Author: Annika Fenzl

Seitdem ich denken kann, ist Sport eine große Leidenschaft von mir. In diesem Projekt tauche ich nun in ein für mich völlig neues Terrain im Sport ein. In die Sportwelt von Menschen mit Bluterkrankheit. Sind Sport und Hämophilie vereinbar? Das erfahrt ihr auf meiner Seite!

Hämophilie und Sport: Wie passt das zusammen?

Noch bis in die 70er Jahre galt Sport für Menschen mit Bluterkrankheit als absolutes Tabu – zu groß war die Angst vor unkontrollierbaren Blutungen. Heute ist die Medizin wesentlich weiter. Sport und Hämophilie sind nun kein gegensätzliches Begriffspaar mehr.
Doch die Recherche hat aufgezeigt: Eine pauschale Antwort auf die Frage „Sind Sport und Hämophilie vereinbar?“ existiert nicht. Um die Sportwelt von Menschen mit Bluterkrankheit zu begreifen, muss man tiefer bohren und Betroffene zu Wort kommen lassen.

Was geht und was nicht? Was gilt es zu beachten? Welchen Hindernissen begegnet ein*e Sportler*in mit Bluterkrankheit?
Ziel dieses Projekts ist es, die Frage nach der Vereinbarkeit von Sport und Bluterkrankheit zu diskutieren und möglichen Antworten auf die Spur zu kommen
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Was ist Hämophilie?


Die Hämophilie, auch Bluterkrankheit genannt, ist eine angeborene, vererbbare Blutgerinnungsstörung. Sie ist eine eher seltene Erkrankung und tritt bei einem von etwa 5000 bis 8000 männlichen Neugeborenen auf. Frauen erkranken nahezu nie an ihr. Menschen, die an dieser Krankheit leiden, fehlt lebenslang ein Stoff im Blut, welcher für die Blutstillung nötig ist – der sogenannte Gerinnungsfaktor.

Durch diesen Mangel an Gerinnungsfaktor verläuft bei Hämophilen die Blutstillung verzögert und unvollständig. Bei Verletzungen, aber bei schwerer Hämophilie auch spontan, ohne erkennbaren Anlass, kann es unbehandelt zu ausgedehnten Blutungen kommen. Die Blutungen betreffen vorwiegend Muskeln, Gelenke und Haut, seltener innere Organe.

Man unterscheidet zwei Formen der klassischen Hämophilie:
– Hämophilie A: (Gerinnungs-)Faktor VIII fehlt
– Hämophilie B: Faktor IX fehlt

Die Bluterkrankheit kann in verschiedenen Schweregraden auftreten, bei denen der Gerinnungsfaktor nur teilweise oder gar nicht vorhanden ist.  

Quelle:
Interessengemeinschaft Hämophiler e.V.

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Stolperstein Hämophilie –

Gehversuche eines Bluters im Sport

„In diesem Video erwarten euch brennende Oberschenkel, glückliche Gesichter, erhobene Daumen und ein neues Mitglied der HOPE-Familie. Hier kommt aus der Türkei: Murat.“ Mit diesen Worten begrüßt Arni Lehmeier die YouTube-Community zur Wandsitz-Challenge. Dann geht es zu zehnt an die Wand. Ziel der Gruppe: in der Summe der Einzelzeiten 30 Minuten im Wandsitz verharren. Das Team bringt sich in Position und das Startsignal fällt.

Halten. Halten. Halten.

Bei Sekunde 27 ist Schluss für Murat. Er rutscht von der Wand.

Murat ist 21 Jahre alt, lebt und studiert in Istanbul und kam mit einer schweren Hämophilie A auf die Welt. Seit seiner frühen Kindheit hat er Probleme mit dem Sprunggelenk, erzählt Murat. Ende des Jahres 2019 stellt ihm sein betreuender Arzt bei einem Kontrollbesuch schließlich eine Diagnose. Murat hat hämophile Arthropathie im rechten Sprunggelenk – eine chronische Gelenkerkrankung, hervorgerufen durch unentdeckte Einblutungen infolge seiner Hämophilie. „Früher war ich häufig schwimmen, eine der besten Sportarten für Hämophile“, sagt er. Spätestens seit dem vergangenen Jahr und der Diagnose habe er jedoch jegliche sportliche Betätigung unterlassen, erzählt Murat. Nur das Schachspielen, seine absolute Leidenschaft, hat er beibehalten.

