Author: Lena Brandner

hat die nutzloseste Blutgruppe von allen: AB+. Ich bin Universalempfängerin, das heißt, ich kann Blut von allen anderen Blutgruppen bekommen, aber nur an Menschen spenden, die die gleiche Blutgruppe haben wie ich. Diese können aber eben auch das Blut aller anderen Blutgruppen empfangen.

Die stillen Hinweisgeber

In der Scheune von Silke Brodbeck ist ein weißer Pavillon aufgebaut, in dem sich einem der Anblick eines Massakers bietet. An der hinteren weißen Plastikwand: großflächige Spuren rotbrauner Rinnsale. An der Decke spannt sich bandförmig, fast wie die Milchstraße am Nachthimmel, ein Firmament aus unzähligen vereinzelten Spritzern, manche fast perfekte Kreise, manche davon ellipsenförmig und mit kometenartigem Schweif.  Auf dem Boden haben zwischen bogenförmigen Schlieren blutige Schuhsohlen einen Abdruck hinterlassen. Sind es die des Täters? Sind sie stille Zeugen eines brutalen Blutbads? Nicht ganz. „Das war ein Prüfungstatort für meine Studenten von der Polizeihochschule“, erklärt Silke Brodbeck. Ihre Arbeit beginnt dann, wenn alles schon vorbei ist, der Hammer geschwungen, der Abzug gedrückt, ein Leben beendet wurde.

Silke Brodbeck ist Deutschlands einzige spezialisierte Sachverständige für Blutspurenmusteranalyse, „eine Nischendisziplin“, wie sie sagt. Die Scheune ist das Versuchslabor ihres Blutspureninstituts, es ist in Deutschland das einzige seiner Art. Fachleute für Blutspurenmusteranalyse kommen aus allen Bereichen der Forensik – aus der Rechtsmedizin, der DNA-Analyse oder von den kriminaltechnischen Instituten der Polizei. Sie beschäftigen sich damit, wie sich Blut durch den Raum bewegt haben muss, um an Tat- und Geschehensorten spezifische Muster zu hinterlassen. Anhand der Form, Verteilung und Größe von Blutspuren lassen sich Tathergänge rekonstruieren, die Aussagen von Zeugen überprüfen oder Unfälle von Straftaten unterscheiden. Brodbeck selbst studierte in Frankfurt Medizin und Informatik. Die dunkelblonden, leicht gelockten Haare hat sie am Hinterkopf zu einem lockeren Dutt hochgesteckt. Sie spricht schnell und mit wissenschaftlicher Bestimmtheit. In der Scheune stellt sie eine Schale mit rotem Tierblut auf einen weißen Gartenstuhl. Es ist kein frisches Blut, Brodbeck hat es aus ihren Vorräten aus der Tiefkühltruhe geholt. „Wenn es ganz aufgetaut wäre, dann hätte es eine homogenere Farbe“, sagt sie. Dann hält sie eine Spritze in den flüssigen Teil des Blutes, zieht sie auf und stellt damit eine Spur nach, wie sie bei der Verletzung großer Blutgefäße entstehen kann. Ihre Faszination für Blut wachse fast mit jedem Tag mehr, sagt Brodbeck. „Es ist bisher noch nicht gelungen, Blut künstlich herzustellen. Es ist ein einzigartiges Wunder der Natur.”

Manche Autor*innen, die sich mit der Geschichte der Blutspurenmusteranalyse beschäftigen, führen erste Beschreibungen der Betrachtung von Blutspuren im Zusammenhang mit Tatgeschehen bis auf den angeblich ersten Mord der Menschheit zurück, auf das Buch Genesis, Kapitel vier. Draußen auf dem Feld erhebt sich Kain wider seinen Bruder Abel, schlägt ihn tot. Auf Gottes Frage, wo sein Bruder sei, antwortet Kain: „Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Aber Gott erkennt Kains Lüge: „Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ 

Als eine der ersten relevanten wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Verteilung von Blutspuren wird die Arbeit des Krakauer Arztes Eduard Piotrowski angeführt. 1895 veröffentlichte er an der Universität Wien seine Studie „Über Entstehung, Form, Richtung und Ausbreitung von Blutspuren nach Hiebwunden des Kopfes“. In einer weiß ausgekleideten Ecke schlug er Kaninchen die Schädel ein. Ikonografisch anmutende Zeichnungen hielten die Ergebnisse seiner martialischen Experimente fest, am unteren Rand vermerkte Piotrowski die Dimensionen der Tatwaffen: ein Hammer, 30 Zentimeter lang, 120 Gramm schwer; eine Axt, 40 Zentimeter lang, 620 Gramm schwer. Weitere Publikationen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert waren wenig systematisch und hauptsächlich beschreibend. Aus dieser Zeit stammen Bezeichnungen von Blutspuren als bärentatzen-, stechapfel- oder kronkorkenförmig.

