Irdisches oder ewiges Leben?

Irdisches oder ewiges Leben?

– Bluttransfusionen bei den Zeugen Jehovas –

Leben – Sterben – Tod. So unerklärbar und mysteriös der Tod ist, so faszinierend ist er auch. Es gibt wenig, was den Menschen so sehr beschäftigt wie der Übergang vom Leben in das Ungewisse. Manche behaupten, dass genau dieses Ungewisse der Ursprung von Religionen sei. Eine der größten Motivationen der Menschheit findet sich in einer fanatischen Suche nach der Erklärung, was nach dem Tod passiert. Ist es das ewige Leben? Ist es eine Auferstehung oder kommt man einfach als neues Leben zurück in den Zyklus der Welt? Die Zeugen Jehovas glauben an ein ewiges Leben nach dem Tod. Dieses kann allerdings nur gelebt werden, wenn man sich ehrfürchtig an Gottes Wort orientiert. Das bedeutet jedoch, dass man in seinem irdischen Leben auf vieles verzichten muss. Die Zeugen Jehovas lehnen Bluttransfusionen vehement ab – auch wenn das bedeutet, den Tod zu umarmen.

„Wenn Richten, dann Aufrichten“, ziert als Überschrift ein leicht verblasstes Blatt Papier, das rechts über dem Arbeitsplatz von Barbara Kohout hängt. Sie ist ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas und betreibt seit über zehn Jahren aktive Ausstiegshilfe. Die Rentnerin folgte 60 Jahre lang den Lehren Jehovas, ehe ihr eigener Sohn seine Zweifel an der Glaubensgemeinschaft äußerte. Sie wollte ihn von seinem damaligen “Irrglauben” fernhalten und ihren Sohn vor Harmagedon und der Vernichtung retten. Doch dann kam alles ganz anders:

Harmagedon ist der Gotteskrieg, auf den die Zeugen Jehovas hinfiebern. Mit ihm werden Ungläubige vernichtet und Gläubige gehen in das ewige Leben über.


Barbara Kohout spricht über ihren persönlichen Ausstieg bei den Zeugen Jehovas


Die Doktrinen der Wachtturm-Gesellschaft

Losgelöst von den unzähligen Doktrinen der Wachtturm-Gesellschaft beginnt für die 81-jährige ein neues Leben, in dem sie sich für Aufklärung stark macht und Menschen hilft, die Ähnliches erlebt haben. Sie erzählt von den zahlreichen Regelungen, die ihr eigenes Leben bestimmt haben. Von der richtigen Kleidung über Speisen, Kontaktverbote und einem*r akzeptablen Arbeitgeber*in bis hin zur Blutspende. Solche Reglementierungen sind Alltag und betreffen auch die lebensrettende Bluttransfusion. Wie kann es aber sein, dass sich Zeugen Jehovas im Angesicht des Todes gegen einen lebensrettenden Eingriff entscheiden?


Der Weg vom Blut: Wie deine Spende zu Leuten kommt, die sie wirklich brauchen

Beim Blutspenden kommt immer was dazwischen. Diesmal habe ich es durchgezogen. Aber nur Spenden reicht mir nicht, ich will wissen: Was passiert mit meinen Blut?


Nach Kohouts Einschätzung, gab es einen Zeitpunkt, an dem die Leitung der Zeugen Jehovas verstanden hat, dass sie die Loyalität der Mitglieder extrem stärken muss. Vorausgesetzt wird hier, dass alle Mitglieder einer Doktrin folgen und absoluten Gehorsam leisten – selbst wenn die Möglichkeit besteht deswegen zu sterben. „…dann kann man mit ihnen alles machen, dann werden sie jede Anweisung befolgen, wenn sie selbst bereit sind, mit der Verweigerung auf eine Bluttransfusion ihr Leben zu opfern“, beschreibt die Aussteigerin. Sie spricht mehrmals von dem geschulten Gewissen der Mitglieder, das auch in diesem Fall greift und nur eine einzige Entscheidung zulässt: „Richtig ist, Bluttransfusionen zu verweigern, selbst wenn es das Leben kostet. Falsch wäre es, einer Bluttransfusion zuzustimmen, weil man dann sein ewiges Leben verliert.“

Wie begründen die Zeugen Jehovas den Verzicht?