Es ist April diesen Jahres, als Arni Lehmeier eine Nachricht an den türkischen Studenten verfasst. Ursprünglich lernten sich Arni und Murat im Sommer 2018 kennen, als Lehmeier ein Auslandssemester in Istanbul verbringt. Es entsteht eine Freundschaft zwischen den Studenten, die die Erkrankung an der Hämophilie verbindet. Zurück in Deutschland schläft der Kontakt zu Murat zunehmend ein und so ist Arni nicht genau über das gesundheitliche Befinden des türkischen Hämophilen informiert, als er sich erneut bei diesem meldet. Einige Bekannte konnte Arni in der Vergangenheit bereits für die Mitwirkung in seinen Videos gewinnen. Diese sind selbst nicht von der Hämophilie betroffen. „Ich bin aber immer auf der Suche nach Motivierten“, erzählt er, „und da musste ich an Murat denken, der mir als neugieriger Charakter im Gedächtnis geblieben ist.“ Er weiht ihn in sein neuestes HOPE-Projekt, die Wandsitz-Challenge, ein. Durch Murats Beitritt kann er erstmals einen weiteren Hämophilen für HOPE begeistern.

Arni Lehmeier hat einen Masterabschluss in Gesundheitsförderung und somit seine Erkrankung zum Beruf gemacht. Durch sein Videoprojekt HOPE (Hämophilie Ohne ProblemE) möchte er Betroffenen einen besseren Umgang mit Erkrankung und auch Sport vermitteln.

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Was bedeutet „Faktorkonzentrat“?


Heutzutage ist Hämophilie durch die Vergabe von sogenanntem Faktorkonzentrat behandelbar. Die fehlenden Gerinnungsfaktoren können gentechnisch hergestellt und von Patient*innen selbst mit einer Spritze direkt in die Blutbahn injiziert werden (ärztlich kontrollierte Heimselbstbehandlung).

Die Dosierung, d. h. wie oft und in welcher Menge Faktoreinheiten verabreicht werden, hängt vom Schweregrad der Erkrankung, von der Lebensweise der Patient*innen, dem durch Blutproben ermittelten Gehalt von aktivem Faktor im Blut und dem verabreichten Medikament ab. (Geltungsbereich: Deutschland)

Es gibt zwei Varianten der Verabreichung des Faktorkonzentrats:
– Bedarfsbehandlung: zur Blutstillung bei einem akuten Blutungsereignis
– Dauerbehandlung: prophylaktische Vergabe in regelmäßigen Abständen zur Blutungsvorbeugung (i.d.R. bei Kindern und Jugendlichen und einer schweren Ausprägung der Bluterkrankheit)

Der tatsächliche Prozentwert der Blutgerinnung, der mit der Faktorvergabe erreicht werden kann, hängt von mehreren Faktoren wie der eigenen Blutungsneigung, dem verwendeten Faktorpräparat oder dem Alter und Körpergewicht ab.

Einige Richtwerte erleichtern die Observation der Blutgerinnungswerte für Hämophile:
– für sportliche Aktivität sollte man eine Blutgerinnung von
mindestens 15 % haben
– für Alltagsaktivitäten 5 %
– unter 3 % erhöht sich das Risiko für Spontanblutungen

Hinweis: Der Normalbereich in der Gerinnungsfähigkeit bei gesunden Menschen liegt zwischen 70 und 130 %.

Quellen:
Interessengemeinschaft Hämophiler e.V.
Novo Nordisk Pharma GmbH
VidaWell GmbH
Swedish Orphan Biovitrum GmbH

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Murat erinnert sich noch genau an Arnis Anfrage zur Unterstützung bei der Wandsitz-Challenge. Von der Diagnose des vergangenen Jahres beunruhigt, zeigt er sich zunächst skeptisch gegenüber der Idee und konfrontiert Arni mit seinem Problem im Sprunggelenk. Aufgrund der eigenen Vorbelastung durch eine hämophile Gelenkarthrose kann dieser die Bedenken des Studenten nachvollziehen. „Mir lag am Herzen, Murat zu beraten und ihn dennoch an den Sport heranzuführen.“

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„Unsere Gelenke sind nur so stark wie die Muskeln, die sie schützen. Daher sind Kräftigungsübungen für Hämophile umso wichtiger.“

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Arni empfiehlt ihm, sich langsam heranzutasten, alle zwei Tage zu trainieren und auf die Faktorversorgung vor dem Sport zu achten. „Nach unserem Gespräch hat Murat begeistert zugesagt“, erzählt Arni.

