Dünnes Blut

Dünnes Blut

Ungeklärte Einbrüche, Affären, mysteriöse Geldquellen, eine Vergiftung. Eine Ehe, wie sie nicht ungewöhnlicher sein könnte, mit einem versuchten Mord am Ende. Können sich zwei Menschen wirklich lieben und hassen? So sehr, dass man den anderen ausbluten lassen möchte? Die Geschichte einer Krankenschwester, die versuchte ihren Ehemann zu töten. 

Es ist Sonntagmorgen, der neunte Juni 2015, als ein 66-jähriger Mann mit einer stark blutenden Kopfwunde in das Klinikum Landshut eingeliefert wird. Zuvor stürzt er, ruft selbst den Notarzt und klagt über Schwindel und Schmerzen. Er blutet im Krankenwagen, er blutet im Krankenhaus. Die Ärzt*innen reagieren sofort und versuchen ihn zu stabilisieren. Sie schicken sogar eine Blutprobe an die toxikologische Abteilung der Charité. Die Auswertungen der Berliner zeigen nicht nur dramatische Daten, sie offenbaren auch einen kuriosen Wert: die vierfache Menge über dem therapeutisch bekannten Höchstwert von Phenprocoumon, einem Blutverdünner, besser bekannt unter dem handelsüblichen Namen Marcumar. Kurz: Josef A. schwebt in absoluter Lebensgefahr. 

Er hätte verbluten können. Hätte er verbluten sollen?

Die nächsten vier Tage geben die Ärzt*innen Vitamin K, um die Blutgerinnung wieder zu normalisieren und nehmen regelmäßig Blutproben. Eine natürliche Ursache, Rattengift oder ein Versehen werden schnell ausgeschlossen. Josef A. muss das Medikament vorsätzlich und ohne sein Wissen verabreicht worden sein. Als der Verdacht der Vergiftung aufkommt, entgegnet er, dass das nur seine Frau Maria gewesen sein könne, dann verweist er auf die ärztliche Schweigepflicht. Seine Ärztin dürfe niemandem davon erzählen. Er will damit nicht sie schützen, sondern sich selbst: prekäre Details seines Privatlebens sollen nicht an die Öffentlichkeit kommen. Die Medizinerin hadert: Ist hier ein  Verbrechen zu vermuten? Muss sie zum Wohl ihres Patienten reden?

Am Donnerstag, vier Tage nach der Einlieferung des Josef A. in die Klinik, ruft sie die Polizei und erzählt, was passiert ist. Am Freitag um 20 Uhr passen zwei Landshuter Polizisten die Ehefrau Maria A. im Krankenhaus auf dem Weg zu ihrem Mann ab und nehmen sie mit Verdacht auf versuchten Mord fest. Sie ist eine attraktive Frau, trägt ein leichtes Sommerkleid in rot, das Make-up und die Frisur sitzen perfekt. Als Außenstehender könnte man meinen, sie wäre 15 Jahre jünger als ihr Mann mit grauem Haarkranz und fahlem Gesicht, tatsächlich ist es nur ein Jahr. Noch am gleichen Abend möchte Hauptkommissar Stefan Maily sie verhören. Ihr wird ein Strafverteidiger im Notdienst gestellt. Sie wirkt freundlich und eloquent, gleichzeitig berechnend und unnahbar. Keine Strategie, kein Versuch des Beamten bringen die Frau zum Reden. Sie schweigt zu den Vorwürfen, kommt in U-Haft und bis heute nicht mehr aus dem Gefängnis. 

Kommissar Maily erzählt

Eine schillernde Persönlichkeit

Ende der 1990er kommt die gebürtige Russin nach Deutschland. Aus erster Ehe hat sie einen Sohn, der zweite Mann, ein Offizier der roten Armee, stirbt an einer Essigsäure-Vergiftung. Nach dem Aussiedlerheim in Waldkirchen im Bayerischen Wald findet sie ihr erstes Zuhause bei Alois, ihrem damaligen Liebhaber.

„Feldscher“ ist eine altertümliche Bezeichnung für medizinische Hilfskraft, eine Art Symbiose zwischen Krankenschwester, Hebamme und Arzt. Noch heute gibt es in den russischen Streitkräften „Feldscher“ als unterste Stufe des Militärarztes oder im zivilen Bereich.