Differenzierter ist hier die Sicht der Zeugen selbst: „Das hat vielmehr religiöse als medizinische Gründe. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament wird klar geboten, sich von Blut zu enthalten. Außerdem: Bei Gott steht Blut für Leben. Wir haben also zwei Gründe dafür, dass wir Blut ablehnen: Gehorsam gegenüber Gott und Respekt vor ihm als Lebengeber“, steht in ihrem Online-Auftritt. Als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Zeugen Jehovas ergänzt Wolfram Slupina, dass Entscheidungen bezüglich einer medizinischen Behandlung eine sehr persönliche Angelegenheit sind, über die kein anderes Gemeindemitglied informiert werden muss. “Wie sich also ein Zeuge Jehovas im persönlichen Ernstfall entscheidet, obliegt ganz allein und völlig seinem eigenen Gewissen. Hier wird nicht hereingeredet oder investigiert”, schreibt Slupina.

Gewissensentscheidung – wirklich frei?

Gewissen ist ein wesentlicher Bestandteil in dem Glauben von Zeugen Jehovas. Auch Kohout erzählt viel über das Gewissen. Allerdings spricht sie davon, dass Gewissensentscheidungen nicht automatisch frei getroffen werden. Ihrer Meinung nach ist der Druck der Wachtturm-Gesellschaft so hoch und das Streben nach dem ewigen Leben zu zentral, dass sich im Normalfall niemand “falsch” entscheidet. Falsch ist es also auch, Blut zu spenden. Die rote Flüssigkeit ist allerdings nicht nur bei der Transfusion wichtig, sondern auch Bestandteil einiger Medikamente.

Beispielsweise wird Medizin gegen Hämophilie unter anderem mit Blutplasma produziert. Streng genommen müssten Zeugen Jehovas also auch auf eine Vielzahl an Medikamenten verzichten. Das wird aber laut einem Aussteiger, der gerne anonym bleiben möchte, nicht so konsequent gelebt, wie bei der Transfusion. Blut schränkt noch weitere Bereiche wie zum Beispiel den Speiseplan ein. Plump gesagt: Auch eine Blutwurst findet man nicht auf dem Teller eines Zeugen Jehovas.

Zeugen Jehovas verzichten nicht nur auf die Blutwurst. Es gab eine Zeit in der manche Zeugen Jehovas auf schweizer Schokolade verzichtet haben, da es hieß, darin wäre Blut als Bindemittel verarbeitet. Es gibt auch Früchte, in die Insekten – und somit Blut- einwachsen können. Deswegen gibt es auch sehr strenge Zeugen Jehovas, die auf Bananen verzichten.

Im Sprachgebrauch der Wachtturm-Gesellschaft scheint die Bluttransfusion ebenfalls eine freiwillige Gewissensentscheidung zu sein. Kohout widerspricht erneut: 


Barbara Kohout über die Doktrin der Bluttransfusion und das Problem mit dem deutschen Recht


Gewissen in der Medizin

Das Gewissen spielt nicht nur in Religionen, sondern auch in Berufen eine Rolle. Ein ethisches Bewusstsein und die Motivation, Leben zu retten, ist für viele Ärzte*innen Grundvoraussetzung für eine Laufbahn in der Medizin. Aber wie fühlt es sich an, Menschen sterben zu sehen, denen man durch einfachste Mittel das Leben hätte retten können?

Der pensionierte Chefarzt Wolfgang Beyer weiß, wie sich das anfühlt. Er weiß auch was es bedeutet, Fremdblut anzunehmen. Der Wahlpassauer bekam während einer komplizierten Operation fünfzehn Bluttransfusionen. Gleichzeitig weiß der ehemalige Unfallchirurg, was für ein inneres Chaos in einem wütet, keine Transfusion geben und somit keine Leben retten zu dürfen. „Leben zu erhalten ist elementarer Baustein ärztlichen Denkens und Handelns. In uns steckt ganz tief drin, dass wir Leben erhalten wollen.“ Unterstützung bekommt Beyer von seinem Kollegen Ralf-Peter Filipp. In seiner ruhigen Stimme schwingt auch Traurigkeit mit, wenn er von seinen Erlebnissen erzählt. Er spricht von Zeuginnen Jehovas, die beim Gebären Komplikationen erlitten haben und fast verbluteten: „Da hat man dann schon Gewissenskonflikte, dass man einen Menschen fast verbluten lassen muss.“


Ralf Peter Filipp über den hippokratischen Eid und seine Durchführung von Bluttransfusionen


Sein Unverständnis wandelt sich in Ärger und Wut, da er es einfach nicht akzeptieren kann, dass Leben weggeworfen werden. Während seiner Tagschichten gibt Filipp diese Entscheidungen an seine Kollegen*innen weiter. Er schließt hier an, dass es durchaus Ärzte*innen gibt, die solche Entscheidungen leichter treffen aber für Filipp selbst gibt es hier keine zwei Optionen. Er kann sich nur für das Leben und nicht für den Tod entscheiden. Erneut betont der Arzt, dass er diesen Konflikt im Nachtdienst aber selbst ausfechten muss und festigt seinen Standpunkt: „Wenn ich Nachtdienst habe, dann muss ich mich entscheiden und ich persönlich setze mich über die Patientenanordnung hinweg, um Leben zu retten.“ 