Die Geschichte der modernen Blutspurenmusteranalyse beginnt in den 1950er Jahren. Silke Brodbeck deutet auf das Schwarz-Weiß-Foto eines jungen, gutaussehenden Mannes, das auf einem schmalen Wandvorsprung im Seminarraum des Blutspureninstituts steht, in dem Brodbeck Forensiker*innen, Polizist*innen und Ärtz*innen ausbildet. „Ich finde, man sieht, wie verängstigt er ist“, sagt sie. „Das Foto ist während des ersten Prozesses entstanden. Und das hier“, Brodbeck deutet auf ein weiteres Bild, „nachdem er freigesprochen und aus dem Gefängnis entlassen wurde, zwölf Jahre später.“ Das Bild eines gebrochenen Mannes, findet sie. Die Aufnahmen sind Abzüge von originalen Presseaufnahmen, Brodbeck hat sie auf Ebay gekauft.

Die Geschichte dieses Mannes, Samuel Sheppard, war ein großes Medienereignis. Sie ereignete sich 1954 in einem kleinen Vorort von Cleveland, Ohio. Lange bevor Brodbeck 2007 ihr Blutspureninstitut gründete und weit weg von Usingen, der beschaulichen, hessischen Kleinstadt, in der das Institut liegt. Trotzdem kennt Brodbeck jedes Detail dieser Geschichte, sie erzählt sie all ihren Kursteilnehmenden. „Es ist ein Mahnmal für uns Analysten.“ In der Nacht des 4. Juli 1954 findet Sam Sheppard seine Frau Marilyn tot im Schlafzimmer ihrer gemeinsamen Villa am Eriesee. Sie liegt auf dem Bett, das Kleid ist hochgerutscht, ihre Beine hängen von der Bettkante, um ihren eingeschlagenen Kopf herum hat sich das Blut in die Matratze gesogen. Sheppard gerät unter Tatverdacht, auf dem Kopfkissen seiner Frau glauben die Ermittler in einem Blutfleck die Umrisse einer chirurgischen Zange zu erkennen. Sheppard ist Arzt und Osteopath. Die Ermittler ziehen den Schluss, Sheppard habe seine Frau mit seinem chirurgischen Werkzeug erschlagen. In einem von großem Medieninteresse begleiteten Prozess wird Sheppard wegen Mord zweiten Grades zu lebenslanger Haft verurteilt. Kurz nach Sheppards Verurteilung tritt ein Zweifler auf: „In der Stille seines Labors ‚sah‘ Prof. Paul L. Kirk den Mord an Marilyn Reese Sheppard am 4. Juli. Seine ‚Augen‘ waren Reagenzgläser, Rechenschieber, Chemikalien, Diagramme, Schaubilder und Fotos,“ schreibt die Cleveland Press im April 1955.

Paul Leland Kirk, ein Chemiker, der an der Universität von Berkeley den Fachbereich für Kriminalistik gegründet hatte, konnte Blutspuren am Tatort einer unbekannten dritten Person zuordnen. Doch der Fall war gerichtlich abgeschlossen, ein Antrag auf Wiederaufnahme wurde abgelehnt. Erst 1966 kam es zu einem neuen Prozess, in dem Kirk aussagt. Auch von Kirk besitzt Brodbeck ein Foto, auf dem er über ein weißes Kissen gebeugt zu sehen ist. 1966 kommt Samuel Sheppard auch dank des entlastenden Gutachtens von Paul Kirk frei. Was in der Nacht des 4. Juli wirklich passiert ist, ist bis heute ungeklärt.

Brodbeck nennt Kirk den „Urgroßvater der Blutspurenmusteranalyse“. Kirks Gutachten im Sheppard-Fall ist das erste blutspurenmusteranalytische Gutachten der Moderne und inspiriert unter anderem den Forensiker Herbert L. MacDonnell zur weiteren Erforschung von Blutspuren und deren Entstehung. Dessen Arbeit „Flight Characteristics and Stain Patterns of Human Blood” wird 1971 vom amerikanischen Justizministerium veröffentlicht. Zwei Jahre später veranstaltet MacDonnell seinen ersten 40-stündigen Kurs für Blutspurenmusteranalyse. 1983 gründen Teilnehmer dieses ersten Kurses die International Association of Bloodstain Pattern Analysts (IABPA), die sich mit der Förderung und Standardisierung der Ausbildung und der praktischen Arbeit von Analysten befasst. Brodbeck selbst machte ihre Ausbildung bei New Scotland Yard in England. Auf die Blutspurenmusteranalyse wurde sie damals während ihrer forensischen Tätigkeit aufmerksam. „Als ich im Einsatz war, habe ich gesehen, dass da ganz viele Blutspuren sind, die nicht akquiriert werden.“ Ungenutzte Daten, die aber wichtige Hinweise auf den Hergang einer Tat geben können.

