Wenn du den Esel deines Widersachers unter seiner Last liegen siehst, so lass ihn ja nicht im Stich, sondern hilf mit ihm zusammen dem Tiere auf.
Schemot 23,5 – Devarim 25,4 – Schemot 23,12
Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden.
Sechs Tage sollst du deine Arbeit tun; aber am siebenten Tage sollst du ruhen, auf dass dein Rind und Esel sich ausruhen.
Allesamt Zitate aus der Thora, die vorgeben, wie Tiere im Judentum behandelt werden sollen. Es gibt ein Verbot der Tierquälerei, ein Muttertier soll sein Kind nicht beim Sterben sehen und selbst am Sabbat, dem wöchentlichen Feiertag im Judentum, an dem eigentlich jegliche Arbeit streng verboten ist, müssen Tiere versorgt werden. Der Mensch darf Tiere zu seinem Nutzen halten und einsetzen, jedoch darf er ihnen keine unnötigen Qualen zufügen.
„Einem unbetäubten Tier wird der Hals mit einem Messer von der Kehle aus durchschnitten. Dabei werden bei vollem Bewusstsein Haut, Muskeln, die Halsschlagadern, die Luft- und Speiseröhre sowie die daneben befindlichen Nervenstränge durchtrennt. Die Tiere durchleiden einen Todeskampf, der Minuten andauern kann, mit höllischen Schmerzen, Atemnot und Todesangst bis sie schließlich verbluten.“
Deutscher Tierschutzbund
So beschreibt der deutsche Tierschutzbund das Schächten, die rituelle Schlachtung, die in der Kashrut, den Speisevorschriften des Judentums, vorgegeben wird. Die Tiere werden ohne Betäubung mit einem einzigen Schnitt durch den Hals getötet und sollen möglichst vollständig ausbluten.
Auf der einen Seite also die Worte Gottes in der Thora, die dem Menschen einen liebevollen und nachsichtigen Umgang mit den Tieren vorschreiben – auf der anderen Seite ein Ritual, das Tieren scheinbar Qualen zufügen kann und trotzdem tief im Glauben verankert ist. Zwei offensichtlich sehr unterschiedliche Ansätze, die in einer Religion vereint werden. Wie gehen gläubige Juden in Deutschland damit um?
Ein fast normaler Feinkostladen
Zeev Vilf ist einer der Pioniere für koschere Ernährung im Süden Deutschlands. Vor rund dreißig Jahren hat er „sein Baby“, den koscheren Feinkostladen Danel in München gegründet. Mittlerweile ist er selbst in Rente und hat den Laden abgegeben. Man merkt ihm trotzdem an, dass Danel sein Lebenswerk ist. Er fühlt sich offensichtlich wohl in seinem ehemaligen Laden, schiebt Produkte auf den Regalen hin und her und dreht sie so lange, bis er mit der Anordnung einverstanden ist. Er strahlt Gelassenheit aus, Zufriedenheit. Der Laden ist nicht sonderlich groß, besteht eigentlich nur aus einem Raum und trotzdem findet sich alles dort, was man im alltäglichen Leben braucht: Käse, Cornflakes, eine kleine Weinauswahl, sogar Putzutensilien. Im hinteren Teil des Zimmers befindet sich eine abgetrennte Fleischtheke, in der ein Metzger seiner Arbeit nachgeht. Auf den ersten Blick scheint Danel ein normaler kleiner Laden im Herzen Münchens zu sein.
Zeev Vilf stellt die Besonderheiten des koscheren Feinkostladens Danel vor.
Erst wenn man genauer hinsieht, fallen einige Besonderheiten auf. Die Verpackungen sind nicht mit deutschen Worten, sondern mit hebräischen Schriftzeichen versehen. Auf vielen der Produkte findet sich ein Siegel, das man von gewöhnlichen Lebensmitteln nicht kennt. „Glatt koscher“ steht darauf oder „parve“. Hinter der Fleischtheke steht neben dem Metzger noch ein Mann mit langem Bart und Kippa. Er ist der Maschgiach, ein Aufseher, der die Einhaltung der jüdischen Speisegesetzte kontrolliert. „Das hier ist der einzige Laden in der Umgebung, in dem es nur koschere Lebensmittel gibt“, sagt Zeev Vilf stolz. „Für die Juden, die in München selbst wohnen, ist das hier eine wichtige Anlaufstelle.“ Alle anderen, die nicht direkt aus München kommen, können online bei ihm bestellen. „Wir leben nicht von dem Laden selbst, sondern vom Online-Handel. Wir sind der älteste und größte Großhändler für koschere Ware hier. Das ist unser Geschäft.“
Zeev Vilf erklärt die jüdischen Speise-vorschriften.