Der Student schöpft Hoffnung durch Arnis Worte und macht sich ans Training. „Am Anfang habe ich nur wenige Sekunden geschafft“, erzählt Murat. „Aber ich glaube, allmählich hat mein Körper gespürt, dass das Training kein Gift für ihn ist.“ Zwei Wochen später ist die Videoaufzeichnung geplant. Das Team schafft 41 Minuten im Wandsitz und übertrifft somit das angestrebte Ziel von 30 Minuten. „Dafür, dass vorher gar nichts ging, waren 27 Sekunden eine enorme Steigerung für mich. Aber als ich das Video und die starken Zeiten der anderen gesehen habe, habe ich angefangen zu weinen. Natürlich nur ein Witz.“ Murat lacht. „Aber sagen wir, ich habe 30 Sekunden geschafft?“

Räumlich getrennt, für den Sport ganz nah – Arni und Murat bei der Wandsitz-Challenge

Wenige Wochen später startet Arni eine neue Sport-Challenge. „Ich habe gemerkt, dass Murat Blut geleckt hat“, sagt Lehmeier. Er will den Studenten weiter motivieren und geht erneut auf ihn zu. Durch seinen ersten persönlichen Fortschritt angespornt, sagt dieser prompt zu. Während sich die anderen Teilnehmer*innen der Challenge an verschiedenen Workouts versuchen, gelingt es Murat nicht, die Sorge über sein Gelenkproblem völlig loszulassen. Ein Lauftraining traut er sich nicht zu. Doch der Ehrgeiz des 21-Jährigen scheint geweckt – mit Humor nimmt er Arnis alternative Idee an und schwingt für das Video eine halbe Stunde lang den Wischmopp. „Wichtig ist, dass man sich bewegt. Dafür braucht man ja nicht direkt einen Marathon laufen“, findet Lehmeier.

Arni motiviere ihn definitiv zu mehr Sport, sagt der Student. „Er hat mich überzeugt, dass Sport nicht nur aus Basketball oder Fußball besteht und dass – seien es die noch so kleinen Dinge – sportliche Aktivität auch für mich möglich und gesund ist.“ Wäre da nicht die Situation in der Türkei, die Murat zusätzlich einen Stein in den Weg legt. Sport nimmt in der türkischen Gesellschaft ohnehin keine maßgebliche Rolle ein, berichtet Arni aus seiner Erfahrung. Unter Hämophilen gestalte sich Sport noch einmal schwieriger, erzählt er weiter. Während die prophylaktische Versorgung mit Faktorpräparaten für Hämophile hierzulande in den 1980er Jahren aufkam, wurde sie in der Türkei erst 2006 gesetzlich wirksam. Ältere Hämophilie-Patient*innen haben daher oftmals mit massiven Vorschädigungen zu kämpfen und trauen sich nicht an Sport heran. Zwar hatte Murat das „Glück“, bereits seit seiner Diagnose im Jahr 2001 prophylaktisch Faktorpräparate zu erhalten – er weiß: Das hätte auch anders laufen können. Andere Gleichaltrige haben ihre frühe Kindheit ohne Prophylaxe erlebt und waren somit einem höheren Blutungsrisiko ausgesetzt – dennoch gibt es aufgrund der hohen Kosten von Faktorkonzentrat in der Türkei nach wie vor eine Obergrenze bei der Vergabe. In Deutschland erfolgt die Versorgung hingegen nahezu unbegrenzt. Für jüngere Hämophile, denen sportliche Betätigung explizit ans Herz gelegt wird, stellt diese Obergrenze eine Hürde dar. 

Die Standarddosis der Faktorprophylaxe liegt in der Türkei unabhängig vom Körpergewicht bei 54 000 Einheiten für einen Zeitraum von 3 Monaten, erklärt Muhlis Cem Ar, Hämatologe und Professor an der Universitätsklinik Istanbul.  