Mit seiner Unterstützung macht sie die Weiterbildung zur anerkannten Krankenschwester, denn sie ist gelernter „Feldscher“. Obwohl sie Alois als Sprungbrett nutzt, gehen sie im Guten auseinander und haben Jahre später noch Kontakt. Zweimal im Jahr besucht sie den alten Freund. Dass sie irgendwann verheiratet ist, weiß er nicht. Bei ihm fehlen später 50 Tabletten Marcumar. „Vielleicht hat er sie verlegt, verloren, vielleicht wurden sie aber auch von einer guten Freundin gebraucht“, spekuliert der Kommissar Maily. „Wir wissen es nicht und können nichts beweisen.“

Maria bekommt eine Anstellung an der Münchner Klinik „Diakoniewerk“ und kauft 2002 in der Stadt eine Eigentumswohnung für 230.000 Euro. Innerhalb von fünf Jahren ist sie abbezahlt. Sie habe noch einen Nebenjob in der Pflege gehabt und auch so recht sparsam gelebt, sagt sie hinterher dem Gericht. Die Wohnzimmergarnitur sei aus weißem Plastik, so wie man sie im Baumarkt findet, erzählt eine Nachbarin. Dennoch bleiben Zweifel, wie sie mit ihrem Gehalt als Krankenschwester die Grundschuld der Wohnung in der kurzen Zeit getilgt haben kann. Ausgehend von diesen Ungereimtheiten suchen die Kommissare nach weiteren Spuren für Betrug und illegale  Bereicherung, können aber keine Beweise finden.

In der Klinik betreut Maria Patienten nach Operationen, viele sind betagte Menschen, um die sie sich rührend kümmert. Manchen trifft sie nach ihrer Genesung auf einen Kaffee. Einer erinnert sich, dass sie die freundlichste Person überhaupt gewesen sei und für ihr Alter auch sehr gut aussähe. Hier stolpern die Ermittler wieder: Sie finden bei der Wohnungsdurchsuchung 1000 Dollar, doch keinen Hinweis, dass die Beschuldigte je in den USA war, noch dass sie in die USA reisen wollte. Der Verdacht: das Geld entdeckte sie in einer fremden Wohnung und nahm es mit. „Das hat schon a Gschmäckle“, sagt Maily und zuckt mit den Schultern. Die Spuren führen ins nichts, auch hier bleiben nur Spekulationen. Im Rahmen der Ermittlungen 2015 gibt es keine Beweise.

Zurück in 2010: Maria und Josef

Zurück in 2010: Maria lernt Ende Dezember den ehemaligen Scheidungsanwalt Josef A. über Friendscout24, eine Onlinedating-Plattform, kennen. 2011 sind die beiden ein Paar, 2013 heiraten sie. Er hat keine Kinder, keine engere Familie. Für ihn ist sie die Vorzeigefrau, sieht gut aus, ist intelligent. Sie fahren bis zu achtmal im Jahr in den Urlaub, er schenkt ihr Schmuck, sie kauft mit seinem Geld Teppiche, Kleidung, fliegt mit der Enkelin in den Urlaub, unterstützt ihren Sohn finanziell. Die Plastikgarnitur weicht neuen Möbeln und ihr Lebensstil ändert sich radikal. Zwei Monate nach der Trauung schaltet der Ehemann im Münchner Merkur und der tz folgende Anzeige: 

Herr sportlich 63, 173: 
Wer möchte wie ich hin und wieder dem Ehealltag 
entfliehen und Dinge erleben, die man seit einiger Zeit vermißt?

Er entflieht dem Ehealltag bei vielen Gelegenheiten und auf vielseitige Art und Weise. Im Gästezimmer warten versteckte Kameras auf seine Liebschaften, auch mit dem  Kugelschreiber in der Hemdtasche filmt er seine Umgebung. Doch Josef ist nicht der einzige, der heimlich Kameras montiert. Seine Frau traut ihm nicht, weiß längst von den vielzähligen Affären und klebt eine Kamera in sein Arbeitszimmer. Sie spioniert ihn aus, antwortet sogar selbst anonym auf eine spätere Annonce für Liebesabenteuer in der Süddeutschen Zeitung: sie vereinbaren ein Treffen an der Münchner Freiheit, er erkennt sie jedoch und sie läuft davon. Gleichzeitig wird während dieser turbulenten Jahre immer wieder in das Haus des Geschädigten eingebrochen. Die Täter*innen agieren mit absolutem Insiderwissen, unter anderem wird eine Münzsammlung gestohlen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit steckt Maria dahinter, Josef verdächtigt sie auch. Beweise gibt es keine.