Ein Grundkurs macht noch keinen Experten

Auch Brodbeck bildet ihre Kursteilnehmenden nach den Standards der IABPA aus. Im Anfängerkurs lernen Analysten-Anwärter*innen in theoretischen und praktischen Einheiten unter anderem die biophysikalischen Eigenschaften von Blut, die Entstehung und korrekte Bezeichnung verschiedener Arten von Blutspuren sowie die Methoden zur Bestimmung des Ursprungsbereichs einer Blutungsquelle. Die Form von Blutspuren ist abhängig vom Winkel, in dem sie auf eine Oberfläche auftreffen. Je spitzer der Winkel, desto mehr nehmen die Spuren eine länglich-ovale Form an. Anhand der Länge und Breite lässt sich der Auftreffwinkel eines Blutspritzers berechnen. Damit können Sachverständige dann annähernd den Ursprungsort von Blutspritzern bestimmen. Doch Brodbeck macht deutlich, dass dieser 40-stündige Basiskurs allein nicht zur Gutachter*innentätigkeit ausreicht: „Der Kurs vermittelt nur die theoretischen Grundlagen.“

In den USA sah dies lange anders aus. Vor allem in der Anfangszeit schlossen dort viele Analyst*innen nur einen 40-stündigen Anfängerkurs nach dem Modell von Herbert MacDonnell ab, weiterführende Angebote gab es damals noch nicht. Erst ab Ende der 1980er wurden Kurse entwickelt, in denen fortgeschrittene Themen wie etwa die Analyse von Blutspuren auf Textilien angesprochen wurden. 2009 erscheint in den USA ein Bericht der National Academy of Sciences (NAS), in dem es heißt, die Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Blutspurenmusteranalyse seien enorm und die Einschätzungen von Analysten eher subjektiv als wissenschaftlich. „Der NAS-Report hat seinerzeit viel Staub aufgewirbelt“, sagt Brodbeck. Aber in dem Bericht seien genau die wissenschaftlich falschen Inhalte als korrekt gelobt worden. So sei etwa das Konzept, dass die Größe und Verteilung von Blutspuren Rückschlüsse auf die Wucht der Gewalteinwirkung zuließen „ein Konzept aus den Siebzigern, das vollkommen hypothetisch und letzten Endes falsch war“, sagt Brodbeck. „Ich glaube, dass sich alle forensischen Disziplinen den kritischen Fällen widmen müssen. Aber ich glaube auch, dass Entwicklung dann stattfindet, wenn man diese auf einer wissenschaftlichen Basis betrachtet.“ 2018 veröffentlichen die New York Times und ProPublica unter dem Titel „Blood Will Tell“ eine Serie von Artikeln, die die BPA als „dubiose forensische Wissenschaft“ und die Rolle der Methode in der fälschlichen Verurteilung des Texaners Joe Bryan für den Mord an seiner Frau problematisieren. Im selben Jahr gab die Texas Forensic Science Commission, die Beschwerden über den Missbrauch von forensischen Zeugenaussagen und Beweisen in Strafverfahren untersucht, bekannt, dass die zur Verurteilung Bryans verwendete Blutspurenmusteranalyse nicht genau oder wissenschaftlich nicht fundiert sei. Bedenken über die forensische Aussage in Bryans Fall veranlassten die Kommission, ein staatliches Lizenzprogramm für Analyst*innen zu entwickeln.

Silke Brodbeck ist Deutschlands einzige öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für Blutspurenmusteranalyse.