Die benötigte Menge an Faktoreinheiten ist aber sehr wohl individuell – diese hängt von verschiedenen Faktoren wie dem Schweregrad der Krankheit, Körpergewicht und Lebensstil ab, erklärt Ar weiter. In der Praxis bedeutet die einheitliche Standarddosis eine Einschränkung für viele Betroffene: Einen Schutz im Alltag können die durchschnittlich 4 500 wöchentlichen Einheiten zwar abdecken, eine umfangreiche sportliche Freizeitgestaltung lässt dieses Limit jedoch kaum zu. Arni Lehmeier etwa verspritzt auf Basis seines sportlichen Lebensstils und Muskelgewichts wöchentlich circa 7 500 Einheiten. „Besonders bei höherem Körpergewicht und wenn man noch sportlich unerfahren ist und es doch einmal zu einer unvorhergesehenen Blutung kommt, kann der Faktorvorrat also knapp werden und sportliche Aktivität somit zu Gefahren führen“, erklärt Muhlis Cem Ar. Im Sport war und ist die Obergrenze definitiv ein Hindernis für ihn, erzählt Murat. Denn wenn er die Chance hätte, seine Faktorversorgung flexibler und ohne Limit zu gestalten, wäre seine Motivation und auch die vieler Hämophiler in der Türkei für sportliche Betätigung größer, da ist sich Murat sicher.

Murat lässt sich nicht unterkriegen und möchte in weiteren Aktionen von HOPE mitwirken – nicht allein, um seinen Bedenken gegenüber sportlicher Aktivität mehr und mehr den Rücken zu kehren und seinen Körper weiter zu stärken, sondern auch für die Außenwirkung.

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„Damals bei der ALS Ice Bucket Challenge wussten viele Menschen auch noch nichts über die Krankheit. HOPE ist für mich etwas Ähnliches.“

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Nicht nur könne durch die Videos besser über die Erkrankung aufgeklärt werden, auch für Hämophile selbst sei das Projekt sehr wichtig, sagt Murat. Er möchte anderen Hoffnung machen. Das Engagement als Hämophiler bei HOPE ist für ihn besonders entscheidend. „Nur wenn andere sehen, dass speziell Hämophile sportlich aktiv werden, kann man sie richtig motivieren.“ Er ist inspiriert von Lehmeiers Projekt, sieht Arni als großes Vorbild, betont er. Und er ist der Meinung, dass es ein solches Projekt auch in der Türkei geben sollte, erläutert er weiter. „Wer weiß.“ Da kommt Murat ins Grübeln.

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„Vielleicht kann ich irgendwann etwas Ähnliches in der Türkei starten und Arni ist dann mein deutscher Gast.“

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Arnis Unterstützung trägt beim türkischen Studenten Früchte – Murat ist auf einem guten Weg. Ihm, sowie allen Hämophilen, die sich sportlich betätigen, möchte Arni Lehmeier jedoch drei Spielregeln ins Gedächtnis rufen.

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Die Wahl einer geeigneten Sportart.
Das Meiden von Mannschaftssportarten.

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Denkt man in diesem Zusammenhang an Fußball, so liegt der Schluss nahe, dass Hämophile gänzlich auf die Sportart verzichten müssen. Umso verwunderlicher, dass es ein spezielles Fußballtraining für Kinder und Jugendliche mit Bluterkrankheit gibt – eine Hämophilie-Gruppe des Berliner Fußball-Verbandes, bestehend aus hämophilen Jungs im Alter von 8 bis 14 Jahren.

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Fußball und Hämophilie?

Wie soll das funktionieren? Das erfahrt ihr nun im Podcast!

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Die Reise durch das Thema Sport und Hämophilie – begonnen beim Neuling Murat, der sich allmählich an Bewegung herantastet, hinweg über Arni als erfolgreichen und erfahrenen Sportler, bis hin zu einem wegbereitenden Angebot im Fußball – sie hat die Suche nach Antworten auf die Frage „Sind Sport und Hämophilie vereinbar?“ verdichtet. Das Projekt hat mögliche Hürden, Einschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen von Sportler*innen mit Bluterkrankheit aufgezeigt. Doch auch der positive Effekt von Sport für Menschen mit Hämophilie ist deutlich geworden. Schließlich können sich in der Sportwelt von Hämophilen auch Wege zu Sportarten auftun, die auf den ersten Blick unerreichbar scheinen.

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Blut, Schweiß und Tränen.

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Die klassische Erfolgsgeschichte von Sportler*innen gewinnt im Zusammenhang mit der Hämophilie eine völlig neue Bedeutung. Letztlich ist dem medizinischen Fortschritt zu verdanken, dass Blut in diesem Kontext symbolisch bleibt und Hämophile beim Sport meist kein Blut vergießen.

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