2014 kommt es zur ersten Trennung, er schmeißt sie aus seinem Haus in Pfettrach, ca. zehn Kilometer von Landshut. Im Herbst nähern sie sich wieder an, Maria spielt Josef vor, es sei alles beim Alten, lässt Zärtlichkeiten zu und kocht. Morgens, mittags, abends hat er marmeladenglasgroße Behälter mit seiner täglichen Medikation, die er immer schon für mehrere Wochen im Voraus herrichtet. Darunter ASS, ein weiteres Mittel, dass die Blutgerinnung hemmt und Allopurinol, ein Mittel für zu hohe Harnsäure. Zuvor hatte das Opfer schon einen Herzinfakt, zwei Stents und  war nicht unerheblich dem Alkohol zugetan. Sie feiern zusammen Weihnachten und planen eine Reise nach Marokko im Februar des folgenden Jahres. Ihrer Nachbarin gesteht sie: „Ich kann seine Nähe nicht mehr ertragen, ich ekle mich vor ihm.“ Dass eine Scheidung im Raum stand, bestreitet die Beschuldigte in der Gerichtsverhandlung.

Die Indizien häufen sich

Während der späteren Ermittlungen stoßen die Kommissare auf zwei ungewöhnliche Transaktionen aus dieser Zeit: Einmal 5.000€ und später 11.500€ überwies Maria an eine Bekannte aus dem Krankenhaus. Die Polizisten spüren sie auf und bekommen von ihr eine „Wundertüte“: Tagebuchausschnitte des Opfers, in denen er akribisch Treffen mit Geliebten und seinen Gesundheitszustand dokumentiert. Mit dem in der Wohnung festgestellten Mörser und einem, auf Maria ausgestellten Privatrezept für 98 Marcumar-Tabletten häufen sich die Indizien gegen die Frau. 

Marcumar (Phenprocoumon) ist ein Vitamin-K Antagonist mit blutgerinnungshemmender Wirkung. Es wird zur Behandlung und Prophylaxe von Thrombose und Embolie eingesetzt sowie zu Langzeitbehandlung von Herzinfarkten, wenn z.B. ein erhöhtes Risiko für einen Verschluss der Herzkranzgefäße besteht.

Die Beamten rekonstruieren während der Ermittlungen drei Vergiftungszeiträume: Der erste gescheiterte Versuch ist während der Marokko Reise im Februar 2015. Josef blutet zum ersten Mal aus Mund und Nase, eindeutige Anzeichen für eine zu schlechte Blutgerinnung. Wider Erwarten überlebt er. Nach der Rückkehr verschlimmert sich sein Zustand, er leidet an steifen Gelenken und kann kaum gehen. Zweimal wird er ins Klinikum eingeliefert, Verdacht schöpfen weder das Opfer selbst noch die Ärzt*innen. Auch den zweiten Versuch, vermutlich im Mai 2015, überlebt der zähe 66-Jährige, Maria fliegt zu dem Zeitpunkt mit ihrer Enkelin in den Urlaub. Beim dritten Versuch, im Juni, verkauft sie ihrem Mann glaubhaft, dass sie kommendes Wochenende nach Moskau fliegen müsse um ihre betagte Tante zurück in die russische Heimat zu bringen. Er könne sie nicht anrufen, wenn etwas wäre. Sie erhöht die Dosis und wartet. Am Sonntagmorgen, dem neunten Juni 2015, kommt sie zum Haus in Pfettrach. Sie will ihn finden, den Hausarzt rufen und sich den natürlichen Tod bescheinigen lassen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist groß: Bei einem älteren Herrn mit seinem allgemeinen Gesundheitszustand hätte jeder Arzt auf einen Herzinfarkt gesetzt. Doch das Opfer ist bereits im Klinikum und überlebt, wieder.

Die Theorie der Kommissare lautet: Sie hat die Medikamente pulverisiert, unter die Speisen gemischt, Tabletten ausgetauscht und mit kontaminierten Wasser gekocht.