„Ich finde die Lösung, die für die texanischen Verhältnisse gefunden wurde, korrekt“, sagt Brodbeck. Das Problem in Amerika sei, dass die Zulassung zur Analysten-Tätigkeit kaum beschränkt ist. „In Amerika hatten sie ein Kontingent von Menschen, die ohne Vorgaben zum Schulabschluss, ohne Vorgaben zum Studienabschluss einfach Gutachter in allem geworden sind.“ In Deutschland und Europa sei die Ausgangssituation eine völlig andere: Hier führe der Weg zur Sachverständigentätigkeit über ein naturwissenschaftliches Master-Studium oder eine polizeiliche Ausbildung, die in der Regel einem Bachelorstudium entspricht. Danach sammeln Anwärter Erfahrung in der forensischen Alltagsarbeit. „Und dann erst findet die blutspurenmusteranalytische Ausbildung statt. Das gibt uns ein gewisses Grundlevel, sodass wir nicht über eine Minimalbildung diskutieren müssen.“

Im Seminarraum des Blutspureninstituts lässt corona-bedingt derzeit wenig darauf schließen, dass hier eigentlich regelmäßig Kurse stattfinden. Aus 32 Ländern kamen Teilnehmdende an Brodbecks Kursen bisher hierher, um sich in der Blutspurenmusteranalyse ausbilden zu lassen. Denn weltweit gibt es nur eine Handvoll Zentren, in denen Fortgeschrittenenkurse angeboten werden. Derzeit findet kein Unterricht statt und der Raum versprüht den Charme eines mäßig gut sortierten Baumarkts. Einen Tisch hat Brodbeck zur Werkbank umfunktioniert, in der Corona-Zeit hat sie sich das Löten beigebracht, der 3D-Drucker hat Zicken gemacht. Damit fertig sie manchmal Modelle von Tatorten an. Jedoch finden sich auch zahlreiche Artefakte, die darauf hindeuten, was hier normalerweise passiert. In einem Regal sind in Plastikfolie gehüllte Kunststoff-Köpfe aufgereiht, in den Fensterscheiben hängen DINA4-Blätter, auf denen Bündel gerader Linien durch blutige Spritzfelder gezogen sind. Im zur Straße gewandten Bereich des Raumes befinden sich eine Tafel mit trigonometrischen Zeichnungen und eine Schaufensterpuppen-Familie. Der Vater trägt ein blutverkrustetes Hemd. Das leuchtende Rot ist zu einem Graubraun verblasst. „Durch verschiedene Zersetzungsprozesse verändert Blut mit der Zeit seine Farbe“, erklärt Brodbeck.

Zu viel Blut: Die Fallstricke der Tatortarbeit

Zu einer guten Ausbildung gehört auch, mit Störfaktoren umgehen zu können, die die Arbeit am Tatort erschweren. Durch den Abtransport einer angezogenen Leiche können wertvolle Spuren verloren gehen, weil die Kleidung während des Transports mit Blut durchtränkt wird. Ein zu viel an Blut kann also relevante Spuren überdecken. Daher ist es wesentlich, dass die Leiche vor dem Transport entkleidet wird. „Es kommt auch vor, dass jemand den Tatort nicht als Tatort erkennt und dann anfängt, ihn zu reinigen.“ 

Wenn Brodbeck an einen Tatort kommt, möchte sie nur wenig über den Fall wissen. Sie kennt die Bilder vom Tatort, die Verletzungen der Opfer, aber sie liest keine Aussagen, keine anderen Rekonstruktionen. „Das ist ganz wesentlich, damit Sie keine Beeinflussung haben.“ Manchmal vergehen nach einer Tat nur wenige Stunden, manchmal aber auch Jahre, bis Brodbeck an den Ort des Geschehens gerufen wird. Ein wesentlicher Teil der Arbeit findet für Brodbeck am Schreibtisch statt. „Für Außenstehende ist das natürlich unspannend, wenn ich zwei Wochen lang vor meinem Computer sitze.“ Mit bestimmten Computerprogrammen lassen sich Tatorte virtualisieren. Mitarbeiter*innen der Landeskriminalämter vermessen die Tatorte und geben die digitalen Modelle an Brodbeck weiter. „Sie können dann die Tatorte aus allen Ecken und Winkeln betrachten.“ Jedoch: „Der Computer ersetzt das Denken nicht“, sagt Brodbeck. Es sei von enormer Wichtigkeit, mehrere Entstehungsmöglichkeiten abzuwägen und dann zu überlegen, welche Entstehungsmöglichkeit die wahrscheinlichste ist. „Die Quintessenz der Forensik ist die Wahrscheinlichkeit“, sagt Brodbeck. Wann immer möglich, sieht sie sich den Tatort an, auch die Bereiche, die nicht beblutet sind. Das sei wichtig, um sich einen Eindruck von den räumlichen Strukturen zu machen.

Blutspuren sprechen keine eindeutige Sprache, sie lassen mehrere Schlüsse zu und können auf falsche Fährten führen. So muss das buchstäbliche weiße Hemd nicht immer ein Beweis für das sprichwörtliche sein – ganz im Gegenteil: Schwingt ein Täter beim Angriff eine blutige Waffe über seinen Kopf, sorgt die Zentrifugalkraft dafür, dass sich das Blut nach außen hin ausbreitet. Umstehende können daher viel, der Täter aber kaum Blut abbekommen. Außerdem kann Insektenkot fälschlicherweise für sehr kleine Blutspritzer gehalten werden.