Das Spannungsfeld zwischen Zeugen Jehovas und Ärzten

Kohout beschreibt das Spannungsfeld zwischen Ärzten*innen und den Zeugen Jehovas als eine prekäre Situation. Sowohl Zeugen Jehovas als auch Mediziner*innen handeln nur in bestem Wissen und Gewissen. Die einen wollen mit jeder Möglichkeit, die sich ihnen bietet, Leben retten. Die anderen wiederum möchten aus absoluter Überzeugung auf Bluttransfusionen verzichten, damit sie die Chance auf das ewige Leben nach dem Tod erhalten. Sowohl die eigene Tochter, die fast an einem Blutsturz während einer Mandeloperation verblutet wäre, als auch der eigene Sohn waren von der Doktrin der Religionsgemeinschaft betroffen. Ihr Jüngster musste operiert werden – natürlich ohne Bluttransfusion. Der erste Arzt versicherte der Mutter, so blutarm wie möglich zu operieren, aber erklärte ihr, dass er im Fall von Komplikationen Blut geben wird. Daraufhin suchte sie sich einen Arzt, der ihr zusicherte, auf eine Transfusion zu verzichten, egal was passiert. Heute würde sie anders reagieren, aber damals war es für sie der einzig richtige Weg.


Barbara Kohout über ihre Entscheidung gegen eine Bluttransfusion bei ihrem Kind


„Ich weiß immer nicht, wie ehrlich solche Antworten sind. Es gibt Ärzte die diesem Konflikt einfach aus dem Weg gehen, wohlwissend dass sie vielleicht nicht halten werden, was sie versprochen haben“, meint Wolfgang Beyer. Er findet die Diskussion über den Konflikt zwischen Ärzten und Zeugen Jehovas „schön, nett und wichtig“. Er stellt aber auch klar, dass die innere Auseinandersetzung am Sterbebett mit keiner Theorie beschrieben werden kann. Er vergleicht diesen Prozess mit dem Abschalten der Vitalgeräte seiner eigenen Mutter: „Das gönne ich niemandem.“ 

Wie schwierig Theorie und Praxis zu verbinden sind, wissen nicht nur die Ärzte*innen, sondern auch so manche Zeugen Jehovas selbst. Auf Filipps Betten lagen bereits Zeugen Jehovas, in deren Augen er noch die letzte Hoffnung und das Klammern am Leben sah. Und tatsächlich haben zwei seiner Patienten kurz vor dem Verbluten mit ihrem Glauben gebrochen und sich für die lebensrettende Maßnahme entschieden. 


Ralf-Peter Filipp über die letzten Momente, die Hoffnung und das Klammern am Leben


Es ist schwierig, Ärzte*innen und Zeugen Jehovas unter einen Hut zu bekommen. Es gibt natürlich Mediziner*innen, die moralisch und ethisch kein Problem damit haben, keine Bluttransfusionen zu geben und im Zweifel Menschen sterben zu lassen. Aber viele Ärzte*innen belastet diese Situation und man darf auch nicht vergessen, dass die Lehren Jehovas teilweise in eine Irrationalität abdriften und vor persönlichen Entscheidungen keinen Halt machen. Die Gewissensentscheidungen scheinen nicht so frei zu sein, wie sie von der Wachtturm-Gesellschaft nach außen kommuniziert werden. Es gibt viele diskutable Verhaltensweisen innerhalb dieser Glaubensgemeinschaft. Es geht um Gewalt, sexuelle Nötigung, Missbrauch und Einschränkungen in den intimsten Entscheidungen. Bibeltext ist Bibeltext, aber wenn er von unterschiedlichen christlichen Religionen jedes mal anders ausgelegt wird, sollte man sich schon hinterfragen, was denn wirklich die Wahrheit ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Gott mein irdisches Leben nehmen möchte.

„Letztendlich darf es keine Glaubensgründe geben, um Leben retten zu dürfen.“

Wolfgang Beyer

fin.

An sich finde ich Religionen ziemlich schräg. Alle propagieren Nächstenliebe. Wenn man aber mal in die Welt schaut, findet man davon relativ wenig. Es wird Geld in Institutionen gesteckt, die für die Armen einstehen sollten aber dann doch nur Vermögen anhäufen. Trotzdem finde ich es spannend, aus welchen Gründen sich Menschen für etwas entscheiden können, was meiner Meinung nach irrational ist.

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