Für viele gläubige Juden ist die Online-Bestellung von Lebensmitteln der einzige Weg, um ihre Religion ganz den Vorschriften nach ausüben zu können. Im Judentum gibt es strenge Speisevorschriften, die eingehalten werden sollen. Milchprodukte dürfen nicht zusammen mit fleischhaltigen Lebensmitteln gegessen werden, Fische dürfen nur verzehrt werden, wenn sie Schuppen und Flossen haben und Meeresfrüchte sind komplett verboten. Praktizierende Juden und Jüdinnen dürfen nur Produkte und Fleisch von Tieren verspeisen, die gespaltene Hufe haben und Wiederkäuer sind. Der Verzehr von einem Schweineschnitzel oder von Gummibärchen mit Schweinegelatine ist somit beispielsweise untersagt. Produkte von Kühen und Rindern, die im Judentum an sich erlaubt sind, gibt es natürlich auch in normalen Supermärkten – gläubige Juden und Jüdinnen würden sie dort jedoch nie kaufen. Das Hauptprodukt im Feinkostladen Danel ist deshalb auch das Fleisch, das der Metzger, immer vom Maschgiach bewacht, frisch in die Theke legt. „Das Fleisch muss koscher gemacht werden und das ist eine ziemlich komplizierte Prozedur. Aber wir bieten es hier für die Leute an, die die jüdischen Essensvorschriften befolgen wollen“, sagt Zeev Vilf dazu.
Koscher machen – das fängt schon bei der Art und Weise an, auf die ein Tier zu Tode kommt. Hier kommt die wohl umstrittenste Speiseregeln ins Spiel, die auch in Deutschland schon hitzige Debatten ausgelöst hat. Fleisch darf nur als koscher bezeichnet werden, wenn das Tier ohne vorherige Betäubung mit einem einzigen Schnitt mit einem scharfen, langen Messer durch den Hals getötet wurde. Was sich brutal anhört, wird im Judentum durch die halachischen Regeln verteidigt. Auch Zeev Vilf steht hinter der blutigen Vorschrift: “Das Schächten war eigentlich die Schlachtmethode, die dem Tier am wenigsten Leid zufügen soll.“
Blutiges Leiden wegen Gottes Wort
Ein großer Teil der halachischen Regeln ist in der Thora festgehalten. Dort findet sich nur eine Passage, in der es einen kleinen Hinweis auf das Schlachtritual gibt. Im fünften Buch Mose, für die Juden und Jüdinnen das Devarim, heißt es: „So schlachte von deinen Rindern oder Schafen, die dir der Herr gegeben hat, wie ich dir geboten habe.“ Das Problem dabei: Wie genau Gott es geboten hat, wird in der Thora nicht weiter erläutert. Die Grundlage für das Schächten wird aber in anderen Stellen der Thora gesehen. Stellen, in denen das Verbot des Verspeisens von Blut betont wird. „Ihr sollt keines Leibes Blut essen, denn des Leibes Leben ist in seinem Blut“, heißt es da zum Beispiel oder „Allein das Fleisch mit seinem Leben, seinem Blut, esst nicht!“ Hier finden sich in der Thora also eindeutige Anweisungen: Gläubige Juden und Jüdinnen sollen kein Blut verspeisen. Wollen sie dennoch Fleisch essen, sollte es von einem Tier stammen, das möglichst komplett ausgeblutet ist.
