Herzinfarkt gesetzt. Doch das Opfer ist bereits im Klinikum und überlebt, wieder.

Die Theorie der Kommissare lautet: Sie hat die Medikamente pulverisiert, unter die Speisen gemischt, Tabletten ausgetauscht und mit kontaminierten Wasser gekocht.

Neben Marcumar konnten noch andere Substanzen festgestellt werden. Das selbstgekochte Nervengift Atropin: Nach einem Abschiedsschnaps 2014 halluzinierte er und sah Blitze. Das Schlafmittel Midazolam und das blutdrucksenkende Mittel Clonidin: Er fühlte sich regelmäßig schlapp, schlief über dem Schreibtisch ein und stürzte. Einem Kollegen versichert er, das passiere ihm öfter und es sei normal. Normal war es nicht, sondern Gift. 

Foto: Polizei Landshut

Atropin

Die schwarze Tollkirsche Atropa belladonna L. aus der Familie der Nachtschattengewächse ist eine Gift- und Heilpflanze, die in Europa heimisch ist. Die Tollkirsche und ihre Inhaltsstoffe spielen in der Pharmaziegeschichte eine große Rolle, z.B. zur Krampflösung oder in der Augenheilkunde.

Die Ermittler konnten Atrophien in der Kleinsten der Flaschen (siehe Foto) mit Hilfe der Toxikologie identifizieren.

Midazolam

Midazolam wird bei Schlafstörungen, vor diagnostischen oder chirurgischen Eingriffen und gegen Krampfanfälle eingesetzt. Die Wirkung tritt rasch ein und hält kurz an. Zu den möglichen unerwünschten Wirkungen gehören Müdigkeit, psychiatrische Störungen, Sehstörungen, Verlangsamung der Atmung, Hautreaktionen und Muskelschwäche. 

Clonidin

Clonidin wurde ursprünglich zur Behandlung von Bluthochdruck entwickelt und wird heute auch gegen ADHS eingesetzt. Zu den möglichen unerwünschten Wirkungen gehören Schläfrigkeit, Müdigkeit, Atemwegsinfektionen, u.v.m.

Für die beschuldigte war es nicht besonders schwer an das Medikament zu kommen, denn es wurde in der Münchner Klinik vor den Operationen gespritzt. In den Ampullen sind drei Milliliter, für eine 70-80kg schwere Person braucht man ca. die Hälfte davon. Nach Dienstanweisung muss der Rest entsorgt werden. Bei der Durchsuchung des Autos der Beschuldigten konnten die Ermittler in der Wasserflasche (siehe Foto) eine hohe Konzentration des Medikaments feststellen.

Der Verteidiger: Die Angeklagte hat sich geweigert, den Gerichtssaal zu betreten, solange Fotografen anwesend sind. Foto: dpa

Der Prozess gegen Maria A. beginnt im Herbst 2015. Mittlerweile hatte sie drei Anwälte, jetzt verfolgt sie die Strategie ihres Strafverteidigers Hubertus Werner: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Der ehrgeizige Landshuter Rechtsanwalt reicht immer wieder neue Anträge ein, versucht dem Geschädigten suizidale Absichten anzudichten. Maria äußert sich  während der Verhandlung ausführlich zu ihrer Person, der harten Kindheit und ihrer Liebe für den Beruf als Krankenschwester, zu den Vorwürfen schweigt sie. Bis heute hat sie dazu kein Wort gesagt und bestreitet gegenüber Hauptkommissar Maily auch weiterhin die Tat: Sie werde auf keinen Fall diese Strafe absitzen, wenn Deutschland sie nicht rauslassen würde, würde sie über Russland gehen oder den europäischen Gerichtshof. Und die würden schon dafür sorgen, dass sie hier aus dem Gefängnis entlassen wird. Das Urteil ist rechtskräftig, weder Russland noch der europäische Gerichtshof können daran rütteln.

Motiv: Erhalt des Lebensstils.

Anklage: Versuchter Mord.

Mordmerkmal: Heimtücke.

Urteil: Elf Jahre Haft.


Epilog: Ich habe versucht die Täterin Maria A. zu sprechen, um ihre Seite der Geschichte erzählen zu können. Weder über den Strafverteidiger noch über die Justizvollzugsanstalt konnte ich sie erreichen. So basiert der Artikel auf Gesprächen mit der Polizei, Anwälten und der damaligen Berichterstattung.