Seit der Nachkriegszeit war die Blutspurenmusteranalyse in der deutschen Rechtsmedizin weitgehend in Vergessenheit geraten. Erst ab Mitte der 1990er Jahre nahm die Bedeutung der Methode für die rechtsmedizinische Arbeit zu. Rechtsmediziner*innen reisten in die USA und belegten dort die traditionellen fünftägigen Anfänger- und Fortgeschrittenenkurse nach Vorgaben der IABPA. 2005 wurde innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin die Arbeitsgemeinschaft für Blutspurenmusteranalyse gegründet, die Kurse für Rechtsmediziner*innen anbietet. Zeitgleich wird das Thema auch bei der deutschen Polizei intensiver diskutiert. Gerhard Schmelz war viele Jahre Kriminalbeamter, bevor er sich 1993 dazu entschied, Dozent an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung zu werden. “In meiner polizeilichen Praxis haben die Blutspuren bei weitem nicht die Rolle gespielt, die sie heute spielen”, sagt Schmelz. Zwar sei ihnen bei der Rekonstruktion immer schon eine wichtige Bedeutung zugekommen, jedoch habe sich die Blutspurenmusteranalyse erst in den 2000ern konkreter entwickelt. 2009 erhält Schmelz den Auftrag vom hessischen LKA, die Blutspurenmusteranalyse polizeipraktisch auszuwerten. 2009 stellen Leiter der DNA-Analytik der Länder und des BKA fest, dass Erfolge in der DNA-Analytik die kriminalistische Betrachtung von Blutspuren immer weiter in den Hintergrund gedrängt hatten. Aufgrund des Generationenwechsels sei zu befürchten, dass bald keine BPA-Expert*innen in den Kriminalämtern mehr vorhanden sein würden. Mitarbeiter*innen verschiedener Landeskriminalämter erarbeiteten daraufhin ein Ausbildungskonzept, das als langfristiges Ziel eine zentrale Ausbildung von Sachverständigen beim BKA vorsieht. Das BKA wies jedoch darauf hin, „dass eine Ausbildung auf nicht absehbare Zeit weder inhaltlich noch personell durch KI 32 abgedeckt werden kann.“ Auf Anfrage teilte das BKA mit, dass beim Kriminaltechnischen Institut des BKA die Anfertigung von Blutspurenmusteranalysen eingestellt wurde. 

Dennoch: Vor Gericht kann ein blutspurenmusteranalytisches Gutachten erheblichen Einfluss auf die Urteilsfindung haben. In dem 2017 erschienenen Bericht wurden die Akten von 19 Fällen aus Hessen ausgewertet, bei denen zwischen 2007 und 2010 durch Rechtsmediziner*innen eine Blutspurenmusteranalyse durchgeführt wurde. In drei Fällen führte diese zu einer Verurteilung wegen Mordes, da sich anhand des Gutachtens das Vorliegen von Mordmerkmalen begründen ließ. Silke Brodbeck erlaubt sich beim Verfassen eines Gutachtens kein Urteil. Mit ihrer Expertise trage sie nur ein naturwissenschaftliches Puzzleteil zum Gesamtkomplex der Ermittlungen bei. „Wie jemand verurteilt wird, ob jemand verurteilt wird, das ist Aufgabe der Juristen.“

Es sind Fälle wie die von Sam Sheppard, die die Verantwortung forensischer Sachverständiger besonders deutlich machen. „Ich denke, dass es der wichtigste Satz eines Sachverständigen ist: Wenn er etwas nicht weiß, dann auch zu sagen, dass er es nicht weiß“, sagt Brodbeck. Paul Kirks Gutachten trug wesentlich dazu bei, dass Sheppard schließlich freigesprochen wurde. Sam Sheppard fand nach seiner Freilassung nicht mehr in seine Arzttätigkeit zurück. Unter dem Namen „Killer Sam“ verdiente er fortan als Wrestler sein Geld. Im Alter von 46 Jahren stirbt er. Sheppards Bruder Stephen schreibt 1964 ein Buch, es trägt den Titel „My brother’s keeper“ – „Meines Bruders Hüter“.

Silke Brodbeck hat einen außergewöhnlichen, in Deutschland sogar einzigartigen Beruf. Im Podcast erzählt sie von ihrem Weg in dieses forensische Nischengebiet und davon, dass sich dieser Weg schon früh abgezeichnet hat.