Frigga Wirths, Fachreferentin für Tiere in der Landwirtschaft beim deutschen Tierschutzbund, sieht im Blutverbot jedoch keine Begründung für das betäubungslose Schlachten von Tieren. „Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Ausblutungsgrad bei Tieren, die mit Betäubung und Tieren, die ohne Betäubung geschlachtet wurden.“ Dass in jeder Muskelzelle noch Blut zu finden ist, zeige allein die rote Färbung der Fleischstücke an, die auch bei koscheren Produkten gegeben ist. Ein ausreichender Blutverlust ist sowohl bei normalen Schlachtungen, als auch bei rituellen Schlachtungen nach religiösen Regeln der Grund für den Tod des Tieres.
Der Deutsche Tierschutzbund fordert jedoch, dass jedes Tier, bevor es zu diesem Blutverlust kommt, betäubt sein muss, sodass es von seinem Tod nichts mitbekommt. Beim Schächten hingegen würden nur die weichen Strukturen des Halses durchtrennt, also Muskeln, Speiseröhre und auch die Luftröhre. Die Knochen und Wirbelkörper, an denen auch Gefäße laufen, die die Versorgung des Gehirns mit Blut sicherstellen, können durch den Schnitt nicht durchtrennt werden, so Frigga Wirths. Das Tier bekäme also alles mit. „Diese Regeln stammen aus einem anderen Zeitalter. Heute gibt es keine Berechtigung mehr, so vorzugehen, weil man mittlerweile viel mehr über das Seelenleben und das Schmerzempfinden von Tieren weiß.“
Flughafen oder Restaurant?
Während Zeev Vilfs Feinkostladen zumindest auf den ersten Blick wie ein ganz gewöhnlicher kleiner Shop wirkt, merkt man beim Restaurant Einstein schon, bevor man es wirklich betritt, dass hier etwas anders ist. Vor der großen, schweren Tür, die ins Gebäude führt, in dem sich das Einstein befindet, steht ein junger Mann. Kommen Personen auf die Tür zu, spricht er mit ihnen in gebrochenem Deutsch, wenn sie seine Frage „Do you speak English?“ verneinen. Er will wissen, ob sie eine Reservierung für das Restaurant haben oder einen anderen Grund, um in das Gebäude zu wollen. Für Gäste mit einer Reservierung öffnet er die Tür. Doch selbst dann kann man das Restaurant noch nicht direkt betreten.
Stattdessen landet man in einer Art Sicherheitsgang. Zwei Männer sitzen hinter einer Glasscheibe und fragen nach den Ausweisen. „Haben Sie irgendwelche Dinge dabei, mit denen Sie sich selbst verteidigen können? Pfefferspray? Ein Taschenmesser? Nein? Dann gehen Sie bitte durch die Schleuse.“ Durch die Schleuse zu gehen fühlt sich an als wäre man am Flughafen. Dabei betritt man eigentlich nur das Gebäude der Israelitischen Kultusgemeinde für München und Oberbayern. Die Lichter an der Schleuse leuchten kurz auf und einer der beiden Männer gibt den Besucher*innen das Zeichen, weiterzugehen. Die Glastüre, vor der man nun steht, öffnet sich automatisch und endlich ist man im Inneren des Gebäudes angekommen.
Karl-Heinz Fichtner passt gut in den großen, hellen Raum. Er ist ein gepflegter, eleganter Mann, der wirkt, als hätte er immer alles im Griff, selbst wenn er in einer noch so stressigen Situation steckt. Er ist selbst kein Jude, leitet das Einstein aber mittlerweile schon im neunten Jahr. „Das war, sagen wir mal, eine Summe von Zufällen.“ Über eine Freundin, die Feiern für jüdische Familien organisierte, wurde er an die jüdische Gemeinde herangeführt. Als er dann die Stellenausschreibung für das Einstein sah und auch seine Freundin meinte, er sollte sich bewerben, habe er es einfach versucht – mit Erfolg. „Die ersten drei Monate waren schon hart. Bis ich begriffen habe, wie der Hase läuft, das war schon intensiv.
Besonders in dieser ersten Zeit hat Karl-Heinz Fichtner Hilfe gebraucht und diese auch bekommen. Vom Rabbinat und wiederum von einem Maschgiach, der auch hier die Einhaltung der jüdischen Speisevorschriften überprüft. Während der Öffnungszeiten des Einstein ist auch er immer vor Ort und sieht den Köchen über die Schulter und in die Töpfe. „Man muss sich erst daran gewöhnen – und vor allem auch daran gewöhnen wollen. Es gibt viele Regeln, die kann man nicht logisch erklären. Man muss sie nur befolgen.“ Karl-Heinz Fichtner legt viel Wert darauf, dass in seinem Restaurant alle Regeln akribisch befolgt werden.