Neben Marcumar konnten noch andere Substanzen festgestellt werden. Das selbstgekochte Nervengift Atropin: Nach einem Abschiedsschnaps 2014 halluzinierte er und sah Blitze. Das Schlafmittel Midazolam und das blutdrucksenkende Mittel Clonidin: Er fühlte sich regelmäßig schlapp, schlief über dem Schreibtisch ein und stürzte. Einem Kollegen versichert er, das passiere ihm öfter und es sei normal. Normal war es nicht, sondern Gift. 

Foto: Polizei Landshut

Atropin

Die schwarze Tollkirsche Atropa belladonna L. aus der Familie der Nachtschattengewächse ist eine Gift- und Heilpflanze, die in Europa heimisch ist. Die Tollkirsche und ihre Inhaltsstoffe spielen in der Pharmaziegeschichte eine große Rolle, z.B. zur Krampflösung oder in der Augenheilkunde.

Die Ermittler konnten Atrophien in der Kleinsten der Flaschen (siehe Foto) mit Hilfe der Toxikologie identifizieren.

Midazolam

Midazolam wird bei Schlafstörungen, vor diagnostischen oder chirurgischen Eingriffen und gegen Krampfanfälle eingesetzt. Die Wirkung tritt rasch ein und hält kurz an. Zu den möglichen unerwünschten Wirkungen gehören Müdigkeit, psychiatrische Störungen, Sehstörungen, Verlangsamung der Atmung, Hautreaktionen und Muskelschwäche. 

Clonidin

Clonidin wurde ursprünglich zur Behandlung von Bluthochdruck entwickelt und wird heute auch gegen ADHS eingesetzt. Zu den möglichen unerwünschten Wirkungen gehören Schläfrigkeit, Müdigkeit, Atemwegsinfektionen, u.v.m.

Für die beschuldigte war es nicht besonders schwer an das Medikament zu kommen, denn es wurde in der Münchner Klinik vor den Operationen gespritzt. In den Ampullen sind drei Milliliter, für eine 70-80kg schwere Person braucht man ca. die Hälfte davon. Nach Dienstanweisung muss der Rest entsorgt werden. Bei der Durchsuchung des Autos der Beschuldigten konnten die Ermittler in der Wasserflasche (siehe Foto) eine hohe Konzentration des Medikaments feststellen.

Der Verteidiger: Die Angeklagte hat sich geweigert, den Gerichtssaal zu betreten, solange Fotografen anwesend sind. Foto: dpa

Der Prozess gegen Maria A. beginnt im Herbst 2015. Mittlerweile hatte sie drei Anwälte, jetzt verfolgt sie die Strategie ihres Strafverteidigers Hubertus Werner: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Der ehrgeizige Landshuter Rechtsanwalt reicht immer wieder neue Anträge ein, versucht dem Geschädigten suizidale Absichten anzudichten. Maria äußert sich  während der Verhandlung ausführlich zu ihrer Person, der harten Kindheit und ihrer Liebe für den Beruf als Krankenschwester, zu den Vorwürfen schweigt sie. Bis heute hat sie dazu kein Wort gesagt und bestreitet gegenüber Hauptkommissar Maily auch weiterhin die Tat: Sie werde auf keinen Fall diese Strafe absitzen, wenn Deutschland sie nicht rauslassen würde, würde sie über Russland gehen oder den europäischen Gerichtshof. Und die würden schon dafür sorgen, dass sie hier aus dem Gefängnis entlassen wird. Das Urteil ist rechtskräftig, weder Russland noch der europäische Gerichtshof können daran rütteln.

Motiv: Erhalt des Lebensstils.

Anklage: Versuchter Mord.

Mordmerkmal: Heimtücke.

Urteil: Elf Jahre Haft.


Epilog: Ich habe versucht die Täterin Maria A. zu sprechen, um ihre Seite der Geschichte erzählen zu können. Weder über den Strafverteidiger noch über die Justizvollzugsanstalt konnte ich sie erreichen. So basiert der Artikel auf Gesprächen mit der Polizei, Anwälten und der damaligen Berichterstattung.

Früher konnte ich Bücher nicht weglegen, jetzt sind es die Verbrechen Podcasts der ZEIT, in denen Sabine Rückert mit Andreas Sentker spannende und wahre Kriminalgeschichte erzählt. Mit meinen Recherchen bin ich nur noch mehr zum Fangirl geworden.