So werden im Einstein gar keine Milchprodukte angeboten, um die Trennung von Fleisch und Milch gewährleisten zu können. Nach der strengen Auslegung der jüdischen Lehre soll nämlich auch das Geschirr, das einmal für Milchprodukte verwendet wurde, danach nicht mehr mit Fleisch in Berührung kommen – für ein Restaurant wäre das ein enormer Aufwand. Fleisch wird im Einstein dagegen schon angeboten, natürlich nur von geschächteten Tieren. „Es ist in vielen Ländern verboten, die Tiere nach jüdischen Regeln vom lebenden in den verzehrfertigen Zustand zu bringen. Es gibt noch ein paar Länder in Europa, die das dürfen und da beziehen wir auch unsere Ware her“, erklärt Karl-Heinz Fichtner.
Tierschutz vs. Religionsfreiheit
In Deutschland ist das Schächten grundsätzlich nicht erlaubt. Das Tierschutzgesetz sieht vor, dass ein warmblütiges Tier nur mit vorheriger Betäubung geschlachtet werden darf. Heute hat der Tierschutz in Deutschland Verfassungsrang und ist somit ein sehr wichtiges Gut – ähnlich wichtig wie die Religionsfreiheit. Sie bedingt auch, dass für Angehörige bestimmter Religionsgemeinschaften, deren Religion ihnen das Schächten zwingend vorschreibt, Ausnahmen vom eigentlichen Verbot gemacht werden können. Frigga Wirths vom deutschen Tierschutzbund spricht sich für ein ausnahmsloses Verbot des Schlachtens ohne Betäubung aus, weiß aber, dass das mit der deutschen Gesetzeslage kaum vereinbar ist. „In Deutschland wird sowieso kaum mehr geschächtet. Aber dadurch hat sich das Problem in andere Länder verlagert.“ In manchen europäischen Staaten, wie Frankreich, Italien und Polen gebe es weitaus weniger Auflagen als in Deutschland. Auch die EU-Schlachtverordnung habe weiter gefasste Ausnahmeverordnungen. Hier sieht Frigga Wirths eine Notwendigkeit zur Verschärfung der Regeln. „Das Ziel wäre, dass dort auch mindestens solche Regelungen eingeführt werden, wie das in Deutschland der Fall ist.” Im Moment ist durch die EU-Verordnung das Schächten von Tieren nur in ausgewählten Schlachthöfen erlaubt – spezielle Ausnahmegenehmigung und Einzelfallprüfungen sind bei diesen dann jedoch nicht mehr nötig.
„Alles, was wir hier tun, muss in Relation gesehen werden zu der Zeit, der Umgebung und den äußerlichen Umständen, als die halachischen Regeln angefangen haben”, betont Karl-Heinz Fichtner. Der Respekt vor dem Leben werde im Judentum großgeschrieben. “Und damals gab es noch keine Bolzenschussapparate oder Vergasungseinrichtungen für Schlachtbetriebe und so weiter. Das ist erst in jüngster Zeit aufgetreten. Und was ist humaner? Das lass’ ich jetzt einfach mal so stehen”, versucht er das Schächten zu verteidigen. Dass es auch bei normalen Schlachtungen häufig nicht tierfreundlich zugeht, lässt sich nicht leugnen. Sobald Fleisch gegessen wird, wird Blut vergossen, leiden Tiere – egal auf welche Art. “Wenn du nicht töten möchtest, musst du ein Vegetarier werden”, erklärt auch Steven Langnas, ein Münchener Gemeinderabbiner im Podcast über die Schächt-Debatte im Judentum. Vielleicht ist das der beste Weg, um Tierschutz und Religionsfreiheit im Judentum auf einen Nenner zu bringen. In der Thora wird die vegetarische und vegane Lebensweise sogar recht hoch angesehen:
Wer auch immer ein einziges Leben rettet, der ist, als ob er die ganze Welt gerettet hätte.